Eine nüchterne Analyse des Mordversuchs an Sergej und Yulia Skripal.
Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
von Andreas von Westphalen.
Nach dem Mordversuch an dem ehemaligen russischen Spion Sergej Srkipal und seiner Tochter Yulia sieht Großbritannien in Russland den Schuldigen. Außenminister Johnson klagt den russischen Präsidenten Wladimir Putin sogar persönlich an. Und die Medien? Statt aufzuklären werfen sie – ohne jeden Beleg für eine russische Schuld – die Frage auf, ob die Vorkommnisse nicht längst den NATO-Bündnisfall ausgelöst hätten. Rechtsstaatlichkeit sieht anders aus.
Bei dem Mordversuch am 4. März, bei dem auch ein Polizist vergiftet wurde, kam angeblich das Nervengas Nowitschok zum Einsatz. Die britische Regierung geht davon aus, dass Russland „höchstwahrscheinlich schuldig sei“ und stellte Russland ein Ultimatum, sich zu erklären. Nachdem Russland das Ultimatum verstreichen ließ, wies die britische Regierung 23 russische Diplomaten aus. Russland antwortete mit der Ausweisung 23 britischer Diplomaten.
Die diplomatischen Drohungen waren damit jedoch noch lange nicht beendet. Am 15. März gaben Deutschland, Frankreich und die USA eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie Großbritannien unterstützen und deren Verdächtigung teilen. Der britische Außenminister Boris Johnson, der nicht unbedingt für seinen diplomatischen Ton bekannt ist, geht sogar noch einen Schritt weiter und spricht öffentlich von einer direkten Schuld des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Es sei „äußerst wahrscheinlich, dass es seine Entscheidung war“(1).
Keine Frage, die Lage ist derzeit sehr angespannt und es ist gewiss nicht die schlimmste zu erwartende Konsequenz, wenn Boris Johnson seiner Mannschaft nicht bei der Fußball-WM im Stadion zujubelt. Seriöse Medien wie Die Zeit und die Tagesschau fragen sogar, ob der Einsatz von Chemischen Waffen auf dem Gebiet der NATO nicht den Bündnisfall auslösen wurde — wobei diese Frage auf der Webseite der Tagesschau inzwischen gelöscht wurde(2).
Harte Anschuldigungen bedürfen harter Beweise
Der Ton der Anschuldigungen ist hart. Aber worauf begründet sich die Schuldzuweisung genau und welche Beweise liegen auf dem Tisch? Nach dem Blick auf die gemeinsame Erklärung von Deutschland, Frankreich und den USA lässt sich zusammenfassen, dass diesen Ländern keine Beweise seitens Großbritanniens vorgelegt wurden. Es heißt schlicht:
„Das Vereinigte Königreich hat seinen Partnern gegenüber im Detail dargelegt, dass Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Verantwortung für diesen Anschlag trägt“(3).
Das erinnert ein wenig an die USA, die dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder 25 Minuten Zugang zu ausgewählten Akten gewährten, um ihn von dem angeblich eindeutigen Beweis, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, zu überzeugen. Aber der Reihe nach.
Das Opfer
Wer liest oder hört, dass auf einen ehemaligen russischen Spion ein Mordversuch unternommen wurde, hat schnell eine instinktive Schuldzuweisung parat: Er macht dafür das Land verantwortlich, für das er spioniert hat. Wer sonst sollte Interesse am Tod eines ehemaligen Spions haben?
Die Lage ist aber deutlich komplizierter. Im Jahr 2006 wurde Skripal in Russland verurteilt, weil er als russischer Spion dem britischen Geheimdienst MI6 die Identitäten von russischen Spionen verraten hatte, die undercover in Europa arbeiteten. Er wurde daraufhin für 13 Jahre verurteilt und 2010 vom damaligen russischen Präsidenten Dimitri Medwedew begnadigt. Skripal kam im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei und lebt seitdem in London (4).
