Ein Essay von Eugen Zentner.
Wir befinden uns in einer neuen Phase der Aufklärung. Neu ist sie, weil uns im Zuge der Corona-Krise bewusst wurde, dass wir eigentlich nie aufgeklärt waren. Im Gegenteil: Teilweise sind wir in die Zeit der Voraufklärung zurückgefallen. So manche zivilisatorische Errungenschaft existiert nur noch als Phantom, irgendwo im Raum herumwabernd, aber mit den Händen nicht zu greifen. Sie sind eine Schimäre, genauso wie unser Glauben daran, wir bedienten uns des eigenen Verstandes. „Sapere aude“, schrieb damals der Philosoph Immanuel Kant. Und wir wagten es, bemerkten aber nicht, dass unser Verstand seit Jahrzehnten verwirrt und manipuliert wurde. Wir glaubten, selbstbestimmt zu handeln, eigenständig zu denken. Aber eigentlich gaben uns andere Instanzen die Richtung vor, neue Autoritäten, von denen Kant schon damals sprach, als er seinen wirkmächtigen Traktat schrieb.
Der Pfaffe ist es freilich nicht mehr. Als Autorität aus dem finsteren Mittelalter hat er ausgedient. Aber der Arzt, der nach Kant „für mich die Diät beurteilt“, scheint im Zuge der Corona-Krise mächtiger denn je zu sein – vorausgesetzt, er folgt der Regierungslinie. Genauso wie die Medizin nimmt auch die Wissenschaft einen hohen Rang ein. Ihr haftet nun etwas Religiöses an. Was in ihrem Namen verkündet wird, gilt als sakrosankt. Jede Widerrede verbietet sich, ja atmet den vermeintlichen Geist „kruder Verschwörungsideologien“. Als neue Autoritäten haben sich hingegen die Leitmedien hochgeschwungen. Sie treten mit der Attitüde eines Qualitätsjournalismus auf, dem selbst Intellektuelle und Akademiker bedingungslos Vertrauen entgegenbringen. Was in den Leitmedien steht, stimmt. Punkt. Sonst würde es dort nicht stehen, so das Dogma.
Dass diese alten und neuen Autoritäten dem Großkapital verpflichtet sind, für staatliche wie unternehmerische Interessen gebraucht sowie konzertiert werden, kam uns sehr lange nicht in den Sinn. Wir glaubten an die Existenz einer pluralistischen Gesellschaft, einer liberalen Demokratie, an die Unabhängigkeit der verschiedenen Instanzen. So sah es zumindest auf der Oberfläche aus. Während sie aber, um die Aufklärungsmetapher zu bemühen, aufgehellt wurde, verdunkelte sich der Hintergrund immer mehr. Dort jedoch spielt sich das eigentliche Geschehen ab, politisch, gesellschaftlich und ökonomisch. Dort wurden auch die Manipulationstechniken ausgeklügelt, wie wir weiter in dem Glauben gehalten werden könnten, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Und in gewisser Hinsicht haben wir es auch tatsächlich gemacht. Wir haben dieses Werkzeug selbständig benutzt, um Informationen auszuwerten, um sie abzuwägen, um auf ihrer Grundlage Entscheidungen zu treffen. Nur: Wir haben die falschen Informationen bekommen. Wir wurden mit ihnen von denen gefüttert, die so gerne im Dunkeln bleiben wollen. Von verborgenen Gestalten, die jene Autoritäten benutzen, um auf der Oberfläche ein Theater zu veranstalten. Und wir alle hatten darin eine bedeutende Rolle. Wir spielten die autonomen, mündigen Bürger, engagierte Demokraten, die an politisch-gesellschaftlichen Entscheidungen mitwirkten.
