Arschkarten für die Mehrheit

Während die Fußball-EM Massen an die Bildschirme fesselt, peitschen Union und Sozialdemokraten Gesetze zugunsten der Großindustrie und zulasten der »Kleinen« durchs Parlament.

Von Susan Bonath.

Fußball-EM, Brexit-»Alarm« und beginnende Ferien: Während die Bevölkerung weitgehend ruhig gestellt ist, hat die Bundesregierung kurz vor ihrer Sommerpause mit Hilfe von Union und SPD wie üblich mehrere Gesetze gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durchgedrückt. So verteilte sie Ende vergangener Woche Geschenke an reiche Firmenerben und die Fracking-Lobby. Die weniger gut situierte Masse darf sich indes auf mehr Überwachung gefasst machen. Einen neuerlichen Angriff auf die Lohnabhängigen gibt es gratis dazu. Mit der durchs Parlament geschleusten Hartz-IV-Novelle sollen Erwerbslose und arbeitende Aufstocker nicht nur stärker kontrolliert werden. Auch die existenzbedrohende Strafpraxis und damit die Pflicht, jede noch so miese Arbeit anzunehmen, weitete die Regierung weiter aus. Dies dürfte die Angst von angestellten Nicht-Hartz-IV-Beziehern vor Entlassung nicht gerade mindern. Stillhalten und Akzeptanz schlechter Arbeitsbedingungen sind die Folgen.

»Oligarchengesetz«

Eigentlich sollten Firmenerben weniger als bisher privilegiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte es 2014 so gefordert. Nach dem mit allerlei Ausnahmen gespickten alten Gesetz konnte praktisch jeder, der ein Unternehmen von Eltern oder Verwandten übernahm, der Steuer entgehen. Er musste lediglich den Betrieb sieben Jahre weiterführen und die Zahl der Beschäftigten konstant halten. Dies ging den Karlsruher Richtern zu weit. Doch eine Neuregelung nach Artikel 14 des Grundgesetzes – Eigentum verpflichtet – blieb aus. Herausgekommen ist statt dessen ein Wirrwarr mit schwammigen Formulierungen und neuen Ausnahmen. »Familienunternehmen gewinnen Lobbyschlacht um Erbschaftssteuer«, titelte sogar die Süddeutsche passender Weise. Nach jahrelanger Beschäftigung mit der Reform sei das Ergebnis »dürftig«. Es könne Armut und Ungleichheit in Deutschland »nicht mal ansatzweise bekämpfen«.

So bleibt auch nach der Novelle eine völlig steuerfreie Übernahme durch die nächste Generation möglich. Für eine Verschonung von 85 Prozent des Betriebsvermögens als Grundlage für die Steuerberechnung muss der Erbe das Unternehmen lediglich fünf Jahre mit gleichbleibendem Personalbestand fortführen. Wer die Firma sieben Jahre lang erhält, muss wie bisher gar nichts fürs Erbe an den Fiskus abdrücken.

Bisher spielte die Größe des begünstigten Betriebsvermögens keine Rolle. Künftig sollen Erben von Unternehmen ab einem Wert von 26 Millionen Euro nur dann steuerfrei ausgehen, wenn sie nachweisen, dass sie privat so arm sind, dass sie dies nicht verkraften. Will der Erbe sein Privatvermögen geheim halten, kann er alternativ prüfen lassen, wie viel Prozent seines Betriebsvermögens von der Versteuerung verschont bleiben. Bei einer Erbmasse von 26 Millionen Euro und siebenjähriger Fortführung liegt das Schonvermögen noch immer bei 100 Prozent, der Steuersatz somit bei Null. In Schritten von 750.000 Euro nach oben verringert sich die Verschonung, gedämpft durch weitere persönliche Freibeträge. Der maximale Steuersatz auf den Teil, der dann nicht mehr zur steuerfreien Erbmasse gehört, bleibt aber mit maximal 30 Prozent auch bei sehr großen Erbschaften verhältnismäßig gering. Die Bundesregierung rechnet mit nicht einmal einer Milliarde Euro Mehreinnahmen.

Die Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht bezeichnete die Novelle am Freitag im Bundestag als »Kapitulation vor den Superreichen in Deutschland«. »Wer reich geboren wird, bleibt reich, wer arm geboren wird, bleibt arm«, konstatierte sie. Keineswegs würden durch »dieses Oligarchengesetz« Arbeitsplätze erhalten, wie es sowohl die SPD als auch die Union beschworen hatten. Linke und Grüne hofften darauf, dass das Gesetz im Bundesrat scheitert. Es sei erneut verfassungswidrig, so beide Fraktionen.

