Von Susan Bonath.
Prognose: Bald viele Millionen Rentner unter dem Sozialhilfeniveau. Die Altersarmut in Deutschland steigt, der Niedriglohnsektor auch. Mit kapitalistischer Logik ist das nicht aufzuhalten.
Hauptsache Arbeit? Fast 20 Millionen abhängig Beschäftigte in Deutschland verdienten im Jahr 2014 weniger als 2.330 Euro brutto. Ein Lohn in dieser Höhe über 38 Jahre hinweg wäre aber nötig, um als Rentner überhaupt das Niveau der derzeitigen staatlichen Grundsicherung zu erreichen. Das liegt aktuell bei durchschnittlich 795 Euro monatlich. Das geht aus neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes hervor, über die Heiligabend zuerst die Saarbrücker Zeitung berichtete.
Das heißt: Für ein Leben oberhalb des Hartz-IV-Satzes im Alter müssten Lohnabhängige bei einer 40-Stundenwoche mehr als 13,70 Euro pro Stunde, bei einer 35-Stundenwoche sogar über 15,60 Euro verdienen – und das 38 Jahre lang. Unter Einberechnung der Inflation müssten die Stundensätze sogar noch höher liegen. Schwierig: Kontinuierlich verlängern sich die Ausbildungszeiten, auch die Zahl der durch Erwerbslosigkeit und Überbrückungszeiten im Niedriglohnsektor durchbrochenen Biographien steigt.
Erfasst hat das Bundesamt 37 Millionen Beschäftigungsverhältnisse, bei denen mehr als der Hälfte der Erwerbstätigen so Gehälter gezahlt wurden, die eine Rente unter dem Hartz-IV-Satz erwarten lassen. Die Bundesagentur für Arbeit zählte im September 31,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, fast zehn Millionen davon sind Teilzeitstellen. Mit Minijobs halten sich inzwischen knapp 7,5 Millionen Menschen über Wasser. Diese sind durch die Arbeit weder renten- noch krankenversichert. Auch rund 2,3 Millionen Solo-Selbständige sorgen nicht für die Rente vor. Ihnen fehlt meist schlicht das Geld dafür.
Totale Enteignung
Schon jetzt sind mehr als eine Million Altersrentner und erwerbsunfähige Behinderte auf zusätzliche Grundsicherung angewiesen. Hierbei werden die Bezüge auf Hartz-IV-Niveau aufgestockt. Alleinstehenden stehen im kommenden Jahr 409 Euro zu. Hinzu kommt eine »angemessene« Miete, wobei die Obergrenzen in den meisten Kommunen so niedrig ausfallen, dass dafür kaum mehr Wohnungen zu finden sind.
Jegliches Vermögen bis auf den Freibetrag von 2.600 Euro muss aufgebraucht sein, um überhaupt Grundsicherung beanspruchen zu können. Die Lebensversicherung, das kleine Eigenheim, das Auto und das hochwertige Tafelsilber muss also zuerst zu Geld gemacht und – wortwörtlich – auf Sozialhilfeniveau aufgegessen werden. Dabei spielt es wie bei Hartz IV keine Rolle, unter welchen Entbehrungen und Arbeitsaufwand Betroffene sich dieses einst zugelegt haben. Bis zu einem gewissen Grad werden sogar Kinder, oder bei jüngeren Behinderten die Eltern, in Regress genommen.
Das heißt: Jedem, der keine ausreichend hohe Rente erreicht, droht die komplette Enteignung der Lebensleistung. Unvorhergesehene Ereignisse, wie Unfälle oder Erkrankungen, die Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben, können, wie auch eine unverhoffte Kündigung, ebenfalls dazu führen.
Zynisch: Niedriglöhner sollen zusätzlich privat vorsorgen
Die Regierenden von Union und SPD relativieren das bekannte Problem seit Jahren. Sie pochen auf zusätzliche private Altersvorsorge. Das ist zynisch. Schließlich müssen Geringverdiener aktuell von irgendetwas leben. Zudem rechtfertigt die Bundesregierung ihre massiven Rentenkürzungen der letzten Jahre damit, dass Beiträge für die gesetzliche Kasse andernfalls weiter steigen müssten. Bleibt alles beim Alten, ist die Feststellung natürlich richtig.
Das liegt an mehreren Fakten: Erstens werden Vollzeitstellen immer mehr durch atypische Jobs ersetzt: Unternehmen greifen verstärkt auf Leiharbeiter oder freie Mitarbeiter auf Honorarbasis zurück. Von 2000 bis 2015 sank die Zahl der sogenannten Normalarbeitsverhältnisse um rund 1,5 Millionen auf 22,6 Millionen. Dass sich dieser Trend ändert, ist ob der zunehmenden Automatisierung und Digitalisierung nicht zu erwarten. Damit müssen immer weniger Beschäftigte für die »solidarische« Rente aufkommen.
