Das stille Sterben | Von Emilie Frigowitsch (Podcast)

Die psychische Belastung älterer Menschen nimmt während des Lockdowns zu.

Ein Standpunkt von Emilie Frigowitsch.

„Bald wird jeder jemanden kennen, der infolge der Maßnahmen verstorben ist oder in einen desolaten Krankheitszustand kam.“

Verbot des wichtigsten Mittels gegen Suizide

Berufsbedingt ist die Autorin als Psychiaterin Krisensituationen mit Menschen in Ausnahmezuständen gewohnt. Das heilsamste Medikament, welches uns die Natur für solch existenzielle Not zur Verfügung stellt, ist die Kraft menschlicher Nähe und natürlicher authentischer Begegnung. Wird die Seele durch einen anderen Menschen berührt, kommt ein überaktiviertes Stresshormonsystem zur Ruhe, unser Bindungshormon, Oxytocin, wird ausgeschüttet. Das Phänomen, dass sich Körperreaktionen sogar komatöser Patienten verändern, wenn eine vertraute Stimme in der Nähe ist, ist bezeichnend.

Menschliche Beziehung ist das stärkste Mittel gegen Suizidabsichten und hat deshalb in Krisenbehandlungen einen hohen Stellenwert. Ein Gespräch mit jemandem, der offen und authentisch zuhört und dessen Gesicht und mimische Widerspiegelung man sehen kann, lindert zahlreiche Beschwerden. Es beruhigt nicht nur Nervosität, schenkt Verbundenheit und Zuversicht, sondern kann auch erhöhten Blutdruck reduzieren und Magenschmerzen verschwinden lassen. Nach zehn Arbeitsjahren im psychiatrischen Bereich ist mir kein wirksameres Mittel bekannt als menschliche Nähe.

Umso erstaunlicher ist, dass gesundheitliche Schäden durch Isolation, Kontaktbeschränkungen und Gesicht-Unkenntlichmachung nicht thematisiert werden. Führen sie doch aller Annahme nach zu einer hohen Dunkelziffer von Krankheiten und verfrühten Todesfällen.

Jeder, der einmal ein paar Tage krank im Bett lag, weiß um die Kraftquelle einer versorgenden Bezugsperson in der Nähe. Wie viele an Covid-19 erkrankte Menschen ihren Lebenssinn auf den Intensivstationen verloren haben, weil ihnen der Kontakt zu Angehörigen verwehrt wurde, wird nicht in Zahlen abgebildet. Einsame alte Menschen, verängstigte und verwirrte Kranke sind auf nahe, menschliche Beziehungen angewiesen wie Säuglinge auf eine mütterliche Zuwendung ihrer Bezugsperson. Andernfalls tragen sie Schäden davon — das ist bei Älteren nicht anders.

Die Rate an Traumafolgeerkrankungen und Depressionen infolge Behandlung auf einer Intensivstation war schon vor Corona hoch. Diese Stressfolgen sind mit einer Vielzahl von Folgekrankheiten und verkürzter Lebenserwartung verknüpft.

Es ist ein tabuisiertes Thema, dass die „Maschinenmedizin“, nach Prof. Christian Schubert, zwar Menschen vor dem Tod rettet, diese dafür mit neuen Problemen belädt, wenn die soziale und die psychische Seite ausgeschlossen werden.

Unser System reagiert auf echten körperlich zugefügten Schmerz genauso wie auf seelischen Schmerz, den wir klassisch im Erleben von Einsamkeit und sozialem Ausschluss spüren (1).

Psychische Belastungen werden im Körper direkt in krankmachende Prozesse übersetzt (2, 3, 4).

Der Umfang frühzeitiger Krankheiten und mittel- bis langfristiger Todesfälle infolge der aktuellen Traumatisierung und dem psychischen Stress dürften immens sein. Die Autorin beschränkt sich in diesem Artikel auf das Thema der Selbstmorde im Alter — genau der Personengruppe, der paradoxerweise mit der Begründung, sie so zu schützen, neue Risikofaktoren für Selbstmord auferlegt wurden.

Körperliche und psychische Veränderung durch Isolation

Das Erleben von Einsamkeit ist in der Pandemie deutlich gestiegen (5). Sie beziehungsweise der Wunsch nach sozialem Kontakt aktiviert dieselben Hirnregionen wie Hunger (6). Der emotionale Schmerz durch Isolation wird in denselben Gehirnregionen verarbeitet, wie echter körperlicher Schmerz (7). Soziale Interaktion und menschliche Nähe sind unser Lebenselixier — ohne diese ist kein Überleben und ist keine menschliche Evolution möglich. Sie können durch keinen Roboter und keinen Computer der Künstlichen Intelligenz ersetzt werden, mit der wir gerade umworben werden.

