Armenien und Aserbaidschan, was steckt dahinter? | Von Jochen Mitschka

Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.

In den letzten Wochen gab es einen 48-stündigen Krieg Aserbaidschans gegen die abtrünnige Provinz Bergkarabach, die jedoch schnell durch die Kapitulation mit weniger als einem dutzend zivilen Kollateralschäden beendet wurden. Aserbaidschan war insofern, auch mit der Unterstützung westlicher Länder und der Türkei, glücklicher mit der Wiedereingliederung der Gebiete als Kiew mit seinen östlichen Provinzen. Allerdings waren die Vorzeichen der verhinderten Selbständigkeit nicht vergleichbar. Aserbaidschan und Armenien werfen sich gegenseitig vor, im Laufe der versuchten Selbständigkeit Kriegsverbrechen begangen zu haben, ich will jedoch in diesem PodCast nur über Gegenwart und eine mögliche Zukunft sprechen. Der schnelle Frieden und die Wiederherstellung der Aserbaidschanischen Souveränität über das Gebiet scheint maßgeblich durch die Vermittlung russischer Friedenstruppen zustande gekommen zu sein. Was aber nicht bedeutet, dass Russland über diese Lösung glücklich ist. Die Situation ist äußerst komplex. Versuchen wir, etwas Licht in die Angelegenheit zu bringen.

Der „Blitzkrieg“- die Vereinbarung am 20. September

Der Krieg ist vorbei. Bergkarabach hat kapituliert. Worauf sich die Parteien einigten:

  1. Die armenischen bewaffneten Verbände legen ihre Waffen nieder, verlassen ihre Kampfstellungen und Militärposten und rüsten vollständig ab. Die Einheiten der armenischen Streitkräfte verlassen das aserbaidschanische Hoheitsgebiet, d.h. Bergkarabach.
  2. Gleichzeitig werden alle Waffen und schweres Gerät abgegeben.
  3. Die Wiedereingliederung der Karabach-Armenier in die aserbaidschanische Gesellschaft beginnt.
  4. Die Durchführung der oben genannten Prozesse wird in Abstimmung mit dem russischen Friedenskontingent sichergestellt.

Was kann man daraus lernen?

  1. Ein schlimmeres Blutvergießen, insbesondere unter der Zivilbevölkerung konnte vermieden werden.
  2. Zwar wurde der Selbstbestimmungswunsch der aus Armenien stammenden Menschen in Bergkarabach nicht realisiert, aber das ist dem Völkerrecht zuzurechnen, das Bergkarabach Aserbaidschan zuschlägt, auch wenn es einmal eine willkürliche Zuweisung während der Sowjetzeit war. Außerdem waren viele Armenier erst nach der Flucht der Aserbaidschaner während der Erklärung der nicht anerkannten Selbständigkeit zugewandert.
  3. Russische Friedenstruppen werden von Aserbaidschan respektiert.
  4. Russische Friedenstruppen werden für die Zeit der Wiedereingliederung sicher stellen, dass es keine ethnischen Säuberungen oder Morde gibt. Aserbaidschan hat Medien eingeladen, den Prozess zu begleiten.
  5. Russische und iranische Warnungen, kein Gebiet anzugreifen, das völkerrechtlich zu Armenien gehört, wurde bisher respektiert.

Andrew Korybko scheint begeistert von der Lösung zu sein, denn er sieht nur positive Seiten in der Entwicklung, wie er am 21. September feststellte. Er meint, dass endlich die vertriebenen Aserbaidschaner zurück kehren könnten, dass es keine Rache geben würde, dass diejenigen, welche Verbrechen begannen haben, zur Rechenschaft gezogen würden, dass Armenien nun Reparationen wird zahlen müssen wegen der jahrzehntelangen Besatzung, und endlich vollumfänglich die Bedingungen des Waffenstillstandsabkommens aus 2020 erfüllen muss, und dass der „Sangesur-Korridor“, der laut Vereinbarung von 2020 Aserbaidschan mit seiner Exklave Nachitschewan verbinden soll, die große Hoffnung für Armeniens Wirtschaft sei. Und schließlich sei Russland nun bemüht, einen dauerhaften Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan zu vermitteln.

