Von Annette Groth.
Auch in diesem Jahr war Weihnachten in Bethlehem, dem Geburtsort Jesus, ein besonderes Fest, zu dem Christen aus aller Welt anreisten. Für palästinensische Christen, die in Gaza, in Jerusalem oder in anderen Orten in der Westbank wohnen, ist es allerdings fast unmöglich, nach Bethlehem zu kommen. Die sog. 700 km lange Apartheidsmauer, genannt „Sperranlage“, die offiziell ein Schutz gegen Angriffe auf Israel sein soll, verläuft zu 85% innerhalb der Westbank. Die Mauer trennt nicht nur die völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen von den palästinensischen Dörfern, sondern sie geht auch mitten durch Bethlehem. Darum wird auch das Bansky´s Walled Off Hotel, in dem viele Touristen übernachten, das Hotel mit dem „schlimmsten Blick der Welt“ bezeichnet, weil es direkt an der Mauer steht.
18 israelische Siedlungen mit 180 000 Siedlern umzingeln Bethlehem und schneiden sie vom Rest der Westbank und von Jerusalem ab. Zugang ist nur möglich durch 28 Checkpoints.
In der Nähe von Bethlehem liegt das Flüchtlingslager Aida, über dem Eingangstor ist der angeblich größte Schlüssel der Welt. Der Schlüssel ist aus Stahl, wiegt eine Tonne und ist neun Meter lang. Die Bewohner des Lagers fertigten ihn 2008 an und er ist ein Symbol und Andenken an die verlorenen Häuser, aus denen die Palästinenser 1948 vertrieben wurden. Damals verloren etwa 720 000 Menschen ihre Häuser. Sie wurden in Aktionen ethnischer Säuberungen vertrieben und flohen aus Angst in den Gazastreifen, ins Westjordanland, den Libanon, nach Jordanien, Syrien, Ägypten und in den Irak. Die Schlüssel zu ihren Häusern behielten sie bei sich in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr.
In Aida leben über 6400 Menschen auf engstem Raum. Laut einer Studie des Human Rights Centers der kalifornischen Universität Berkeley ist die Belastung durch Tränengas in diesem Lager die höchste weltweit. Kinder und Erwachsene sind dem Reizstoff mehrmals die Woche ausgesetzt und das hat verheerende Konsequenzen für die körperliche und seelische Verfassung der Lagerbewohner. Die Tränengasangriffe vonseiten des israelischen Militärs sind reine Schikane, sie sollen die Menschen einschüchtern und ihnen zeigen, wer der „Herr im Haus“ ist. In den engen Gassen des Lagers gibt es viele Graffitis in englisch und arabisch mit Motiven der Freiheit, des Widerstands und der Hoffnung. Sie senden eine eindringliche Botschaft an Touristen, die das Lager besuchen: “Uns wurde Unrecht getan und wir werden nicht aufgeben, bis wir Gerechtigkeit erfahren!”
Das alltägliche Leben der Palästinenser wird weithin durch über 700 Checkpoints bestimmt: Hunderte von Kindern müssen auf ihrem Weg zur Schule durch diese „Anlagen“, die teilweise von schwerbewaffneten Soldaten kontrolliert werden. Um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, müssen Palästinenser oft stundenlang an den Checkpoints warten – oft werden sie unverrichteter Dinge zurückgeschickt; Frauen gebären an Checkpoints und Menschen sterben, weil sie es nicht rechtzeitig zum Krankenhaus schaffen.
Bereits im Juli 2004 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag in einem fast einstimmig verabschiedeten Gutachten den Mauerbau auf palästinensischem Territorium als rechtswidrig bezeichnet und Artikel 49 des IV. Genfer Abkommens vom August 1949 ausdrücklich bestätigt. Artikel 49 verbietet die Ansiedlung der eigenen Bevölkerung in besetztem Gebiet, d.h. alle jüdischen Siedlungen, die ohne Zustimmung der Palästinenser in den besetzten Gebieten errichtet wurden, sind völkerrechtswidrig.
Der Gazastreifen mit fast 2 Millionen Einwohnern ist seit 2007 völkerrechtswidrig mit einer Blockade belegt, d.h. die Grenzübergänge Erez nach Israel und Rafah nach Ägypten sind meistens geschlossen, so dass weder Menschen noch Waren rein noch raus können, oder erst nach wochen- oder monatelangem Warten.
Die drei Gazakriege (2008/9, 2012, 2014) haben den Küstenstreifen mit seinen 365 qkm – so groß wie Bremen – fast unbewohnbar gemacht.
Während des Krieges 2014 warf die israelische Armee über 20 000 Tonnen unterschiedlichster Arten von gefährlichen und international verbotenen Bomben über dem Gazastreifen ab. Grundwasser und Böden sind weitgehend verseucht.
Durch die Zerstörung der Abwässeranlagen gelangt ungeklärtes Wasser ins Meer. 2017 musste Israel erstmalig zwei Strände aufgrund von Umweltverschmutzung sperren, denn durch die Meeresströmung gelangt verseuchtes Wasser auch an Israels Küsten.