Waleri Morosow, ein Exil-Russe, der in Russland um sein Leben fürchtete und nach Großbritannien floh, um dort Asyl zu erhalten, zweifelt an dem Interesse Russlands, seinen Ex-Spion zu ermorden:
„Für Moskau war Skripal nicht besonders bedeutend. Davon bin ich überzeugt. Das wird jetzt nur so dargestellt.“
Seine Erklärung hierzu ist einleuchtend:
„Er hat nur 13 Jahre Arbeitslager als Strafe erhalten. Das hätte wesentlich schlimmer für ihn ausgehen können. Ich war im Militär und Diplomatischen Dienst tätig und bin mir daher auch sicher: Mit dem Austausch nach Großbritannien war der Fall für den russischen Geheimdienst erledigt. Skripal hatte seine Strafe erhalten und diese akzeptiert. Daher konnte er auch danach weiter Kontakte nach Russland pflegen, etwa in die Botschaft. Ich bin daher der Meinung, sie hatten keinen Grund, ihn nun zu vergiften. In Russland interessiert sich doch niemand mehr für Agenten wie ihn“ (5).
Betrachtet man die genannten Fakten nüchtern, bleibt die Frage bestehen: Aus welchem Grund sollte Russland nun den Tod Skripals wünschen, der sein inzwischen veraltetes Wissen über die Identität von russischen Spionen bereits vor mehr als einem Jahrzehnt dem MI6 preisgegeben hatte? Was ist das Motiv?
Das Motiv
In der gemeinsamen Erklärung Deutschlands, Frankreichs und der USA heißt es:
„Wir teilen die Einschätzung des Vereinigten Königreichs, dass es keine plausible alternative Erklärung gibt.“
Diese Begründung macht – gelinde gesagt – etwas sprachlos. Welcher Richter würde eine Anklage annehmen, nur weil als einziger Mörder der eifersüchtige Ehemann in Frage kommt?
Waleri Morosow sieht die Täterfrage keineswegs alternativlos:
„Die Täter profitieren von einer günstigen weltpolitischen Lage: Wenn etwas in Großbritannien in dieser Art geschieht, wird direkt Putin verantwortlich gemacht. In dieser Hinsicht ist Großbritannien der Himmel für Kriminelle aus Russland. Und von denen gibt es hier viele“(6).
Der Journalist Misha Glenny, Mafiaspezialist und Autor einer BBC-Serie über die russische Mafia, findet den Vorwurf gegen Russland ebenfalls keineswegs alternativlos:
„Skripal war Teil eines Agentenaustauschs; über seinen Fall haben die britische wie die russische Seite ein Protokoll unterzeichnet. In der Theorie heißt es, wer Teil eines Agentenaustauschs war, ist geschützt vor Attacken der anderen Seite. Ich sehe vier Möglichkeiten. Entweder der Kreml hat beschlossen, dieses Protokoll bewusst zu missachten, was ich für unwahrscheinlich halte. Oder innerhalb des russischen Geheimdienstes hat jemand auf eigene Faust gehandelt. Oder es war ein anderer Geheimdienst. Oder Skripal selbst hat das Protokoll missachtet und war wieder geheimdienstlich tätig“ (7).
Genauso nahe liegend wie Russland als erster Verdächtiger erscheint, so widersinnig erscheint die These aus einer anderen Perspektive: Warum sollte die russische Regierung nur wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl, bei der laut Umfragen Putin quasi uneinholbar vorne steht, einen Mordauftrag in Großbritannien ausführen lassen?
Warum nur wenige Monate vor einem für das Land so wichtigen Ereignis wie die Fußball-WM? Warum mit einem Nervengas, das angeblich eindeutig Russland als Schuldigen ausmacht? Warum führt das Nervengas nicht zum sofortigen Tod? Warum ist „Nowitschok“, das seit 1970 unter der Prämisse entwickelt wurde, von NATO-Ländern nicht identifizierbar zu sein, innerhalb von drei Tagen von britischen Wissenschaftlern identifiziert worden?
Das Nervengas
Die Tagesschau erklärt sehr prägnant die Hintergründe zu dem angeblich benutzten Nervengas: „Nowitschok“ („Neuling“) wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Sowjetunion als chemischer Kampfstoff entwickelt. Es soll rund 100 Varianten geben. Das als feines Pulver eingesetzte Gift besteht vermutlich aus zwei für sich harmlosen Komponenten, die beim Mischen hoch gefährlich werden. Es soll vielfach stärker wirken als herkömmliche militärische Giftgase. Ein beteiligter Wissenschaftler, Wil Mirsajanow, enthüllte 1992 die Existenz des Nowitschok-Programms. Er emigrierte 1994 in die USA“ (8).