Eine Information fehlte: Russische Einheiten wurden in einem nicht gepanzerten Fahrzeug bei der Wachablösung an einem Beobachtungsposten beschossen und getötet. Aserbaidschan entschuldigte sich, und Russland kündigte gemeinsame Untersuchung des Zwischenfalls an. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Provokation von einer dritten Seite handelte, ist groß.

Unruhen in Armenien

Der armenische Premierminister Nikol Pashinjan hatte sich in den letzten Monaten immer stärker in Richtung Westen orientiert, zuletzt hatte er ein Manöver mit US-Truppen organisiert, und schon im Mai erklärt, dass Bergkarabach eigentlich völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehöre. Dies hat ihm starke Kritik, insbesondere in der armenischen Diaspora eingebracht. Einige Armenier sehen ihn als Verräter an.

Er begründete seine vermutliche Orientierung in Richtung EU und NATO mit der angeblichen Nichterfüllung von Verpflichtungen Russlands während des letzten bewaffneten Konfliktes, als Aserbaidschan im Jahr 2020 bereits Teile Bergkarabachs zurück erobert hatte. Worauf Russland zutreffend geantwortet hatte, dass Bergkarabach nicht Teil der Verpflichtung aus dem Verteidigungspakt war, da es völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörte. Letztlich hatte Russland dann das Ende dieses Konfliktes moderiert und anschließend Friedenstruppen entsandt, die sicher stellten, dass in denen nun wieder von Aserbaidschan kontrollierten Gebieten, keine Übergriffe gegen die armenische Bevölkerung gab. Was wohl auch erfolgreich war.

Interessanterweise akzeptiert Aserbaidschan, das ja eng mit der EU kooperiert, um Energieträger zu liefern, die russischen Friedenstruppen und ihre diplomatische Bedeutung. Aber der armenische Präsident Pashinjan, eigentlich ein Verbündeter Russlands, hatte zuletzt den Sicherheitsrat aufgefordert, UN-Truppen zu schicken, da den russischen Truppen nicht zu trauen sei.

In Armenien finden nun ununterbrochen Demonstrationen gegen Pashinjan statt. Unter den Demonstranten findet man sowohl solche, die eine engere Anbindung an Russland wünschen, als auch andere, die eine schnellere US-Ausrichtung wünschen. Es ist vollkommen unklar, in welche Richtung sich die politische Entwicklung in nächster Zeit entwickeln wird.

Die üblichen Legenden

Eigentlich sollte man begrüßen, dass ein Jahrzehnte währender Konflikt nun endlich mit relativ wenigen Opfern (ca. 200 Soldaten und 10 Zivilisten) und einer offensichtlich nicht stattfindenden Unterdrückung der armenischen Bevölkerung in dem Gebiet, zu Ende geht. So jedenfalls die offizielle Nachrichtenlage. Aber natürlich wird auch das Gegenteil behauptet.

So waren über 10.000 Menschen zum Khojaly Airport eingeladen worden, mit der Begründung, sie könnten von dort nach Armenien reisen. Dort wurden dann viele Fotos und Videos gemacht und ihnen wurde gesagt, dass Armenien die Reise nicht erlauben würde.