Frackinglobby beglückt

Das sogenannte Fracking-Gesetz war am Freitag unvermittelt im Parlament gelandet. Die Opposition beklagte, die Entwürfe erst wenige Stunden vorher zugestellt bekommen zu haben. Vorher hatte das Vorhaben jahrelang in Schubladen herumgedümpelt. Geregelt war das Fracking in Deutschland bisher nicht. Wegen großen Widerstands aus der Bevölkerung gegen das risikoreiche Fördern von Erdgas aus tiefen Gesteinsschichten mit Hilfe von Wasser, Chemie und Druckluft hatten interessierte Energiefirmen fünf Jahre darauf verzichtet. Diesen Kompromiss kündigten sie kürzlich auf.

Die Konzerne können nun aufatmen: Im Sandstein soll Fracking künftig erlaubt sein. Im Schiefergestein gestattet das Gesetz Probebohrungen. Später soll entschieden werden, ob gefrackt werden darf oder nicht. Eingeschränkt werden könnte das Fracking jetzt nur durch vorgegebene Umweltverträglichkeitsprüfungen und öffentliche Anhörungen. Umweltinitiativen beklagen, dass die Methode das Grundwasser verunreinigen und vergiften könne. Sie berufen sich auf Analysen aus den USA. Aber der SPD-Abgeordnete Frank Schwabe findet es wichtiger, der Abhängigkeit vom »bösen Russen« zu entkommen. Deshalb, so sagte er im Bundestag, müsse in Deutschland so viel Gas wie möglich gefördert werden. Dieses Argument hinkt jedoch: Studien zufolge deckt Deutschland gerade sieben Prozent des Gasbedarfs aus eigener Förderung. Mit Hilfe des Frackings sei dies bei Ausbeutung sämtlicher Ressourcen zu maximal zwölf Prozent möglich.

Dauerüberwachung

Erwiesen ist: Wo mit der sozialen Kluft die Zahl der Verlierer größer wird, nehmen Verteilungskämpfe und Kriminalität zu. Doch statt Reiche zur Kasse zu bitten, um Vorhandenes gerechter zu verteilen, will die Bundesregierung mutmaßliche Terroristen strenger verfolgen. Potenziell verdächtig ist für sie jeder. Dies macht das ebenfalls am Freitag beschlossene »Antiterrorgesetz« deutlich.

Danach dürfen nicht nur Geheimdienste ganz offiziell viel enger zusammenarbeiten und Informationen hin und her reichen. Auch das Abhören von Telefonen und der Einsatz verdeckter Ermittler wird vereinfacht. Darüber hinaus hebelt die Bundesregierung den Jugendschutz aus. Künftig darf der Verfassungsschutz schon 14jährige überwachen, wenn er sie nach eigenem Ermessen als mögliche Terroristen einstuft. Für alle wird es zudem ein Stück weniger anonym, wenn es ums Telefonieren geht. Eine Prepaidkarte fürs Handy gibt es künftig nur noch gegen Vorlage des Personalausweises. Die Telekommunikationsanbieter bekommen eine Frist von einem Jahr, ihre »Prozesse an die Regelung anzupassen«.

Aufmucken verboten

Damit die lohnabhängige Bevölkerung nicht zu sehr aufmuckt und sich alles gefallen lässt, um nur ja nicht aus dem »heiligen Arbeitsmarkt« entlassen zu werden, gibt es obendrauf rigide Verschärfungen für jene, die sich nicht mehr alleine durch Erwerbsarbeit über Wasser halten können. Nach jahrelange Tauziehen manövrierte die Große Koalition die neunte umfassende Hartz-IV-Reform (binnen elfeinhalb Jahren) gegen die Stimmen der Opposition (Linke und Grüne) durch den Bundestag.

Die meisten Medien berichteten hernach fast ausschließlich von guten Taten: Union und SPD seien in letzter Minute von geplanten finanziellen Einschnitten bei Alleinerziehenden und drakonischen Sanktionsstrafen gegen Ältere, die nicht freiwillig mit lebenslangen Abschlägen mit 63 vorzeitig in Rente gehen, abgewichen. Das stimmt zwar, ist aber nur ein klitzekleiner Teil der Wahrheit. Die andere Seite ist: Erwerbslose und Aufstocker werden künftig noch strenger überwacht, stärker ans Gängelband genommen und härter bestraft.

Zwangsarbeit

Erstens ändert die Hartz-IV-Novelle rein gar nichts an der Sanktionspraxis, obwohl alle Sozialverbände und Sachverständigen vor allem die extremen Strafen gegen Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren angeprangert hatten. Denn weisen diese zu wenige Bewerbungen nach, lehnen eine Maßnahme, eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle oder einen Ein-Euro-Job ab, weigern sich auch nur, an einer »Informationsveranstaltung« der Bundeswehr teilzunehmen, wird ihnen für drei Monate der komplette Regelsatz gestrichen. Bei einem zweiten »Pflichtverstoß« innerhalb eines Jahres wird ihnen auch keine Miete mehr bezahlt. Ältere Betroffene erhalten beim ersten »Vergehen« eine Kürzung um 30, danach um 60 und schließlich um 100 Prozent. Dies führe naturgemäß zu Obdachlosigkeit, Mangelernährung und Kriminalität, hatte die Linke am Donnerstag erneut gemahnt.

