Clash der Konspirationen | Von Mathias Bröckers

Verschwörungstheoretische Anmerkungen zum 6.1.2021

Ein Kommentar von Mathias Bröckers.

Ich habe mich in den Tagen nach dem 6. Januar darüber gewundert, wie viele liberal oder links denkende Menschen nach den Protesten im US-Capitol von “Sturm”, “Putsch” oder “Aufstand” reden oder das Gerede darüber widerspruchslos hinnehmen. Und es für vollkommen normal halten,

  • dass eine kleine Gruppe aus der Menge der laut Polizei 45.000 – laut Veranstaltern noch deutlich mehr – friedlichen Demonstranten einfach so ins das Parlamentsgebäude spazieren kann, während dort nahezu sämtliche Abgeordnete und Senatoren zur wichtigsten Abstimmung des Jahres versammelt sind;

  • dass es üblich ist, dort zwecks “Security” außer ein paar Laufgittern nur eine Handvoll Polizisten mit Basecaps aufzustellen, vor allem, wenn man weiß, dass ganz in der Nähe ein lange angekündigter Massenprotest gegen diese Abstimmung stattfindet, an dem auch bekannte Extremisten teilnehmen, die zum Sturm auf das Parlament aufgerufen hatten;

  • dass diese aber dann ohne Weiteres, ohne Gewaltanwendung und nur mit Gebrüll durch den Haupteingang ins Gebäude kamen – später auch noch seitlich durch eine eingeschlagene Fensterscheibe – und ein Büffelhorn-Schamane und seine Horde mit den Wachmännern sprachen, “Selfies” machten und gemütlich einen Joint rauchten.

Dieses auf etlichen Videos dokumentierte Theater dann “Sturm”, “Putsch”, “Aufstand” oder “Terrorismus” zu nennen, ist mindestens so bizarr wie diese Show selbst. Wenn Trump persönlich sie direkt angestachelt hat, wie ihm vorgeworfen wird, dann ist der Schuss übler nach hinten losgegangen als sämtliche Knallkörper seiner Amtszeit. Nicht nur er, auch seine 75 Millionen Wähler sind damit unten durch.

Und das nicht nur als wütende “Anti-Demokraten”, denn, so Joe Biden: “Das waren keine Proteste. Es war ein gewalttätiger Mob. Aufständische. Heimische Terroristen. So einfach ist das.” Wirklich? Wie Diane Johnstone sehe ich das ein wenig anders:

Was am 6. Januar geschah, war kein Aufstand. Jeder, der wissen will, was ein Aufstand ist, sollte den von den USA gesponserten bewaffneten Aufstand nachschlagen, der den ordnungsgemäß gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 stürzte. Der Aufruhr im Kapitol war eher mit dem vergleichbar, was passierte, als von den USA trainierte ‚Otpor‘-Militante in das serbische Parlament einbrachen, mitten in die Präsidentschaftswahlen des Landes im Jahr 2000 und die Wahlurnen in Brand setzten.
Oder schauen Sie sich einen besonders relevanten Aufstand an, als wirklich gewalttätige Demonstranten 2014 das ukrainische Parlament übernahmen und die Regierung stürzten, ein Ereignis, das der damalige US-Vizepräsident Joe Biden als großen Sieg für die Demokratie bejubelte.
Dann gab es den von Hillary unterstützten Putsch in Honduras, den fast erfolgreichen Versuch, die Demokratie in Bolivien zu stürzen, die von den USA unterstützte Guaido-Farce in Venezuela, usw.

Der chaotische Zirkus, den diese Horde aus Hooligans und Clowns im Parlamentsgebäude für ein paar Stunden veranstalten durfte, kann mit solchen Ereignissen nicht auf eine Stufe gestellt werden.

Nicht nur, weil er gleich schon wieder beendet war und nur eine mit einem Trump-T-Shirt bewaffnete und von der Polizei per Genickschuss getötete “Verschwörungstheoretikerin” und offenbar sechs weitere Menschen ums Leben kam (bei den Unruhen im Sommer gab es mehr als 20 Tote zu beklagen), verbietet sich der Vergleich mit einem gewaltsamen Putsch.

Es war aggressive Randale eines von Fake News (und vermutlich auch von Agents Provocateurs) irregeleiteten Mobs, ein planloses Protesttheater, von dem keine Sekunde die Gefahr ausging, dass der Büffelhorn-Schamane Trump zum Diktator ausruft.

Hätten die Massen der friedlich Demonstrierenden begonnen, das Parlament zu belagern, mit Zelten eine “autonome Zone” zu errichten und zwecks Verteidigung bewaffnete Milizen aus dem Süden oder aus Montana anzufordern, um sich einen Showdown mit der Nationalgarde zu liefern, wären Vokabeln wie “Putsch”, “Aufstand” oder “Angriff auf die Demokratie” vielleicht gerechtfertigt. Wahrscheinlich hätte dann der russische Botschafter auch Plätzchen an die Belagerer verteilt.