Folgt man dieser Darstellung erscheint die Schlussfolgerung zwingend, dass es Russland war (weil nur dieses Land das Nervengas besitzt) oder Nowitschok aus ihrem Bestand verloren gegangen sein muss. Ganz in diesem Sinne argumentiert die Premierministerin Theresa May:
„Entweder war dies eine direkte Handlung des russischen Staates gegen unser Land oder die russische Regierung hat die Kontrolle über ihr Nervengas verloren, das katastrophalen Schaden anrichten kann, und erlaubt, dass es in die Hände anderer gerät“ (9).
Der Ton in der eingangs erwähnten gemeinsamen Erklärung ist nur auf den ersten Blick identisch:
„Der Einsatz eines militärischen Nervenkampfstoffs eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde.“ Die Formulierung macht stutzig. Denn es heißt hier ausdrücklich nicht, dass das im Mordversuch verwendete Nervengas in Russland hergestellt und gelagert wurde, sondern ausschließlich, dass es sich um einen Typ handelt „wie er von Russland entwickelt wurde“.
Der ehemalige britische Botschafter in Usbekistan Craig Murray weist zu Recht darauf hin, dass auch in allen Verlautbarungen der britischen Regierung stets genau diese Formulierung verwendet wird, wenn sie die Herkunft des verwendeten Nervengases genauer bestimmt (10).
Das Prozedere
Das von der britischen Regierung gewählte Prozedere zur Aufklärung des Mordversuches ist merkwürdig. Da es sich hier um den Einsatz einer Chemiewaffe handelt, müsste Großbritannien eigentlich ein Verfahren bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) einreichen. Daraufhin müsste die OPCW Russland innerhalb von 24 Stunden um Aufklärung bitten, für die dem Land zehn Tage gewährt werden (12).
Zwar hat London die OPCW am 8. März informiert und Russland aufgefordert, dem OPCW „eine vollständige und komplette Offenlegung“ zu geben (13). Aber London hat kein Verfahren beim OPCW eingeleitet. Jens Berger hat in einem detaillierten Artikel diesen besonderen Aspekt herausgearbeitet:
„Großbritannien hat also entgegen des klar festgelegten Verfahrensablaufs der Chemiewaffenkonvention die Phasen der Klarstellung und Feststellung übersprungen und geht gleich zu einem Verfahrensschritt über, der im Maßnahmenkatalog eigentlich erst viel später auftaucht“ (14).
Stattdessen hat Großbritannien den UN-Sicherheitsrat angerufen (15).
Interessanterweise besteht Russland wiederum genau auf der Einhaltung des Verfahrens. Daher erklärte der russische Botschafter bei der OPCW:
„Unsere britischen Kollegen sollten sich daran erinnern, dass Russland und das Vereinigte Königreich Mitglieder der OPCW sind, das einer der erfolgreichsten und wirksamsten Mechanismen zur Abrüstung und Nicht-Weiterverbreitung darstellt. Wir rufen sie auf, die Ultimaten und Drohungen zu unterlassen und zum rechtlichen Rahmen der Chemiewaffenkonvention zurückzukehren, der es ermöglicht, diese Art von Situation zu lösen. Wenn London ernsthafte Gründe für den Verdacht hat, Russland würde die CWC (Chemical Weapons Convention) verletzen – und die Erklärung des angesehenen Botschafters Peter Wilson zeigt, dass dem so ist –, empfehlen wir, dass Großbritannien sofort das Verfahren nach Absatz 2 von Artikel 9 der CWC in Anspruch nimmt. Dieses ermöglicht, uns auf einer bilateralen Grundlage offiziell zu kontaktieren, um Fragen, Zweifel oder Bedenken jeglicher Art auszuräumen“ (16).
Darüber hinaus formuliert der russische Botschafter zwei Forderungen, die nachvollziehbar erscheinen:
„Eine faire Warnung: Wir benötigen substanzielle Beweise für die angebliche russische Spur in diesem bedeutenden Fall. Großbritanniens Behauptungen, sie hätten alles, und ihre weltberühmten Wissenschaftler hätten unwiderlegbare Informationen, die sie uns aber nicht geben werden, werden nicht akzeptiert. (…) Darüber hinaus wäre es in diesem speziellen Fall legitim für die britische Seite, Hilfe vom Technischen Sekretariat der OPCW zu ersuchen, um die Analyse der verfügbaren Proben, die angeblich Spuren einer Chemiewaffe in Salisbury aufweisen, in einem unabhängigen Labor durchführen zu lassen.“
Die britische Regierung hat nun bei der OPCW angefragt, eine unabhängige Untersuchung des benutzten Nervengases durchzuführen. Am 19. März – also mehr als zwei Wochen nach dem Mordversuch – wird die Ankunft der Wissenschaftler in London erwartet (17).