Zweitens wächst der Niedriglohnsektor. Das zeigen schon die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Der neueste Armutsbericht der Bundesregierung geht tiefer ins Detail: Danach arbeiten rund 20 Prozent der Beschäftigten für weniger als 10 Euro pro Stunde; im Osten der Republik beträgt ihr Anteil sogar ein Drittel. Dramatisch steigt demnach die Zahl der jungen Niedriglöhner. Immer mehr von ihnen hangeln sich auch nach abgeschlossener Berufsausbildung von Praktikum zu Praktikum oder Leiharbeitsjob zu Leiharbeitsjob. Ihre Chance, eine unbefristete Vollzeitstelle zu ergattern wird immer geringer. Mit der Ausdehnung des Niedriglohnsektors sinkt natürlich das Beitragsaufkommen.
Drittens werden weiterhin Gutverdiener, Beamte und Unternehmer von der solidarischen Verantwortung ausgeklammert. Sie müssen nicht in den staatlichen Rententopf einzahlen. Bei gleichzeitigem Schrumpfen der auskömmlichen Beschäftigungsverhältnisse ist eine immer höhere Belastung der Nochbesitzer eines Normalarbeitsplatzes vorprogrammiert, um das Rentenniveau nicht immer tiefer sinken zu lassen.
Viertens werden für Hartz-IV-Bezieher seit 2011 keine Rentenversicherungsbeiträge mehr abgeführt. Das heißt: Anders als vor Einführung der Agenda fließt für jeden, der nach zwölf Monaten keinen oder nur einen Minijob gefunden hat, nichts mehr in den Solidartopf. Hinzu kommt, dass sowohl Hartz-IV-Bezieher als auch Asylbewerber unter Androhung der Kürzung oder Streichung des Existenzminimums massenhaft in den Dumpingsektor gezwungen werden und damit unfreiwillig zu dessen Ausdehnung beitragen.
»Faule« oder Reiche – Wer zockt die Mittelschicht ab?
Kaum anders sieht die Realität bei den Steuern aus. Während reiche Unternehmer und Erben zahlreiche Schlupflöcher und Freibeträge genießen, tragen die abhängig Beschäftigten der unteren und mittleren Einkommensgruppen die Hauptlast. Vor allem die untere Mittelschicht ist deshalb zurecht empört darüber, dass sie immer stärker geschröpft wird.
Vielfach entlädt sich die Wut allerdings gegen angeblich »faule« Hartz-IV-Bezieher, die sich zu schade dafür seien, für wenig Geld zu arbeiten, oder Flüchtlinge und Migranten, die »nur Sozialleistungen abgreifen« wollten. Diese Art der Empörung trifft jedoch die Falschen. Sie entspringt mehr dem Frust über die eigene Situation im Ausbeutungsgefüge, als logischen Überlegungen.
Erstens ist der politisch gepredigte angebliche Trend zur Vollbeschäftigung angesichts fortschreitender Automatisierung ein Märchen. Die nicht sozialistischer Neigungen verdächtige ING-DiBa-Bank gab vor anderthalb Jahren eine Studie heraus, in der sie mehr als der Hälfte der 31,5 Millionen sozialversicherungspflichtigen Jobs das Aus in den kommenden Jahrzehnten prognostizierte. Vor allem viele Maschinen- und Anlagenbediener, Dienstleister, Bürokräfte und Handwerker würden bald von Computern und Robotern ersetzt, heißt es. Damit wird der Kreis der Einzahlenden weiter schrumpfen.
Zweitens ist es ein Märchen, dass kein Geld vorhanden sei. Laut aktueller Vermögensberechnungen verfügen 171 deutsche Familien über Milliardenvermögen. Die 500 reichsten von ihnen besitzen zusammen fast 700 Milliarden Euro. Bei den Superreichen wächst das angehäufte Kapital immer weiter, bedingt durch fehlende Vermögenssteuer, massive Begünstigung reicher Unternehmenserben und Ausgliederung der Reichen aus den Solidartöpfen. Akkumuliert sich das Kapital aber bei wenigen, müssen zwangsläufig mehr Menschen leer ausgehen. Laut Armutsbericht der Bundesregierung sind inzwischen über zwei Millionen deutsche Privathaushalte und damit sieben Millionen Einzelpersonen überschuldet – Tendenz steigend.
Abwärtsspirale stoppen
Kein abhängig Beschäftigter kann wollen, dass all jene, die wegen des technischen Aufschwungs freigesetzt werden, dann acht Stunden täglich im Callcenter Lotterieabos verkaufen oder ähnlich unsinnige oder gar schädliche Jobs ausführen. Auch, dass Ein-Euro-Jobs, Praktika und billigste Leiharbeit reguläre Jobs verdrängen, kann kein Ziel der Lohnabhängigen – ob Arbeitsplatzbesitzer oder nicht – sein.