Andrew Korybko schreibt dazu:

„In Verfolgung dieses Ziels [Sturz des Ministerpräsidenten], das von derselben ultranationalistischen Diaspora-Lobby mit Sitz in Frankreich und den USA aktiv vorangetrieben wird, deren Aufstieg zur Macht in Armenien ironischerweise von Paschinjan selbst nach seiner Farbenrevolution 2018 ermöglicht wurde, verbreiten diese Kräfte falsche Behauptungen über “Völkermord” und “ethnische Säuberung”. Sie wollen künstlich den Anschein einer humanitären Krise in Karabach erwecken, indem sie die armenische Bevölkerung vor Ort dazu verleiten, aus falscher Angst vor dem Tod übermäßig zu reagieren…“(2)

Der Präsident Aserbaidschans, Ilham Aliyew seinerseit behauptet, er wolle Bergkarabach und die benachbarten Regionen Armeniens in ein Paradies verwandeln. Die armenischen Bewohner Bergkarabachs seien die Bürger Aserbaidschans und lediglich diejenigen, welche „kriminelle“ Akte im Rahmen des Separatismus begangen hätten, müssten mit Verfolgung rechnen(3). Ganz offensichtlich wollte er damit den Behauptungen eines Genozids oder einer ethnischen Säuberung entgegen treten. Im Aserbaidschanischen Fernsehen konnte man Szenen sehen, wie Polizisten aus Aserbaidschan einem Armenier bei der Reparatur seines Fahrzeugs, halfen mit dem Tenor „Wer bleiben will kann bleiben, wer gehen will kann gehen“.(8) Gleichzeitig wird aber z.B. in Twitter mit #ArmenianGenocide versucht, westliche Regierungen und Armenien wegen fehlender Nothilfe anzuklagen. Hoffen wir, dass solche Tweets nur als letzter Versuch gewertet werden können, Bergkarabach für Armenien zu behaupten(9).

Also alles gut?

Nun betrachtet Russland diesen Bereich des Kaukasus eigentlich als sein Einflussgebiet, als einen Puffer gegen mögliche angreifende Feinde, könnte man auch sagen. Und so sehr sich die russische Diplomatie wohl rühmen kann, diesen Konfliktherd vorläufig aufgelöst zu haben, so unsicher ist die Zukunft der Region aus russischer Sicht.

Eine tiefer gehende Analyse(5) der Hintergründe und zukünftigen möglichen politischen Entwicklungen beschreibt M.K. Bhadrakumar am 23. September. Er erklärt, dass der Frieden unter Umständen das Gegenteil der russischen Absichten einleiten könnte. Denn er könnte auf absehbare Zeit den Weg beider Länder in die EU und die NATO ebnen. Aserbaidschan habe viel Öl, das es gerne in die EU verkaufen möchte, und die armenischen Migranten in den Hauptstädten Europas und der USA hätten einen nicht unbeträchtlichen Einfluss zugunsten einer Mitgliedschaft.

Bhadrakumar erwartet aber, dass sich Russland der Expansion der EU und der NATO in Transkaukasien widersetzen werde. Das Gebiet wäre zu wichtig, meint er, es sei eine geografisch hochstrategische Region an der Grenze zwischen Osteuropa und Westasien. Es erstreckt sich über das südliche Kaukasusgebirge und bildet eine Brücke zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer. Russland, das durch ein Militärbündnis mit Armenien verbunden ist, könne nicht glücklich darüber sein, dass sich der armenische Premierminister Pashinjan zunehmend nicht nur in Richtung USA, sondern auch in Richtung der EU bewege.

Aber schon habe die EU auf Bitte Armeniens eine zivile Mission errichtet, die an mehreren Punkten entlang der Grenze zu Aserbaidschan tätig werden soll. Und wie ja allgemein bekannt, habe die EU-Kommission letztes Jahr ein umfangreiches Gaslieferabkommen mit Aserbaidschan in Baku unterschrieben, und sehe EU Baku als wichtigen Partner um die Energiekrise in Europa zu lösen.

„Die EU hat ein strategisches Interesse daran, dass Armenien und Aserbaidschan den russischen Einfluss in Transkaukasien minimieren. Bei so vielen mächtigen geopolitischen Akteuren in der Kaukasusregion ist die Lage heikel. Die spanische Stadt Granada ist der Ort, an dem in zwei Wochen fast 50 europäische Länder zu Gesprächen im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft erwartet werden – darunter Armenien und Aserbaidschan.