Sowjetunion ist nicht Russland
Hamish de Bretton-Gordon, ein britischer Chemiewaffenexperte erklärte, Nowitschok sei in Schichany, Zentral-Russland, entwickelt und produziert worden. Ihm zufolge findet sich diese Informationen in einem Bericht, den Russland vor einigen Jahren der OPCW vorlegte (18).
Wie die US-amerikanische Beraterin für Geopolitik Stephanie Fitzpatrick in der New York Times schrieb, wurde Nowitschok bis 1993 in Nukus, Usbekistan, getestet, ohne Wissen der dortigen Regierung und unter Missachtung der von Moskau unterzeichneten Chemiewaffenverträge. Dann zogen die letzten russischen Wissenschaftler dort ab (19).
Zwischen 1998 und 2003 wurde die Anlage in Nukus unter Aufsicht der USA, die von der usbekischen Regierung um Hilfe gebeten worden waren, abgebaut und dekontaminiert. Offiziell wurde dem US-Senat der vollständige Abbau der Anlage gemeldet (20).
Auch Craig Murray, zum damaligen Zeitpunkt britischer Botschafter in Usbekistan, bestätigt dies:
„Ich habe die Chemiewaffenanlage von Nukus selber besucht. Sie wurde von der US-Regierung abgebaut, dekontaminiert und die Bestände zerstört sowie das Equipment weggebracht. Ich erinnere mich an die Beendigung, als ich dort als Botschafter tätig war“ (21).
Murray geht noch einen Schritt weiter und betont, es gebe keinen Beweis dafür, dass Nowitschok in Russland existiert habe. Dem widerspricht die Aussage von Hamish de Bretton-Gordon.
Hamish de Bretton-Gordon bestreitet, dass Nowitschok jemals in Nukus hergestellt wurde. Wil Mirsajanov, der jedoch deutlich näher am tatsächlichen Geschehen war, erklärt, dass in Nukus zwischen 1986 und 1989 Nowitschok getestet wurde (22).
Wenn Nowitschok tatsächlich in Nukus existiert hat, heißt das konkret, dass die USA theoretisch von der Produktion von Nowitschuk gewusst haben könnten. Es würde schon sehr erstaunen, dass sich die USA die Gelegenheit entgehen ließen, Samples aktueller russischer Geheimforschung an Chemischen Waffen mitzunehmen.
Es ist äußerst überraschend und angesichts der glasklaren Verdächtigung seitens Großbritanniens schlicht erstaunlich, dass sich nicht einmal mit absoluter Sicherheit sagen lässt, an welchem Ort der ehemaligen UdSSR zuletzt an Nowitschok geforscht wurde. Klärung können hier nur die Dokumente der OPCW bringen.
Russland hat offiziell keine Chemiewaffen mehr
Während die USA die vollständige Vernichtung ihrer Chemiewaffen für 2023 geplant haben, hat Russland die Zerstörung ihrer 40.000 Tonnen chemischer Waffen bereits im Oktober 2017 abgeschlossen. Dies wurde offiziell in einer Feier der OPCW bekannt gegeben (23).
Die Inspekteure der OPCW hatten somit Zugang zu allen Laboratorien für chemische Kampfstoffe und haben die Zerstörung überwacht. Also auch in der angeblich von der OPCW erwähnten Anlage in Schichany. Wohlgemerkt gehört auch Großbritannien der OPCW an und man darf annehmen, dass auch britische Inspekteure bei der Kontrolle in Russland vor Ort waren.
Der britische Botschafter bei der OPCW Peter Wilson gratulierte noch im November 2017 persönlich dem Direktor für die erfolgreiche, überwachte Vernichtung des gemeldeten russischen Chemiewaffenarsenals. Kein Wort der Kritik, dass Russland noch Chemiewaffen versteckt haben könnte (24).
Also alles gut? Nein, die Begeisterung im November letzten Jahres hinderte Wilson nicht daran, vor wenigen Tagen zu behaupten, Russland habe jahrelang nicht sein vollständiges Arsenal an Chemiewaffen offengelegt (25).