Sozialer Stress wie Isolation bewirkt vielfältige Veränderungen im Körper. So führen die damit zusammenhängenden Veränderungen des Stresshormonsystems zu Störungen der Hormonachse und des Nervensystems, weiterhin zu einer Schwächung des Immunsystems mit erhöhter Infektanfälligkeit (8). Quarantäne etwa führt zu stark negativen Konsequenzen für unsere psychische Gesundheit (9, 10).

Unser körpereigenes Schutzhormon gegen Stress, Oxytocin, reduziert Angst und bewirkt Zuversicht. Ein Gefühl der Verbundenheit und des Wohlbefindens stellt sich als optimaler Gegenspieler zur Angst ein, unser Immunsystem wird gestärkt. Dieses Bindungshormon wird durch Berührung und Beziehungsaufnahme ausgeschüttet. Genau das Bedürfnis nach dieser Bindung wird in Krisensituationen aktiviert. Dies hat Überlebenssinn: Wir suchen instinktiv Schutz bei Bezugspersonen und der Herde. Wird dieses grundlegende menschliche Bedürfnis unterbunden, etwa durch Quarantäne, bei gleichzeitiger Überforderung unserer Bewältigungsstrategien, kommt es zwangsläufig zu Symptomausbildung und Krankheit.

Einsamkeit und Entfremdungserleben zum Beispiel durch Maskentragen und Kontaktbeschränkungen, führen über eine Überaktivierung des Stresshormonsystems zur Schwächung des Immunsystems sowie zu Eingriffen in die Funktion des Gehirns und Störungen des Hormonhaushaltes.

Dies ist assoziiert mit vorzeitigem Erkranken und Versterben unter anderem durch Schlaganfälle oder Herzinfarkte, Magen-Darm-Erkrankungen, Lungenkrankheiten, Autoimmunerkrankungen und Verlust an Lebensqualität durch psychische Folgekrankheiten, allen voran der Depression. Einsamkeit gilt zudem bei älteren Menschen als einer der bedeutsamen Risikofaktoren für den Selbstmord.

Besonders bei zuvor schon vulnerablen Gruppen können diese neuen Belastungen Abwärtsspiralen von Depressivität, Ängstlichkeit, Verzweiflung, Gefühlen von Sinnlosigkeit, Betäubung mit Suchtmitteln, Schamgefühlen, Schulderleben, Kontrollverlust und Ohnmacht auslösen und das Risiko erhöhen, vorzeitig zu versterben. Belastete ziehen sich zurück und schaffen es krankheitsbedingt nicht, aktiv nach Hilfe und Kontakten zu suchen. Erst recht, wenn diese von der Gesellschaft unerwünscht sind und zum Teil mit Empörung oder Unverständnis oder auch Angst der Angehörigen geahndet werden.

Wenn man über ein Thema und eine Belastung schweigt, wird das Problem nicht gelöst.Alarmierende Situation alter Menschen

Ältere Menschen, die durch wochenlange Quarantäne in ihren Pflegeheimzimmern verweilen, menschlichen Kontakt entbehren, deren nonverbale Kommunikation wegen fehlender mimischer Erkennung des maskentragenden Gegenübers erschwert wird, bezahlen den hohen Preis einer ganzen Generation. Diese Irritation in der Beziehungsgestaltung bewirkt einschneidenden Stress für das gesamte Körper-Seele-Geist-System und damit die Gesundheit.

Wenn ältere Menschen nicht mehr gut hören und das Gesicht nicht sehen können, geraten sie leichter in Verwirrtheitszustände und Angst, was wiederum das Risiko vorzeitigen geistigen, psychischen und körperlichen Abbaus erhöht. Wenn nahe Bezugspersonen fehlen, stellt sich ein Gefühl der Desorientierung ein. Sie erleiden das Gefühl von Kontrollverlust, Ausgeliefertsein, Kälte und Sinnlosigkeit, was nicht selten zu Todeswünschen, einem „inneren Aufgeben“ oder aktivem Ausführen von Selbstmord führt.

Isolation ist nicht ohne Grund eine Foltermethode, die bewusst im Militär eingesetzt wird (11). Menschen verkümmern in Einsamkeit. Suizide spielen dabei vermutlich eine unterschätzte Rolle.

Psychiatrisch Tätige wissen, dass diejenigen besonders gefährdet sind, von denen man nichts hört, die im lauten Rummel untergehen. Es sind die, die sich zurückziehen, anderen nicht zur Last fallen wollen und deshalb bedürfnislos erscheinen, nichts einfordern und häufig ganz bescheiden und einsam, unbemerkt ihren Weg in den Tod wählen. Dies könnte man zu einem hohen Teil verhindern, würden gefährdete Menschen Zugang zu einem aktiven sozialen Netz erhalten: zu menschlichen Begegnungen, in denen Nähe, Wärme und ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte wieder möglich sind.