Russland wird um die Sicherheit und Stabilität seiner muslimischen Republiken im Kaukasus fürchten, wenn sich westliche Geheimdienste in dieser unbeständigen Region mit einer gewalttätigen Vergangenheit niederlassen. Es ist kein Geheimnis, dass die USA Moskaus zwei Tschetschenienkriege (1994-2000) angeheizt haben.

Die USA und die EU haben sich die Sorgen Russlands in der Ukraine zunutze gemacht und sich aggressiv in der Schwarzmeerregion und im Kaukasus engagiert. Armenien ist eine niedrig hängende Frucht. Die farbige Revolution von 2018 (“Samtene Revolution”) bot Armenien die Gelegenheit, seine Außenpolitik in Richtung Europa neu auszurichten, ohne sich offen gegen Russland zu stellen oder eine ausgesprochen prowestliche geopolitische Ausrichtung zu haben.“(5)

Bhadrakumar meint, dass die EU die Potenziale der beiden Länder besser erkannt habe, als Russland, dass sich lange zu sicher gewesen sei. Paschinjan, der armenische Ministerpräsident, behaupte ein Freund Russlands zu sein, führe aber eine Politik, die das Gegenteil darstelle. Insbesondere seit Russland durch die Ukraine-Krise beschäftigt ist.

Pashinjans Manöver sei geschickt gewesen, und Macron, die EU sowie die USA (mit einem gemeinsamen Manöver, genau während des Angriffs von Aserbaidschan) unterstützten ihn. Die Entscheidung des armenischen Premierministers, Berg-Karabach aufzugeben, sei vom Westen begrüßt worden, weil es ein erster Schritt auf dem Weg der Region in die NATO sei.

Dennoch werde der Weg dorthin kurvenreich sein, und Russland könne ihn zu einer schwierigen Reise machen. Pashinjan sei ein zäher, gerissener Politiker, meint der Autor. Am schwierigsten werde sein Manöver sein, Armenien aus dem Verteidigungspakt OVKS, also der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit von Staaten der ehemaligen Sowjetunion herauszulösen und den russischen Stützpunkt in Gjumri zu schließen. Moskau sei sich des Gesamtkonzepts der NATO bewusst. Die NATO wolle ihre Präsenz im Kaukasus ausbauen und von dort aus ins Kaspische Meer und in die zentralasiatischen Steppen vordringen.

Es lohnt sich zu lesen, was Bhadrakumar in diesem Zusammenhang über Zentralasien berichtet.

„Anfang dieser Woche gelang den USA ein diplomatischer Durchbruch, als am Dienstag am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York die erste Sitzung des sogenannten C5+1-Führungsforums – Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und die USA – unter dem Vorsitz von Präsident Joe Biden stattfand.

Biden sprach von einem ‚historischen Moment‘ für die Zusammenarbeit der beiden Länder [gemeint sind Armenien und Aserbaidschan] ‚die auf unserem gemeinsamen Bekenntnis zu Souveränität, Unabhängigkeit und territorialer Integrität beruht‘ – eine indirekte Anspielung auf die US-Agenda zur Zurückdrängung der russischen Dominanz in der Region….“

Das Weiße Haus veröffentlichte daraufhin eine Beurteilung des Treffens(6). Dort heißt es:

„Die Staats- und Regierungschefs erörterten eine Reihe von Themen, darunter Sicherheit, Handel und Investitionen, regionale Konnektivität, die Notwendigkeit, die Souveränität und territoriale Integrität aller Nationen zu respektieren, sowie laufende Reformen zur Verbesserung der Regierungsführung und der Rechtsstaatlichkeit. Präsident Biden begrüßte die Ansichten seiner Amtskollegen darüber, wie unsere Nationen zusammenarbeiten können, um die Souveränität, die Widerstandsfähigkeit und den Wohlstand der zentralasiatischen Staaten weiter zu stärken und gleichzeitig die Menschenrechte im Rahmen unserer C5+1-Partnerschaft zu fördern.“(6)