Die verworrene Geschichte des Nowitschuks
Die Geschichte des angeblich verwendeten Nervengases ist kompliziert, was die Selbstverständlichkeit schwer nachvollziehbar macht, mit der London auf Moskau als Strippenzieher zeigt. Ein Beratergremium der OPCW machte im Jahr 2013 eine für den Fall Skripal bedeutsame Erklärung:
„Das Beratergremium SAB hat keine ausreichenden Informationen, um die Existenz oder die Besitztümer von ‚Nowitschok‘ zu kommentieren“ (26).
Das Problem: Es gebe einfach zu wenig verlässliche Informationen (27).
Existiert Nowitschuk überhaupt?
Im Jahr 2016 kam niemand anderes als Robin Black, der Leiter des Detection Laboratory, der einzigen britischen Chemiewaffenforschungseinrichtung in Porton Down, zu einem noch bemerkenswerteren Ergebnis: Es stehe nicht sicher fest, ob es Nowitschok wirklich gibt. Die einzige schriftliche Quelle hierfür sei Mirsayanovs zehn Jahre altes Buch (28).
Die Einschätzung Blacks ist umso wichtiger, weil die Inspekteure der OPCW zu diesem Zeitpunkt Zugang zu allen russischen Laboratorien für chemische Kampfstoffe hatten und dennoch Nowitschok nicht in die offizielle Liste der Chemiewaffen aufgenommen haben. Daher kann man daraus nur schlussfolgern, dass nach Kenntnisstand der OPCW den Russen die vermutlich angestrebte Synthese eben nicht gelungen ist. Die Medien haben darüber jedoch bis heute nicht berichtet.
Existiert ein Sample?
Eine kleine Frage sei zwischendurch erlaubt. Wenn die britischen Wissenschaftler innerhalb von drei Tagen das verwendete Nervengas als ein Nowitschuk identifizieren konnten, das angeblich nur in Russland produziert werden kann (obwohl interessanterweise diese deutlichen Worte so nie benutzt werden), stellt sich die Frage: Wie konnten sie das eigentlich schaffen?
Denn wie will man einen chemischen Kampfstoff einwandfrei identifizieren, dessen man noch nie zuvor habhaft werden konnte? Womit will man das gefundene Nervengas vergleichen, um es einwandfrei identifizieren zu können, wenn man kein Vergleichssample besitzt? Und man darf davon ausgehen, dass die Briten kein Vergleichsample haben, denn ansonsten wären sie ja selbst in der Lage, es zu produzieren.
Oder wie kämen sie in dessen Besitz, wenn es nur in Russland produziert wurde und noch nie zum Einsatz kam? Großbritannien hätte in diesem Fall auch internationales Recht gebrochen, weil sie die Existenz des Nowitschok nicht der OPCW gemeldet hätten.
Die entscheidende Frage aber: Wieso stellt kein Journalist der britischen Regierung diese Fragen? Und weshalb verlangen nicht die deutsche, französische und US-amerikanische Regierung diese Informationen, bevor sie eine gemeinsame Erklärung formulieren?
Eine Bombe
Am 16. März veröffentliche Craig Murray eine Bombe. Er erhielt von einer höher gestellten Persönlichkeit die Information, dass die Wissenschaftler von Porton Down, der einzigen britischen Chemiewaffenfabrik, nicht in der Lage waren, das im Mordversuch verwendete Nervengas als eindeutig in Russland produziert zu identifizieren. Daher weigerten sie sich trotz politischen Drucks, dies offiziell zu bestätigen, sodass man sich auf die Wendung einigte: „ein Typ, der in Russland entwickelt wurde“ (29).
Niemand widerlegt Craig Murray
Nach den zwei, drei extrem wichtigen Blogeinträgen von Craig Murray, die zu 300.000 Lesern, 12.500 Tweets und 8 Millionen Reaktionen führte, bemerkte Murray vielsagend: Kein Journalist hatte ihn öffentlich der Lüge und Falschdarstellung bezichtigt und vorgeführt. Der Verdacht liegt tatsächlich nahe, dass kein Journalist Material an der Hand hat, die bahn brechenden Vorwürfe Murrays zu entkräften.