Auch die Fischbestände, eine der wichtigsten Einkommensquellen im Gazastreifen, sind verseucht. Tausende Fischer, die ohnehin nur sehr eingeschränkt agieren können, da sie nur innerhalb von 9 Seemeilen aufs Meer hinaus fahren dürfen (damit sind 85 Prozent der Meeresgebiete, die in den Osloer Abkommen den Palästinensern zugesagt worden waren, für die palästinensische Bevölkerung nicht zugänglich) und bei „Zuwiderhandlungen“ von der israelischen Armee beschossen werden, sind quasi arbeitslos und können sich und ihre Familien kaum ernähren. Parallel dazu wird den Palästinensern der Zugang zu 17 Prozent des Gazastreifens verwehrt, da die israelische Regierung diese Gebiete zu „Pufferzonen“ erklärt hat.
Um die Welt auf das Elend der Bevölkerung Gazas und die völkerrechtswidrige Blockade des Gazastreifens aufmerksam zu machen und an die Nakba zu erinnern, organisierten Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten im März diesen Jahres große Protestmärsche. Nakba ist das arabische Wort für Katastrophe und weist auf die Vertreibung der über 700 000 Palästinenser durch israelisches Militär im Jahre 1948 hin. Diese Demonstrationen unter dem Banner „Great Returnmarch“ soll die Welt an das Rückkehrrecht der aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinenser erinnern, die damals nach Gaza flüchteten.
1948 sprach die UNO in ihrer Resolution 194 den Flüchtlingen ein Recht auf Rückkehr zu, welches allerdings nicht rechtlich verpflichtend ist. Allerdings war die Annahme der Resolution 194 seinerzeit die Voraussetzung für Israels Aufnahme in die UNO gewesen.
1974 hat die Generalversammlung in ihrer Resolution 3236 zum wiederholten Mal das „unveräußerliche Recht der Palästinenser“ bekräftigt, „in ihre Wohnungen und Eigentum, aus dem sie vertrieben und entwurzelt wurden, zurückzukehren und fordert ihre Rückkehr”.
Das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat ist seit langem Völkergewohnheitsrecht. Sowohl die Menschenrechtserklärung von 1948 wie auch alle vier Genfer Konventionen von 1949 und der UN-Zivilpakt von 1967, den Israel ratifiziert hat, garantieren das Rückkehrrecht für Flüchtlinge.
Dieses Recht muss endlich durchgesetzt werden. Alle Staaten, die dem „Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ vom 12. August 1949 angehören, haben die Verpflichtung, unter Respektierung der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, wie es in diesem Abkommen niedergelegt ist, durch Israel sicherzustellen. Demzufolge sind auch alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, die Einhaltung des Völkerrechts durch Israel zu erwirken, die Anerkennung des durch die Siedlungspolitik geschaffenen rechtswidrigen Zustands als rechtmäßig zu verweigern und keinerlei Beihilfe oder Unterstützung zur Aufrechterhaltung dieses Zustands zu leisten.
Wenn die EU-Mitgliedsländer und die EU diese völkerrechtliche Verpflichtung ernst nehmen würden, müsste das EU-Israel-Assoziierungsabkommen so lange ausgesetzt werden, bis die israelische Regierung das Völkerrecht und die Menschenrechte achtet. Artikel 2 des Abkommens verpflichtet alle Vertragspartner zur Wahrung der Menschenrechte und der demokratischen Grundprinzipien.
Seit dem Beginn der Demonstrationen in Gaza am 30.3.2018 sind 240 Menschen von israelischen Scharfschützen getötet worden, darunter Journalisten und medizinisches Personal, alle als solche gekennzeichnet. Weit über 25 000 Palästinenser wurden verletzt. Vielen mussten die Beine amputiert werden, weil Scharfschützen gezielt auf Knie und die unteren Extremitäten schießen.
Allein am 14.5.2018 wurden 60 Palästinenser getötet. Dieses Massaker haben israelische Prominente, darunter Avraham Burg, ehemaliger Sprecher der Knesset und Vorsitzender der Jewish Agency, zu einem Appell veranlasst: “Die Welt muss eingreifen”. Dort heisst es: “Wir, israelische Bürger, die wünschen, dass unser Land sicher und gerecht ist, sind entsetzt und erschrocken über das massive Töten unbewaffneter palästinensischer Demonstranten in Gaza. Keiner der Demonstranten stellte eine unmittelbare Gefahr für den Staat Israel oder seine Bürger dar. Die Tötung von 60 Demonstranten und die Tausenden weiterer Verwundeter erinnern an das Massaker von Sharpeville im Jahr 1960 in Südafrika. Die Welt handelte dann. Wir appellieren an aufrichtige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, zu handeln. Wir fordern, dass diejenigen, die Schießbefehle erteilten, untersucht und vor Gericht gestellt werden. Die derzeitigen Mitglieder der israelischen Regierung sind für das kriminelle Vorgehen verantwortlich, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen. Die Welt muss eingreifen, um das laufende Töten zu stoppen.”