Eingeführt wird darüber hinaus ein zweites Kürzungsinstrument: die Ausweitung sogenannter »Ersatzansprüche« der Jobcenter gegen Leistungsbezieher bei »sozialwidrigem Verhalten«. Sozialwidrig ist es für die Bundesregierung, wenn sich ein Klient nach Ansicht des Amtes nicht ausreichend willig bei einem Vorstellungsgespräch gezeigt oder gar eine Kündigung durch eigenes Verhalten herbeigeführt hat. Dann, so die neue Vorschrift, dürfen die Behörden dem »Missetäter« vier Jahre lang die Bezüge um das Geld kürzen, dass er ihrer Meinung nach hätte verdienen können, aber eben nie hat. Stellen sie es später fest, dürfen sie es auch für diesen Zeitraum zurückfordern. Das heißt: Verschickt das Jobcenter ein Stellenangebot und unterstellt dem Klienten, sich nicht genug bemüht zu haben, den auferlegten Job zu bekommen, droht ihm über die Vierteljahressanktion hinaus eine vierjährige Entsagung des Existenzminimums. Eine Wahl hat er somit nicht.

Entrechtung

Andersherum dürfen Leistungsbezieher selbst nur ein Jahr rückwirkend gegen falsche Bescheide vorgehen. Auch das beschneidet die Bundesregierung weiter. Gibt es ein später gesprochenes höchstrichterliches Urteil, das die beklagte Praxis als rechtswidrig einstuft, bekommen Widerspruchsführer oder Kläger erst ab diesem Zeitpunkt vorenthaltenes Geld erstattet.

Ferner sollen Behörden jeden Umzug eines Hartz-IV-Beziehers absegnen. Ein Wechsel in eine teurere Wohnung wird verunmöglicht, auch wenn sie dem Gesetz nach »angemessen« ist. Zudem sollen Erwerbslose künftig bis zu drei statt wie bisher, zwei Jahre zu Ein-Euro-Jobs verpflichtet werden können. Außerdem sollen Behörden monatlich statt vierteljährlich die Daten ihrer Klienten abgleichen. Heißt: Unter anderem Bankkonten und die Kommunikation mit dem Finanzamt werden systematisch kontrolliert.

Druck auf Beschäftigte

Mit der Automatisierung fallen immer mehr produktive Jobs weg. Sozialarbeit wird häufig schlecht bezahlt. Kommunen mit leeren Haushaltskassen beschäftigen häufig Ein-Euro-Jobber, billige Leiharbeiter oder schlecht entlohnende Werksvertragsnehmer. Der Kampf um auskömmlich bezahlte Arbeitsplätze wird härter. Zu diesen zählen die meisten der derzeit als offen gemeldeten rund 600.000 Stellen nicht. Diesen gegenüber stehen 4,3 Millionen »erwerbsfähige« Hartz-IV-Bezieher mit rund 1,7 Millionen Kindern – neben den knapp eine Million Arbeitslosengeld-I-Beziehern, den jährlichen Ausbildungs- und Studienabsolventen, und denen, die nicht im System erfasst sind, weil der Partner zu viel verdient oder wie sie keine Leistung beantragt haben. Angenommen, acht Millionen Menschen suchen einen Job, dann kämen – abgesehen davon, dass nicht jeder für jede Arbeit geeignet ist – auf eine Stelle gut 13 Bewerber.

Das bedeutet andererseits: Jeder, der eine Arbeit hat, von der er (noch) leben kann, muss potenziell befürchten, dass schon Bewerber vor der Tür stehen, die es für weniger Geld tun würden. Die Frage nach Lohnerhöhung oder mehr Urlaub hat sich erledigt. Der Mut, für eigene Rechte zu kämpfen, sinkt mit wachsender Arbeitslosigkeit und verschärften Repressalien gegen Aussortierte. Anbiedern und mitmachen oder rausfliegen. Mit Angst schüren sowie ebenfalls geplanten Verschlechterungen für Leiharbeiter und Beschäftigte bei Werksvertragsnehmern wird die Abwärtsspirale am Laufen gehalten.

Dem kann auch die sogenannte Mindestlohnkommission mit ihrem – vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gestützten! – Vorschlag, die mit Ausnahmen gespickte Lohnuntergrenze ab 2017 um lächerliche 34 Cent auf 8,84 Euro anzuheben, nicht abhelfen. Sollte die Bundesregierung dem überhaupt folgen, würde dies nicht mal die Preissteigerungen der letzten anderthalb Jahre ausgleichen.

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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Anmerkung KenFM-Redaktion: Dieser Text wurde nach Erstveröffentlichung minimal im letzten Textabsatz verändert. Wir bitten um Entschuldigung.


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