Daher kann man ihm auch nur zustimmen: Es ist ein Skandal, dass kein Journalist die britische Regierung darauf aufmerksam macht, dass sie stets nur die Redewendung „Typ, der in Russland entwickelt wurde“ benutzt und nie nachfragt:
„Können Sie bestätigen, dass das im Mordversuch verwendete Nervengas tatsächlich in Russland produziert wurde?“
Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Aber es passiert nicht (30).
Iran kann es!
Der nächste Akt im Fall Skripal ist die Tatsache, dass es dem Iran bereits 2016 gelungen ist, Nowitschok aus kommerziell erwerblichen Stoffen herzustellen. Der Iran tat dies in Kooperation mit der OPCW. Das Land meldete auch umgehend den Erfolg und die OPCW nahm Nowitschuk auf die Liste chemischer Kampfstoffe (31). Damit fällt jedoch das entscheidende Schlüsselargument endgültig in sich zusammen, dass das verwendete Nervengas nur in Russland hergestellt werden kann.
Spätestens jetzt sollte Jeder, dem auch nur ansatzweise an einem friedlichen Miteinander auf diesem Planeten gelegen ist, auf einer unabhängigen Untersuchung bestehen. Plumpe unbewiesene Schuldzuweisungen helfen niemandem.
Die britische Regierung verteidigt sich
Schließlich ließ die britische Regierung die Darstellungen von Craig Murray nicht auf sich sitzen und veröffentlichte gestern, am 18. März, eine Darstellung:
„Wir haben keine Ahnung, worauf Craig Murray sich bezieht.“
Dann eine überraschende Feststellung:
„Es ist klar, dass es sich um ein Nervengas handelt, das in Russland entwickelt wurde.“
Der Aufwand ist erstaunlich, hatte Murray doch darauf hingewiesen, dass die britische Regierung genau diese Formulierung immer benutzt, jedoch nie davon spricht, das Nervengas sei in Russland produziert worden. Was genau soll also die britische Veröffentlichung belegen und beweisen (32)?
Boris Johnson greift an
Wenige Stunden nach dieser unbeholfenen Darstellung pfeift Boris Johnson zum Angriff und überbietet bei weitem alle bisherigen Anschuldigungen gegen Russland:
„Tatsächlich haben wir (eine) Information(en), die darauf hinweisen, dass Russland innerhalb der letzten zehn Jahren die Anlieferung von Nervengas zum Zweck von Attentaten erkundet hat. Und ein Teil dieses Programms beinhaltete auch, Mengen von Nowtischok zu kreieren und zu lagern“ (33).
Zum ersten Mal spricht damit ein Mitglied der britischen Regierung explizit den Vorwurf aus, das Nervengas sei in Russland produziert worden. Wie Johnson an einem Sonntag innerhalb weniger Stunden seine Meinung ändern konnte, wird vermutlich ein Geheimnis bleiben.
Ein Geheimnis, das sich vielleicht dadurch erklärt, dass er seine Sprache sehr geschickt wählt. Er spricht eben genau nicht von Beweisen, sondern von Information(en) (im Englischen ist der Singular vom Plural nicht zu unterscheiden).
Er spricht von „innerhalb“ der letzten zehn Jahre. Das kann sowohl heißen, das gesamte Jahrzehnt oder einen Tag lang vor zehn Jahren. Erstaunlich also, wie vage er formuliert, obwohl er die Stufe der Anschuldigungen noch einmal deutlich erhöht und die Spannung zwischen beiden Ländern noch weiter anwachsen lässt.
Überraschend auch, dass er solch einen radikalen Richtungswechsel in den Äußerungen zum Mordversuch an einem Sonntag macht. Wie Craig Murray aus eigener Erfahrung erklärt, müssen solche Offenlegung von geheimen Informationen mit verschiedenen Geheimdienststellen abgesprochen sein. Daher muss deren Zustimmung höchstwahrscheinlich bereits am Freitag erfolgt sein. Warum also informiert die britische Regierung dann nicht das Unterhaus und die OPCW hiervon, sondern schickt den Außenminister am Wochenende ins Fernsehen?
Einmal mehr kann man nur hoffen, dass die britische Regierung ihren extremen Anschuldigungen auch wirklich Taten folgt lässt, indem sie nicht nur von Beweisen spricht, sondern diese tatsächlich präsentiert und einer wirklich unabhängigen Untersuchung zur Verfügung stellt.