Hieß Kants Anfangssatz noch: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, so muss er heute ein wenig abgewandelt werden. Sie ist nicht selbstverschuldet, sie ist durch eine nahezu perfekte Manipulation zu einer solchen geworden. Aus dieser Art der Unmündigkeit müssen wir uns heute in der neuen Phase der Aufklärung befreien. Wir müssen begreifen, dass wir immer und ständig manipuliert werden. Und wir müssen die perfiden Manipulationstechniken kennen, vor allem aber erkennen, um sich wirklich des eigenen Verstandes bedienen zu können. Sonst greifen wir weiter auf ein Werkzeug zurück, das sich wie der eigene Verstand anfühlt, aber im Grunde nichts anderes ist als ein vorprogrammiertes Abbild davon.
Bemühte sich die Aufklärung im Zuge des 18. Jahrhunderts noch um den Aufbau einer publizistischen Öffentlichkeit, so zielt sie heute auf die Inhalte ab, die dort zirkulieren. Aufgrund alternativer und sozialer Medien gibt es wahrlich keinen Mangel an Informationen, die publik gemacht werden. Nur sind sie in vielen Fällen nichts wert und nehmen die Form von Desinformation an. Bilder, Audiodateien und Videos können trügen. Dafür sorgen Technologien wie die künstliche Intelligenz, mit deren Hilfe sich Deepfakes am laufenden Band erzeugen lassen. Dabei handelt es sich um Medieninhalte, die so subtil abgeändert oder verfälscht werden, dass sie absolut realistisch wirken. Wie das funktioniert, hat kürzlich Markus Langemann vom Club der klaren Worte demonstriert. Um die Zuschauer auf die heiklen Manipulationstechniken aufmerksam zu machen, ließ er die Worte des einstigen Bild-Chefs Julian Reichelt dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump in den Mund legen.
Dafür war lediglich ein Ausschnitt aus einem seiner früheren Interviews notwendig – und spezielle Programme. Mit ihnen kann man heutzutage jeden Satz in den Duktus und die Stimme einer anderen Person übersetzen lassen, sodass es sich anhört, als hätte sie es tatsächlich gesagt. Langemann ließ auf diese Weise Trump in Englisch das verkünden, was eigentlich Reichelt in Deutsch von sich gab. Mit einem anderen Programm machte er dann aus einem Stand- ein lippensynchrones Bild, sodass es zusammen mit der Stimmenmanipulation wie ein authentischer Interviewausschnitt des ehemaligen Ex-Präsidenten wirkte.
Solche Videoschnipsel werden über WhatsApp, Telegram oder Twitter tausendfach geteilt, ohne dass die Adressaten bemerken, was sich dahinter verbirgt – Deepfakes, die mittlerweile auf Grundlage maschinellen Lernens sogar autonom entstehen. Derlei Programme gibt es en masse. Sie entwickeln sich stetig weiter, werden immer raffinierter und lassen sich einfach bedienen. Wer sie nutzt, kann mit ein paar Clicks Medieninhalte für die Verbreitung von Desinformation herstellen. Auf diese Weise narkotisieren die Gegenaufklärer den Verstand und verwirren die Sinne. Das wiederum ermöglicht ihnen, Stimmung gemäß der eigenen politischen Agenda zu schüren. Die Gefahren liegen auf der Hand, weshalb die Selbstreflexion als Kernforderung der Aufklärung weiterhin Bestand hat. Allerdings geht es jetzt nicht mehr nur um die skeptische Überprüfung von Hypothesen und methodischen Verfahrensweisen, sondern auch und vor allem um die kritische Auseinandersetzung mit Medieninhalten im Hinblick auf ihre mögliche Manipulationsabsicht.