Zu einer wirksamen Suizidprävention gehören zum Beispiel niedrigschwellige Behandlungsangebote. Diese waren aufgrund der Regelungen für viele nicht mehr verfügbar. Auch die Früherkennung von Suizidgefährdung und psychischen Erkrankungen wird in einem „Viruskampf“ kollektiv weggedrückt. Einen weiteren Punkt der Suizidprävention stellt die Entstigmatisierung dar sowie ein gesellschaftliches Klima, in welchem die Suizidproblematik wahr- und ernstgenommen wird. Das Gegenteil ist passiert: Zu Lasten der Schwächsten — den Leidende unter den Maßnahmen — wurden Feindbilder kreiert und damit Tabuisierung und Aggression gefördert.

Öffentliches zu Suiziden

Von jedem Suizid sind nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO mehr als sechs Personen betroffen. Es gibt keine Untersuchung darüber, wie hoch die Sterberate dieser Gruppe ist, die nicht an Covid-19 verstirbt, dafür an den Folgeerscheinungen der Virusbekämpfungsmaßnahmen. Und wie hoch das Leiden der Hinterbliebenen ist.

„ … gerade ältere Menschen, die unter Einsamkeit leiden, werden oft nicht gesehen. Weil ihr soziales Netz meist recht klein ist und während der Pandemie die Kontakte und Begegnungsmöglichkeiten vor Ort extrem eingeschränkt sind. Deshalb ist es so wichtig, dass jeder von uns aufmerksam bleibt und ältere Menschen zum Beispiel in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis nicht vergisst”,schildert Bundesseniorenministerin Franziska Giffey in einer Pressemitteilung das Einsamkeitsempfinden in der Pandemie (12).

Im Jahr 2019 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel von Susanne Donner zur Suizidprävention mit dem Titel „Dem Tod zu nah“, der über diesen verdrängten Schattenbereich berichtet hat (13). Skandalöse Berichterstattung zu Suiziden wird zur Vermeidung einer Nachahmung — der sogenannte Werther-Effekt — vermieden. Auf der anderen Seite bedarf es der Enttabuisierung und konkreten Problembenennung, um eine verfahrene Situation und Gefährdete überhaupt erst zu erkennen, Hilfsstrukturen zu schaffen und Betroffenen wirksame Unterstützung anbieten zu können.

In dem Artikel wurde die Tatsache beschrieben, dass in höherem Alter die Suizidgefahr steigt. Besonders „ Senioren über 70 Jahren“ sind gefährdet, „sich das Leben zu nehmen, besonders Männer. (…) Ab 90 liegt die Rate sogar fünf bis sechs Mal so hoch (wie bei jüngeren). Studien zufolge sind demnach Hochbetagte besonders suizidgefährdet, wenn sie mehrfach erkrankt sind. Dabei ist nicht die Schwere der Erkrankungen entscheidend, sondern wie stark diese als seelisch belastend empfunden werden“ (14).

Hier kommen wir auf den emotionalen Bewertungsprozess zu sprechen. Dieser ist häufig relevanter und handlungsentscheidender als die objektive Krankheitsschwere. Wenn man sich in einer einseitigen mechanistischen Sichtweise, zum Beispiel nur auf Testwerte konzentriert, riskiert man, einen wesentlichen Aspekt zu übersehen: die psychische Verfassung — ob jemand etwa innerlich aufgibt — beeinflusst Erkrankungs- und Gesundungsprozesse in ganz entscheidendem Masse.

Offizielle Zahlen zu psychischer Belastung während der Krise

Studien belegen dramatische Zunahmen negativer psychischer Reaktionen im Zusammenhang mit Isolation wie zum Beispiel Ängstlichkeit, Einsamkeit, Schlaflosigkeit, Wut und erhöhten Stress (15).

Die gravierende Zunahme psychischer Erkrankungen während der Corona-Eindämmungsmaßnahmen gilt als gesichert (16, 17, 18). In einer aktuellen bundesweiten Befragung durch die pronova BKK ergab sich eine gravierende Zunahme von Angststörungen, Depressionen, ausgeprägten Reaktionen auf belastende Ereignisse und die Zunahme von Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung, psycho-vegetativen Symptomen, so zum Beispiel Schmerzen (19). Im Austausch mit Kollegen ist von einer exorbitanten Zunahme an psychiatrischen Kriseninterventionen, dramatischen Verschlechterungen der Krankheitsbilder und leider auch vollendeten Suiziden zu hören.