Gefährlich wird es für Russland, weil drei Initiativen der gefürchteten CIA-Undercover-Organisation USAID erwähnt werden. Und es geht um Bodenschätze. Konkrete Maßnahmen sollen evaluiert werden um den „Mineralienreichtum Zentralasiens“ zu erschließen. Selbstverständlich mit dem Ziel, die Sicherheit der Versorgung der USA mit kritischen Materialien zu verbessern. Außerdem soll eine regionale Alternative zu Chinas Belt and Road Initiative gefördert, eine „transkaspische Handelsroute“ entwickelt werden. Sicher können sich dann die Anrainerstaaten auf umfangreiche Darlehen freuen, die sie für lange Jahre mit den Bedingungen des Kreditgebers in ihrer Souveränität einschränken werden.

Bhadrakumar erwähnt in seinem Artikel, dass parallel dazu der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew kurioserweise als Ehrengast zum zentralasiatischen Gipfel in Duschanbe am 14. und 15. September eingeladen wurde. Es sei das erste Mal, dass das als Konsultativtreffen der zentralasiatischen Staatschefs bekannte Forum einen Staatschef von außerhalb Zentralasiens zu seinem jährlichen Konklave eingeladen hat. Vor dem Hintergrund des geopolitischen Schocks, den der Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgelöst habe, sei der Regionalismus in der Steppe auf dem Vormarsch und erreiche eine neue Dimension.

Dann erklärt Bhadrakumar die Bedeutung des so genannten „Mittleren Korridors“ als Handelsweg zur Schwächung Russlands. Der Mittlere Korridor solle die containerisierten Schienengüterverkehrsnetze Chinas und der EU durch die Volkswirtschaften Zentralasiens, des Kaukasus, der Türkei und Osteuropas über die Fährterminals am Kaspischen und Schwarzen Meer unter Umgehung des russischen Territoriums miteinander verbinden. Wie man sieht, ist das Prinzip „Wandel durch Handel“ nicht mehr aktuell.

Dass diese Veränderungen in der Geopolitik nicht ohne Antwort durch Russland und China bleiben würden, war sicher eingeplant. So meint Bhadrakumar, dass diese Fragen ein Thema beim Treffen von Präsident Putin mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi am 20. September in St. Petersburg sowie bei den Gesprächen zwischen dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und iranischen Militärs in Teheran waren. Und dass dieses Thema sicherlich auch zwischen Putin und Xi Jinping und während seines bevorstehenden Besuchs in China im nächsten Monat zur Sprache kommen werde.

Bhadrakumar erinnert daran, dass sich die Interessen Russlands und des Irans in dem Gebiet überschneiden. Ein Gebiet, das die USA nun als strategische Drehscheibe im Kaspischen Meer ausbauen wollen.

„Doch das ölreiche Aserbaidschan ist für Moskau ein ambivalenter Partner, während Teheran ein gestörtes Verhältnis zu Baku hat. Es ist durchaus denkbar, dass die EU und die USA die armenisch-aserbaidschanische Annäherung fördern (die auch die Türkei aus eigenen Gründen vorantreibt).

Die Aussicht auf eine langfristige westliche Präsenz in der kaspischen und zentralasiatischen Region über das Schwarze Meer und den Kaukasus stellt eine tiefgreifende Herausforderung für die russische Diplomatie dar. Das Paradoxe ist, dass der Westen zwar Russland im Ukraine-Krieg nicht besiegen konnte, aber in Russlands “nahem Ausland” in einem Bogen der Einkreisung an Vormachtstellung gewinnt.“(5)

Aussichten

Wie es in der Region weiter geht, hängt wohl maßgeblich davon ab, wie sich China positionieren wird. Wird das Land den „Mittleren Korridor“ vielleicht sogar in sein BRI-Konzept einbauen? Oder wird China gemeinsam mit Russland und dem Iran im Rahmen von BRICS und der SCO einem Gegenkonzept unter Einschluss Russlands beitreten?