(https://www.tagesspiegel.de/politik/appell-israelischer-prominenter-nach-den-blutigen-protesten-in-gaza-die-welt-muss-eingreifen/22571212.html)
Neben verbalen Verurteilungen einiger Regierungen hat dieser eindringliche Appell prominenter Israelis nicht viel gebracht. Immerhin hat der UN-Menschenrechtsrat mehrheitlich für die Einsetzung einer Kommission gestimmt, die das Töten von Zivilisten im Gazastreifen untersuchen soll. Bei dieser Abstimmung im UN-Menschenrechtsrat hat sich Deutschland enthalten, während Belgien und Spanien für die Untersuchungskommission gestimmt haben. Der Bericht dieser Kommission soll Anfang nächsten Jahres fertig gestellt sein.
Der Umgang mit Gaza hat im November zu einer Regierungskrise in Israel geführt. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman trat am 14. November von seinem Amt zurück, weil er eine härtere Gangart gegen die in Gaza regierende Hamas und Militärangriffe forderte. Dagegen strebte Premierminister Nethanjahu einen Waffenstillstand mit der Hamas an.
Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit geht das Töten in Gaza weiter. In der Weihnachtswoche (20. – 26. 12.) haben israelische Soldaten laut dem Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte in Gaza 4 Palästinenser getötet, darunter ein Kind und einen Behinderten, 142 Zivilisten wurden verwundet, darunter 30 Kinder, 2 Frauen, 2 Journalisten und 1 Sanitäter. (https://pchrgaza.org/en/?p=11793)
Solche Meldungen kommen in unseren Mainstream Medien kaum vor, es gibt keinen weltweiten Protest, geschweige denn Sanktionen, die bei jedem anderen Land erwartet werden könnten. Wie das gezielte Töten in Gaza werden auch die Verbrechen der israelischen Streitkräfte und der Siedler in der Westbank und in Ost-Jerusalem weitgehend verschwiegen. Fast täglich kommt es zu nächtlichen Hausdurchsuchungen, Zerstörungen von Olivenbäumen und Häusern, Verhaftungen von Palästinensern und Kindern zwischen 12 und 16 Jahren, sowie anderen gravierenden Menschenrechtsverletzungen.
Seit 1967 hat Israel etwa eine Million Palästinensern aus politischen Gründen inhaftiert. In den israelischen Gefängnissen befinden sich etwa 7000 palästinensische Häftlinge, mehr als 400 davon sind Kinder zwischen 12 und 16 Jahren. Etwa 750 palästinensische Häftlinge befinden sich in Administrativhaft – ohne Anklage und ohne Verurteilung. Die angeblich gegen sie vorliegenden Beweise werden als sicherheitsrelevant eingestuft und dürfen nicht eingesehen werden. Die Dauer der Administrativhaft beträgt sechs Monate, wird aber beliebig häufig und ebenfalls ohne Angabe von Gründen verlängert. Unter Völker- und Menschenrechtlern ist kaum noch umstritten, dass Israel die Administrativhaft als Kollektivstrafe missbraucht – was genau wie die Verweigerung eines Rechtsbeistandes und unabhängiger Haftprüfungen – ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht darstellt. Folter, die in einigen Fällen auch zum Tod führte, ist immer noch an der Tagesordnung, einer Vielzahl von Gefangenen wird Familienbesuch verweigert.
Nach israelischem Militärrecht, das von der israelischen Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten angewandt wird, können Kinder bereits ab einem Alter von zwölf Jahren zu einem bis zu zwanzig Jahren Haft verurteilt werden. Anders als das israelische Zivilrecht hält sich das Militärrecht nicht an die UN-Kinderrechtskonvention. Im Militärrecht können Verhaftete, auch Kinder, bis zu neunzig Tage ohne juristischen Beistand bleiben. Viele palästinensische Kinder und Jugendliche „gestehen“ unter enormem Druck. Eine Studie von UNICEF aus dem Jahr 2013 kommt zu dem Ergebnis: „Die Misshandlung von palästinensischen Kindern in israelischen Gefängnissen scheint weit verbreitet, systematisch und institutionalisiert zu sein. […] Das Muster der Misshandlung beinhaltet die Verhaftung von Kindern zuhause zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens durch schwerbewaffnete Soldaten, die Praxis, Kindern die Augen zu verbinden und ihre Hände mit Plastikfesseln zu fixieren, physische und verbale Misshandlung während des Transports zum Ort des Verhörs […], die Befragung mittels physischer Gewalt und Drohungen […] und fehlender Beistand durch Anwälte oder Familienmitglieder während des Verhörs.“ (Annette Groth: “Die menschenrechtliche Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten“, S. 92 in „Palästina – Vertreibung, Krieg und Besatzung – Wie der Konflikt die Demokratie untergräbt“ (Hg. A.Groth, N.Paech, R.Falk); PapyRossa Verlag 2017)
Es ist Zeit, dass die Welt eingreift, wie es die israelischen Prominenten fordern. Das bleibt aber wohl in absehbarer Zeit nur eine schöne Hoffnung.
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Bildhinweis: Military position at the Kerem Shalom border crossing to the Gaza strip. Israel Gaza border Israel Egypt border, Gaza Egypt border stock image. Kerem Shalom terminal, Israel, Circa September 2013.
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung.
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