Heute, am 19. März, werden nach Johnsons Aussage die Forscher der OPCW erwartet, um die Samples des beim Mordversuch verwendeten Nervengases zu untersuchen (34). Man darf sehr gespannt sein. Die Frage, wie Russland in den letzten zehn Jahren Nowitschuk entwickeln und lagern konnte, wenn sie zeitgleich bis Oktober 2017 von internationalen Inspekteuren der OPCW überwacht wurden, bleibt ein Geheimnis.
Insbesondere wenn man bedenkt, dass Nowitschok offenbar so kompliziert zu synthetisieren ist, dass man hierfür vermutlich eine geeignete Chemiewaffenanlage benötigt. Diese wurden aber mit Sicherheit von der OPCW genauestens überwacht. Des Weiteren wäre interessant zu erfahren, weshalb sich die Experten zwei Wochen zur Analyse auserbeten, während die Briten bereits nach drei Tagen mit ihrem Ergebnis offiziell Russland verdächtigt haben (35).
Ansonsten Anthrax
Leider viel zu schnell ist der Anthrax-Fall in den USA nach dem 11. September in allgemeine Vergessenheit geraten. Fünf Menschen kamen ums Leben und 17 wurden verletzt. Zuerst galten Al-Qaida als eindeutiger Verdächtiger, dann der Irak.
Das FBI leitete die größte Untersuchung in seiner Geschichte ein. Schließlich viel der Verdacht auf einen US-Amerikaner, auf einen US-amerikanischen Mikrobiologen, der schließlich Selbstmord beging. Später reichte niemand anderes als der Leiter der FBI-Untersuchung zwischen 2002 und 2006 Klage gegen einige Mitarbeiter des US-Justizministeriums und des FBI ein. Bis heute sind die Anthrax-Morde, die so eindeutig erschienen, noch immer nicht geklärt (36).
Ein kleine Satire
Craig Murray versucht es unterdessen mit Humor:
„Genosse Putin, wir haben erfolgreich im Geheimen in den letzten zehn Jahren Nowitschok gelagert und vor den Inspektoren der OPCW versteckt. Wir haben unsere Agenten in geheimen Tötungstechniken durch Nowitschok trainiert. Das Programm hat mehrere Hundert Millionen Dollar gekostet, aber nun sind wir bereit. Natürlich wird, wenn wir es zum ersten Mal benutzen, unser Geheimnis enthüllt sein und wir massiven internationalen Blowback erleiden. Also wer soll unser erstes Opfer sein? Der Chef eines fremden ausländischen Geheimdienstes? Ein führender Jihadist in Syrien? Ein wichtiger Nuklearforscher? Oder sogar der Chef eines Landes? Nein. Es gibt da einen alten Mann in Rente, der in Salisbury lebt, wie ich weiß. Wir haben ihn vor Jahren aus dem Gefängnis entlassen…“ (37).
# Aber wer war es denn jetzt?
Heißt das, dass Russland nicht für den Mordversuch an Sergej Skripal zuständig ist? Nein, selbstverständlich lässt sich diese Möglichkeit nicht zweifelsfrei ausschließen. Aber genauso wenig lässt sich zweifelsfrei urteilen, dass die russische Regierung dafür verantwortlich ist.
In einem Rechtsstaat müssen glücklicherweise die Ankläger ihre Anschuldigungen beweisen. Der Angeklagte nicht seine Unschuld. Damit die Parallelen dieses Vorfalls nicht weiter den massiven Vorwürfen gegen Saddam Hussein entsprechen, hilft nur eins:
Medien, die nach Beweisen verlangen, keine Vorverurteilung vornehmen, sondern auch gegenüber Russland das Recht der Unschuldsvermutung gelten lassen, auf das jeder Rechtsstaat aus gutem Grunde stolz ist und – last but not least –, Medien, die die wirklich wichtigen Fragen stellen. Fangen wir vorne an: „Können Sie bestätigen, dass das im Mordversuch verwendete Nervengas tatsächlich in Russland produziert wurde?“
Entscheidend ist jedoch eine wirklich unabhängige Untersuchung, die die Beweise offenlegt und die zentralen Fragen beantwortet.
Bei all den aktuellen diplomatischen Muskelspielen, die zunehmend beunruhigende Dimensionen annehmen, sollte man zudem einen zentralen Gedanken nicht vergessen: Die Hoffnung auf die Genesung der Opfer.
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Dieser Beitrag erschien am 20.3.2018 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.
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