Was mich etwas verwundert, ist die positive Sicht auf die Zukunft der Region, die vom pro-russischen Autor Andrew Korybko in einem Interview mit der niederländischen Journalistin Laura Oorschot vertreten wurde.

Darin erklärt er, eher wohlwollend, dass der armenische Regierungschef zwar durch eine nationalistische und liberale Rhetorik im Rahmen einer Farbrevolution an die Macht gekommen sei, nun aber 2020 die nationalistische und zuletzt die so genannte liberale Seite bei der harten Auflösung von Demonstrationen und Verhaftung von Oppositionellen bewiesen habe. Er meint, dass seine größten Gegner in nationalistischen Kreisen außerhalb des Landes zu suchen seien. Während Bhadrakumar die USA gestärkt sehen, sieht Korybko dies anders:

„Ohne es zu beabsichtigen, hat diese größtenteils pro-demokratische Lobbygruppe die Biden-Administration vor den voraussichtlich sehr harten Wahlen im nächsten Jahr in Misskredit gebracht, indem sie behauptete, dass ein Völkermord an christlichen Minderheiten durch ein muslimisches Land stattfinde, die USA sich aber weigerten, ihn zu stoppen. Die ANCA hätte wissen müssen, dass die USA nicht über die überschüssigen militärisch-logistischen Kapazitäten verfügen, um einen Krieg gegen Aserbaidschan zu führen und damit auch einen Krieg mit dem NATO-Mitgliedsland Türkei, Bakus wichtigstem Verbündeten, zu riskieren.“(7)

Durch die Vorwürfe der armenischen Diaspora sei die Partei Bidens im Vorfeld der kommenden Wahlen geschwächt worden.

Korybko sieht auch den „Mittleren Korridor“ als grundsätzlich positiv, allerdings unter Einschluss Russlands, versteht sich, und meint, dass China gut daran täte, insbesondere mit den drei großen Ländern der Region, Russland, Iran, Türkei und den drei kleinsten, Armenien, Georgien und Aserbaidschan, im Rahmen der BRI zusammen zu arbeiten.

Korybko meint, dass die Auflösung der Bergkarabach-Krise im Gegenteil zu den Befürchtungen Bhadrakumars, der Region helfen würde, zukünftige „teile und herrsche“ Projekte Dritter zu verhindern. Wobei er nicht ausschließt, dass in Georgien eine neue russlandfeindliche Regierung durch eine erneute Farbrevolution an die Macht kommen könnte, und damit die Region destabilisieren, und für den Einfluss Dritter geöffnet wird.

Minuten vor Absenden dieses Textes erscheint ein Artikel in den Nachdenkseiten mit weiteren Details.(10)

Fazit

Während die EU durch die Sanktionen gegen Russland im wirtschaftlichen Rückwärtsgang fährt, Deutschland sich sogar freiwillig deindustrialisiert und versucht in Kriegen als Musterschüler der USA Brosamen vom Tisch des Imperators zu ergattern, sehen wir in großen Teilen der restlichen Welt eine Aufbruchstimmung und Veränderungen wie selten außerhalb von großen Kriegen. Noch nie seit dem letzten Krieg sind Politiker heute so gefragt wie solche vom Schlage der alten politischen Nachkriegsrecken von Adenauer über Wehner bis Kohl, oder andere, die trotz aller ideologischer Gegensätze versuchten, Deutschlands Interessen zu vertreten und dabei immer wieder den Rahmen ihre Möglichkeiten als unterlegene Kriegspartei des 2. Weltkriegs ausdehnten. Ein Vermächtnis, erarbeitet in Jahrzehnten, das seit den letzten Wahlen in Monaten zunichte gemacht wurde.