So aber war der Spuk am Nachmittag vorbei, die vorgesehenen Abstimmungen fanden statt, die Abwahl Trumps wurde bestätigt und tags darauf holte der künftige Präsident unter anderem Victoria “Fuck the EU” Nuland in sein Team, die schon in der Ukraine die “Demokratie” mit Keksen gestärkt hatte.

Die Tech-Oligarchen stellten auch im Internet die Demokratie wieder her, indem sie dem amtierenden Präsidenten einfach sein Megaphon wegnahmen: auf Twitter, Facebook und allen anderen Plattformen wurde Donald Trump der Saft abgedreht. Sein letzter Tweet war, dass er an der Inauguration seines Nachfolgers nicht teilnehmen wird.

Dies müsse – so begründet Twitter die Abschaltung – im Zusammenhang “mit weiteren Ereignissen gesehen werden”, in denen die Aussagen des Präsidenten zum “Anstacheln von Gewalt” benutzt worden oder von seinem Publikum so “interpretiert” worden wären.

Zwar fällt es schwer, einen narzisstischen Clown wie Trump als Märtyrer zu porträtieren, doch was hier geschehen ist, verdient festgehalten zu werden, für die Geschichtsbücher: der vermeintlich mächtigste Mann der Welt, der Commander in Chief der globalen Supermacht USA, wird von einer höheren Macht radikal von der Kommunikation abgeschnitten. Mit der Begründung, dass seine Absage der Krönungsfeierlichkeiten, die Joe Biden übrigens als “gute Sache” begrüßt hat, möglicherweise falsch “interpretiert” und zu Hass und Gewalt führen könnte.

Die Entscheidung, was Trump seinen 75 Millionen Followern und Wählern mitteilen darf und wie es interpretiert werden kann, wurde nicht von einem Gericht getroffen, sondern von einer Handvoll Tech-Oligarchen, denen die wichtigsten Kommunikationswerkzeuge des 21. Jahrhunderts gehören. Weil es private Unternehmen sind, kann hier de jure nicht von staatlicher Zensur gesprochen werden, de facto aber ist es nichts anderes: wenn Medien und Kanäle privatisiert und monopolisiert sind, stehen sie über dem Staat und über den Gesetzen.

Die verfassungsgemäße Freiheit der Rede ist freilich weiter gewährleistet: Jede/r – auch ein Präsident Trump – kann seine Meinung weiterhin frei äußern. Ob sie aber noch von irgendwem gehört wird, entscheidet Big-Tech.
Dass viele die Verbannung Trumps als längst überfällig betrachten und sogar begrüßen, mag angesichts der Twitter-Diarrhöe dieses Präsidenten auf den ersten Blick nachvollziehbar sein, auf den zweiten Blick aber ist das Geschehene erschreckend. Denn als was sind Trumps Aussagen über den Wahlbetrug, die viele seiner Anhänger teilen, nunmehr klassifiziert? Nicht als Meinung, Protest oder Kritik, sondern als “domestic terrorism”.

Und der designierte Präsident sprach das Meme der Stunde denn auch sofort fehlerfrei vom Teleprompter ab.

Schon im November hatte Joe Biden angekündigt, dass er als ersten Akt im Weißen Haus ein Gesetz gegen einheimischen Terrorismus erlassen will. Willkommen zum neuen “Patriot Act 2”.

Wie nach 9/11 unter George W. Bush heißt es nach dem “Überraschungsangriff” auf das Kapitol auch jetzt wieder: Entweder mit uns oder mit den Terroristen. Zwar handelt es sich nicht um schwerbewaffnete Islamisten aus afghanischen Höhlen, sondern um aufgebrachte Trump-Fans, meist mit Fahnen und Parolen, aber haben sie nicht im “Sturm” das “Herz der Demokratie” angegriffen und ihre brutale faschistische Fratze gezeigt? Aus Hass und Verachtung unserer “Freiheit” und “Werte”? Da muss man doch etwas tun, das muss doch bekämpft werden!

Willkommen im neuen Blockbuster Great War On Domestic Terror (GWODT). Erleben Sie wie “Surveillance Joe” Biden und die glorreichen Sieben des Silicon Valley dem Terror der rassistischen Trump-Nazi-Putin-Bande und ihren 75 Millionen Anhängern ein Ende machen.

Das unzivilisierte Schauspiel, das wir hier erleben, ist ein Clash der Konspirationen. Da ist zum einen die seit vier Jahren von allen Großmedien kolportierte Verschwörungstheorie “Russiagate”, nach der Donald Trump mit Hilfe “der Russen” durch Wahlbetrug ins Weiße Haus gekommen ist und es nicht mehr lange dauern kann, bis er (bzw. “Putin”) hitlerartig die Macht ergreift und ein autoritäres Regime errichtet.