Beispiele wie Langemann liefern jedoch den Beweis, dass eine Aufklärung in dieser Hinsicht erfolgt. Sie findet, wie einst gefordert, jenseits der reinen Privatsphäre in der publizistischen Öffentlichkeit statt – wenn auch nicht unbedingt in den Leitmedien. Im alternativen Bereich richtet man das Licht aber sehr wohl auf die vielen Manipulationstechniken, die für die moderne Form der Unmündigkeit verantwortlich sind. Wenn sich die Aufklärung als eine Erziehung des Menschen versteht, als eine Anleitung zum Gebrauch seiner Verstandeskräfte und als Beitrag zur vernünftigen Lebensführung, so erscheint sie in dieser neuen Phase als Programm der Befreiung von der digitalen Manipulation. Wer im Zeitalter der künstlichen Intelligenz frei und selbstbestimmt leben möchte, muss die technisch erzeugten Trugbilder erkennen können.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Maykova Galina / shutterstock.com
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Danke an den Autor für die Mitteilung seiner Erkenntnis. Sie entspricht auch einem Teil der meinen und bedeutet, daß das Alternative Medium den Kampf verloren hat. Im Allgemeinen und im Detail. Die Geldquellen müssen demnach künftig anderweitig besorgt werden, wenn sich die Leser und Zuschauer als tatsächlich soo gescheit herausstellten, wie es seit Jahren postuliert wird. The Intercept, The Guardian, um nur zwei Beispiele zu nennen, haben es bereits vorgemacht. Anzeichen dafür durfte ich selbst bereits erfahren; ich erspare der KI Details und, vor allem, den erbärmlichen selbsternannten Sheriffs, die neo-technischem Psychoterror frönen.
Mich entsetzt, wie das Alternative Medium immer mehr versucht, seiner Audienz das frühzeitige Ableben schmackhaft zu machen (alternde Koriphäen ohne auch nur den Hauch einer Idee von den neuen Möglichkeiten, beim Morden nicht mehr selbst Hand anlegen oder (Auto-) Unfälle kreieren zu müssen, vorneweg). In diesem Punkt übertreffen sie die Google-Absurdität noch, zu glauben, man erschüfe Gott.
So lange niemand in der Lage ist, die Arktis zur tropischen Zone zu machen, verbleibt der Mensch in stetig wachsender Lächerlichkeit, nur Anderen den Spiegel vorhalten zu können, selbst aber tunlichst vermeidet, sich einen solchen in die eigene Welt zu stellen. Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich …. heiß'.
Die Unmündigkeit «ist nicht selbstverschuldet, sie ist durch eine nahezu perfekte Manipulation zu einer solchen geworden.»
die Unmündigkeit ist insofern selbstverschuldet, als die Menschen die Organisation ihres Lebens an gesellschaftliche Institutionen abgegeben haben, um deren Aktivitäten sie sich nicht kümmern, weil sie sie gleichzeitig verachten.
«Was sich heute aber genau in der Krise befindet, ist für den zeitgenössischen Menschen eben die Gesellschaft als solche. Wir erleben paradoxerweise gleichzeitig mit einer (faktischen und externen) Hyper- und Übersozialisierung des Lebens und der menschlichen Aktivitäten eine "Absage" an das gesellschaftliche Leben, die anderen, die Notwendigkeit des Institution usw. Der Schlachtruf des Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert, "Der Staat ist das Übel", ist heute zu "Die Gesellschaft ist das Übel" geworden. […] Will der zeitgenössische Mensch die Gesellschaft, in der er lebt? Will er eine andere? Will er überhaupt eine Gesellschaft? Die Antwort ist an Taten ablesbar, bzw. deren Fehlen. Der zeitgenössische Mensch verhält sich so, als sei das Leben in Gesellschaft eine abscheuliche Strafe, die ihm nur durch eine Laune des Schicksals nicht erspart geblieben ist. (Dass dies die ungeheuerlichste und kindischste aller Illusionen ist, ändert natürlich nichts an den Tatsachen.) Der typische Mensch von heute verhält sich so, als müsste er die Gesellschaft ertragen, die er im Übrigen (in Form des Staates oder der anderen) nur allzu bereitwillig für alle seine Leiden verantwortlich macht, während er sie – gleichzeitig – um Unterstützung bittet und von ihr "Lösungen für seine Probleme" verlangt. Er hegt keine Pläne mehr in Bezug auf die Gesellschaft – nicht den ihrer Umgestaltung, nicht einmal den ihrer Erhaltung/Reproduktion. Er akzeptiert die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr, in denen er sich gefangen fühlt und die er nur insofern reproduziert, als er nicht anders kann.» (Cornelius Castoriadis, «Die Krise der westlichen Gesellschaften» (1982), in: Ausgew. Schriften, Bd. 2.2)