Im Gegenteil: Wer verlangt, dass Hartz-IV-Bezieher weiterhin mit harter Hand in prekäre Arbeit gezwungen werden, gefährdet nicht nur seinen eigenen Arbeitsplatz inklusive Gehalt. Er befördert die wachsende Ausbeutung und ein ständig sinkendes Rentenniveau immer weiter.
Wer die Abwärtsspirale stoppen will, muss nicht nur dafür kämpfen, dass Vermögende höher besteuert und verpflichtet werden, in die Sozialversicherungskassen einzuzahlen – bei gleichzeitiger Entlastung der Ärmeren. Er muss auch wollen, dass Erwerbslose nicht länger durch Sanktionsdruck zu Niedriglöhnen verpflichtet werden. Im Klartext heißt das: Jeder, der sich weigert, in die Leiharbeit zu wechseln und dafür sanktioniert wird, hat die volle Unterstützung aller Arbeiter verdient.
Spätestens an dieser Stelle dürfte das politische Totschlagargument fallen: »Wie kann es sein, dass irgendwer sich in der sozialen Hängematte ausruht?« Doch erstens sind 700 bis 800 Euro, verbunden mit dem Zwang selbst für Studierte, sich für jeden noch so miesen Lohn zu verdingen, alles andere als eine Hängematte. Zweitens bräuchte es diese Leistung bei gerechter Aufteilung der Arbeit zu auskömmlichen Gehältern gar nicht. Es ist doch so: Eine Gesellschaft, die Arbeit mittels Technologie abschafft, ohne die davon profitierenden Kapitalisten abzuschaffen, produziert Erwerbslose ohne Ende. Mithin: Steigt die Zahl letzterer unter heutigen Bedingungen und wächst dabei der Niedriglohnsektor, schrumpft die allgemeine Kaufkraft. Das führt zur Überproduktion und damit zu handfesten Kapitalverwertungskrisen. Letztere werden bald nicht mehr durch kriegerische Markteroberungs- und Plünderungsfeldzüge zu kaschieren sein. Kurz: Selbst die Kapitalisten schneiden sich am Ende ins eigene Fleisch.
Vision: Weniger Arbeit, mehr Teilhabe für alle
Letztlich kommt, wer wirklich Fortschritt will, nicht um eine größere Vision herum. Um Reichtumsanhäufung auf der einen und Massenverarmung auf der anderen Seite zu verhindern, muss die Produktion und die Verteilung der Waren gesellschaftlich kontrolliert werden. Das bedeutet: Privatkapital, das nicht ausnahmslos zum Nutzen der Allgemeinheit eingesetzt wird, gehört rigoros enteignet. Nebeneffekt: Damit wäre auch die Rüstungsproduktion zu stoppen. Strikte Ober- und Untergrenzen für Einkommen müssen her. Die Grundversorgung gehört nicht in private Hände. Nur so kann die Kooperation dem Konkurrenzkampf »jeder gegen jeden« weichen. Nur so sind soziale Verwerfungen inklusive steigender Kriminalität zu besiegen.
Möglich wäre das. Doch um darauf zu kommen, muss man aufhören, in der uns als alternativlos vorgegaukelten kapitalistischen Logik zu denken. Die beliebte Frage, wer das denn bezahlen solle, ist dann leicht zu beantworten. So ist das weltweite Bruttosozialprodukt in den letzten zehn Jahren von 51 auf 74 Billionen US-Dollar bzw. 70 Billionen Euro gestiegen. Das heißt: 2016 produzierten Arbeiter weltweit Waren und Dienstleistungen im Wert von 74.000 Milliarden Dollar. Sie sind nur ungleich auf die Menschen verteilt: In Somalia kann sich im Schnitt pro Jahr jeder Einwohner derzeit nur Waren im Wert von 400 Dollar leisten. Doch selbst klafft die soziale Schere auseinander. In Ölstaat Katar dagegen entfalllen auf jeden Einwohner 145.000 Dollar pro Jahr. Zum Vergleich: in Deutschland hätte jeder Einwohner vom Baby bis zum Greis bei gleicher Verteilung des Bruttosozialprodukts aktuell 45.300 Euro pro Jahr zur Verfügung. Hätte.
Letztlich kann nicht ignoriert werden: Der Mensch sucht sein Glück in einem kurzen Erdenleben. Mitnehmen wird er am Ende nichts. Bettler und Flaschensammler an jedem deutschen Bahnhof oder verhungernde Kinder in Afrika, Indien oder Lateinamerika machen keinen glücklich, der nicht komplett gestört ist. Auch harter Konkurrenzkampf, Neid, Gier und Hass sind alles andere als Zeichen des Glücks. Sucht der Mensch nicht vielmehr nach Gesellschaft und Akzeptanz? Strebt er etwa nicht nach gegenseitiger Sorge, kreativer Entfaltung, Solidarität und Frieden? Ein System, das dies zum Ziel hätte, wäre nicht nur gut für alle. Es wäre auch machbar.
Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.
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