Statt die Chancen der geopolitischen Umwälzungen zu nutzen, um die Souveränität Deutschlands weiter zurück zu gewinnen, gab diese Regierung diese vollends auf. Untätigkeit nach Nordstream-Sprengung, nach sanktionsbedingten Schäden der deutschen Wirtschaft und Konsumenten, Zustimmung zu weitgehenden Ermächtigungen von WHO, EU, NATO, Zustimmung zu UN-Verträgen, immer mehr Beispiele, die zeigen, dass Politiker es ablehnen, Verantwortung zu übernehmen, und lieber Souveränität an supranationale Organisationen abgeben, um nicht dem Wähler gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen.

Die leeren Bänke bei der Rede des deutschen Bundeskanzlers vor der UNO zeugen davon, dass die Behauptung „wir spielen wieder eine Rolle in der Welt“, weil Deutschland als Juniorpartner in Kriegen der Kolonialländer, als braver Vasall der USA mitspielt, den Rest der Welt nicht beeindruckt. Ebenso wenig wie die Geißelung der Bevölkerung mit „Klimaschutzmaßnahmen“ und „Anti-Atomkraft“-Politik bei gleichzeitiger freundlicher Stationierung von Kernwaffen der USA. Noch zehrt die deutsche Diplomatie vom Ruf vergangener Zeiten. Aber das schwindet leider rascher als die nächsten Wahlen anstehen.

Ich befürchte, höchstens Neuwahlen mit dramatischen Veränderungen der Regierungspolitik könnte noch eine Veränderung bewirken. Aber Neuwahlen wird leider der Konsens der „staatstragenden Parteien“ verhindern. Es sei denn, einige Politiker besinnen sich darauf, dass sie eigentlich die Interessen der Bevölkerung vertreten sollten. Ob eine zu begrüßende Parteigründung der linken Realpolitikerin Sahra Wagenknecht, außer einer Spaltung des Protestpotential, etwas in dieser durch Netzwerke von WEF und transatlantischen Stiftungen „geschulten“ Politikern aller Parteien bewirken kann, ist leider fraglich.

Hinweise und Quellen

Der Autor twittert zu tagesaktuellen Themen unter https://twitter.com/jochen_mitschka

(1) https://apa.az/en/cis-countries/garabagh-issue-is-used-for-internal-intrigue-pashinyan-412406

(2) https://korybko.substack.com/p/false-claims-of-genocide-in-karabakh

(3) https://apa.az/en/cis-countries/garabagh-issue-is-used-for-internal-intrigue-pashinyan-412406

(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Sangesur-Korridor

(5) https://www.indianpunchline.com/russia-scrambles-as-eu-surges-in-caucasus/

(6) https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2023/09/19/readout-of-president-bidens-meeting-with-the-c51-leaders-at-unga/

(7)https://korybko.substack.com/p/korybko-to-dutch-media-the-end-of

(8) https://twitter.com/DadakGurkan/status/1706421576902525332

(9) https://twitter.com/search?q=%23ArmenianGenocide

(10) https://www.nachdenkseiten.de/?p=104388

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: sameer madhukar chogale / shutterstock

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Kommentare (12)

12 Kommentare zu: “Armenien und Aserbaidschan, was steckt dahinter? | Von Jochen Mitschka

  1. Andreas I. sagt:

    Hallo,
    es kann interessant sein, was Dritte (z.B. Bhadrakumar und Korybko) über aktuelle Ereignisse denken.
    Zuerst will ich aber einen eigenen ersten Eindruck gewinnen.
    Wenn das durcheinander geht, wenn ich bereits eine Analyse A (von Ereignis A) im Hinterkopf habe, während ich von Ereignis B erfahre, dann ist mein erster eigener Eindruck des Ereignisses B schon mit dem Blickwinkel der Analyse A belastet.
    Wenn ich das nicht will, dann bin ich geneigt, die Analysen zu überlesen, um mich möglichst unvoreingenommen den Informationen über die Ereignisse widmen zu können, aber das ist schade um die Analysen; es kann ja den Horizont erweitern, was andere (über die Ereignisse) denken.
    Darum finde ich, die Texte / Artikel könnten klarer in Ereignisse und Analysen gegliedert sein, zunächst möglichst ungefiltert die Ereignisse, für einen möglichst ungefilterten ersten eigenen Eindruck, danach die Analysen, also was Dritte (z.B. Bhadrakumar und Korybko) über die Ereignisse denken.