Leser der New York Times oder Zuschauer von CNN und MSNBC konnten nicht anders als dieser völlig haltlosen Geschichte zumindest ein wenig Glauben zu schenken, da sie ihnen vier Jahre lang nahezu täglich eingetrichtert wurde. Insofern hatte Trump recht, wenn er nahezu täglich die “Fake News” des Mainstreams geißelte, genau wie seine Anhänger, die das Vertrauen in diese Medien verloren haben.

Sie stehen auf der anderen Seite dieses “Clash of Conspiracies” und hängen seit vier Jahren dem Mythos an, dass Trump das korrupte politische System reinigen wird, aber daran gehindert wird den “Sumpf” in Washington auszutrocknen und Amerika wieder groß zu machen vom “deep state” bzw. einer Bande von “Kommunisten” und “Päderasten”, die ihm jetzt auch die Wahl gestohlen haben.

Für einen solchen Betrug liegt bis heute kein gerichtsfester Beweis vor und wird vermutlich auch nicht mehr kommen, genauso wenig wie ein Beweis für die Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug 2016. Was aber, wie an “Russiagate” zu sehen war, die Geschichte nicht am Fortleben hindern wird, woran das komplette Löschen von Trump und seiner “MAGA”-Bewegung auf Twitter & Co. nichts ändern wird.

Im Gegenteil. Denn das ist die seltsame Schleife von Verschwörungstheorien: Kritik an ihnen gilt automatisch als weiterer Beweis für die Realität der unterstellten Verschwörung. Wer die Behauptung einer “russische Beeinflussung” der Wahl 2016 nicht ernst nahm, fiel automatisch unter den Verdacht, ein Putin-gesteuerter Trump-Fan zu sein und ein weiterer Beleg, wie tief dieser ultraböse Einfluss schon vorgedrungen war.

Dieses Immunsystem teilen moderne Verschwörungstheorien mit ihrem historischen Vorgänger, der Dämonologie des Mittelalters: Wer die Anwesenheit des Teufels bestreitet, ist selber von ihm besessen. Das gilt auch für die Verschwörungstheorie, dass es bei der Wahl 2020 nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte und – wie Trumps Anwälte behaupten – via Software aus “fremden Länder” zugunsten Bidens manipuliert worden ist. Dass diese Behauptung jetzt der neuen Inquisition durch Big Tech zum Opfer gefallen ist, macht sie nur stärker, zeigt sie doch den “Feind”, den korrupten Sumpf des “deep state”, in Aktion und belegt, dass es sich nicht um ein Phantom handelt. Und wer das bestreitet, ist eben selbst Teil des korrupten Systems.

Wie kommt ein tief gespaltenes Land aus dieser von Verschwörungsgeschichten genährten unversöhnlichen Gemengelage heraus? Den heiligen Tempel der Demokratiesimulation, das Kapitol, mit 25.000 Soldaten der Nationalgarde zu sichern, die zur Inauguration am 20. Januar jeden Winkel von Washington besetzen mag angesichts der aufgeheizten Lage zwar angeraten sein, ist aber keine Lösung.

Genauso wenig wie die Zensur- und Löschaktionen der Tech-Oligarchen oder die unvermeidlichen “Faktenchecker”, die nur die “Fake News” von Trump aufs Korn nehmen und die seiner Gegner als Wahrheit durchgehen lassen.

Vernunft könnte in diesen von Emotionalität und Irrationalität geprägten Konflikt einziehen, wenn die Verschwörungsscheuklappen auf beiden Seiten entfernt werden und der Scheinwerfer der Aufklärung auf die Grauzone von Indizien, Vermutungen und Hypothesen gerichtet wird.

Etwa von einer wirklich unabhängigen, international besetzten Kommission, die die Wahlergebnisse 2016 und 2020 noch einmal akribisch untersucht und Reformen für ein betrugssicheres Wahlsystem in Gang setzt. Sowie für einen unabhängigen und überparteilichen Medienkanal, der ausgewogen über das “Einparteien-System mit zwei rechten Flügeln” (Gore Vidal) berichtet und nicht mehr Klickzahlen und Profite damit generiert, die andere Seite als Großverschwörung zu diffamieren.

Wenn der Clash am Capitol nicht zu einem Crash der Gesellschaft und bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen soll, muss Vertrauen in die Politik und in die Medien wiederhergestellt werden. Das wird nur mit solchen “vertrauensbildenden” Maßnahmen gehen, nicht aber mit Zensur und irrsinnigen Gesetzen gegen “heimischen Terrorismus”, der ohnehin schon verboten ist.

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Mathias Bröckers veröffentlichte zuletzt „Don’t Kill The Messenger – Freiheit für Julian Assange“ im Westendverlag. Er bloggt auf broeckers.com

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Danke an den Autoren für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:  archna nautiyal / shutterstock

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