    (Und wenn Ursprung Synthese anregt, warum nicht, dann ergäbe sich die Gliederung Ereignisse, Analysen, Synthese.)

    • Danke für den Hinweis. Ja, das ist die klassische Vorgehensweise. Aber leider ist der Anfang, die Beschreibung des Vorgangs ein Problem, weil es schon aus einer Sichtweise besteht. Es gibt ja keine wirkliche Neutralität. Es ist sehr schwierig etwas ohne schon implizite Wertung zu beschreiben. Daher flüchtete ich immer mehr in die Beschreibung durch Andere. Aber werde es in der übernächsten Woche noch mal verstärkt versuchen.

    • Ursprung sagt:

      #Andreas I:
      Hoert sich gut an:
      Ereignisse>
      Analyse>
      >Synthese (n)

      Danke fuer hirnkompatible Gliederungs-Schoepfung.

  2. Zara Trusta sagt:

    http://www.defenddemocracy.press/israels-fingerprints-are-all-over-the-ethnic-cleansing-in-nagorno-karabakh/

  3. Schramm sagt:

    "die Kapitulation mit weniger als einem dutzend zivilen Kollateralschäden"

    Nach anderen Meldungen mehreren hundert tödlichen Opfern.

  4. Ursprung sagt:

    Der Gsamtaufsatz mag ja so oder so sein. Als Laie kann ich da keinesfalls mitreden.

    Es faellt mir aber auf die Muehe auch dieses Autors, das politische, gesellschaftliche, historische Umfeld und persoenliche Zuneigen der Akteure zu beschreiben. Na schoen. Ist halt so. Und nun?

    Es fehlt auch nur der Versuch eines Entwurfs fuer "was waere wenn".
    Also was waere, wenn Demokratiedenke da waere?
    Oder Gemeinwohlstreben fuer alle Beteiligten?
    Hierarchie-Absenz? Oder Ego-Hintanstellung?
    Wie Potentiale entstehen koennten (und sei es nur als Utopie)?

    Genau das waere doch Job eines Innovativen!
    Warum scheiben 99 % wie aus dem Lager der Protokollanten und keiner aus dem "was waere wenn"? Koennte ja durchaus nebeneinander stehen.

    Fazit:
    Warum einer Analyse keine denkbare Synthese beifuegen, wo man sich ja ohnehin schon einer Muehe unterzogen hat? Auch eine Idee koennte schon in Gemeinwohl muenden.
    Meine Anregung, egal ob als Autor oder Kommentarist: nur noch beides liefern als Ehrensache: Analyse plus mindestens eine Synthese.
    Hiermit versucht.

  5. Bruno Gamser sagt:

    Wieder einmal bei seinen Lieblingsautoren geklaut (Bhadrakumar und Korybko) und in indirekte Rede gestellt. Dann ein Fazit, dass nichts mit dem restlichen Text zu tun hat.

    Herr Mitschka, ist es das Alter (erst 71) oder Twitter, wo sie nicht mehr als 3 Sätze ixlen müssen?

    • Hinsichtlich des Fazits hatte ich den Text falsch gekürzt, um das Format nicht zu sprengen, daher haben Sie recht, es fehlt die Erklärung für den folgenden Rant über Deutschland, es fehlt der Zusammenhang.

      Warum es aber ein Fehler sein soll, meine beiden Lieblingsintellektuellen unter den Vertretern des Multipolarismus in ihrer Argumentation zu vergleichen, fällt mir nicht ein. Aber wiederholen Sie gerne diese Kritik. Vielleicht verstehe ich sie ja irgendwann.

    • Andreas I. sagt:

      Hallo,
      mit Quellenangabe ist es Zitieren.
      Klauen ist ohne, so wie Guttenberg, Schavan & Co.
      Das nur mal so nebenbei.

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