Suizide

In Deutschland fanden bis zur Pandemie 10.000 Suizide jährlich statt: mehr als im Verkehr, durch Drogen und durch AIDS zu Tode gekommene Menschen. Jährlich gab es etwa 100.000 Suizidversuche in Deutschland (20). Von einem Suizid sind laut WHO mehr als sechs weitere Personen betroffen.

Die meisten Suizide finden auf dem Boden einer psychiatrischen Erkrankung statt (21). Etwa 10 bis 20 Prozent der Menschen mit Depression nehmen sich das Leben. Die Depressionsrate ist in der Krise bedeutend gestiegen. Zahlen zu Suiziden liegen erstaunlicherweise leider nicht vor.

Fast 30 Prozent der Deutschen — 17,8 Millionen — litten vor den Krisenauswirkungen unter einer psychiatrischen Erkrankung, wovon kaum 20 Prozent Hilfe suchen (22).

Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass psychische Erkrankungen und ein Abweichen vom als „Norm“ vorgegebenen Funktionieren in unserer Leistungsgesellschaft immer noch als stigmatisierend erlebt wird und es an Raum und Zeit für echte Begegnung mangelt.

Psychische Erkrankungen zählen in Deutschland nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und muskuloskelettalen Krankheiten zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Die häufigsten Erkrankungen sind Angststörungen, Depressionen sowie Alkohol und Medikamentenabhängigkeit (23).

Als Auslösefaktoren für einen Suizid ergeben sich oft kritische äußere Ereignisse. Nicht selten scheint der Suizid den Betroffenen der letzte Ausweg, wenn es zu einer Einengung der Möglichkeiten kommt.

Viele Todesfälle könnten durch Einbindung in ein soziales Netz sowie rechtzeitige Behandlung der psychischen Beschwerden verhindert werden. Während der Pandemiemaßnahmen sind Fachstellen kritisch überlaufen und zahlreiche Kranke erhalten keine Hilfe.

Diejenigen Gefährdeten, die nicht laut schreien, werden übersehen — für Fachpersonal extrem niederschmetternd.

Aus nicht nachvollziehbaren Gründen blockiert die Bundesregierung zudem eine Ausweitung von Behandlungsplätzen — es gibt nur eine beschränkte Anzahl an Therapiesitzen, die nicht ausgeweitet werden dürfen, und das, obwohl man um eine stetige Zunahme psychiatrischer Erkrankungen, Krankschreibungen aus psychischen Gründen und Wartezeiten von bis zu sechs Monaten sehr wohl weiß.

Die Konsequenzen einseitiger Problembehandlung holen uns immer ein. Deshalb löst man Probleme nicht durch Aktionismus auf der einen und Wegsehen auf der anderen Seite, sondern nur, indem man sich beherzt sämtlichen Bereichen stellt, auch den schmerzhaften und tabuisierten und auch eigenen blinden Flecken.

Was tun?

So wie eine Bevölkerung mit den Schwächsten umgeht, wie viel Wert und Respekt sie ihnen beimisst, so viel sagt sie über ihren eigenen Reifegrad aus.

„Gegen Einsamkeit kann man am besten dort etwas tun, wo die Menschen wohnen und leben: in den Kommunen vor Ort. Die Gemeinden sind dabei ebenso wichtige Verbündete wie Verbände und Träger der freien Wohlfahrtspflege. Regelmäßiger Austausch soll zu einer Verstetigung und Verbindlichkeit von Angeboten beitragen“, so eine Stellungnahme von Franziska Giffey (24).

Giffey schildert hier wichtige Elemente einer guten Suizidprävention. Wichtig sind zudem, die offene Ansprache und das Aufzeigen von Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, zum Beispiel über die Telefonseelsorge, aber auch Zusammenkünfte von Menschen, gemeinsame Unternehmungen, das Einbinden in eine soziale Struktur. Gesundheit wird durch Beziehung zu einem Gegenüber als mitfühlendes Wesen und nicht nur als potenzieller Virenträger gestärkt.

Würde ein Teil der gesundheitlichen Ausgaben in die Mitarbeiteraufstockung und Verbesserung von Arbeitsbedingungen in pflegerischen und gesundheitlichen Berufen, in das Schaffen von Möglichkeiten der menschlichen Begegnung schwacher Randgruppen fließen, könnten langfristig Menschenleben gerettet und die Lebensqualität einer breiten Masse gefördert werden. Damit es ein Leben gibt, für das es sich zu überleben lohnt.

Gemäß Untersuchungen führt ein harter Lockdown nicht zu einer Reduktion von Sterbezahlen und der Anzahl der schwer Betroffenen (25, 26). Diesen muss geholfen werden: Jeder Tote ist einer zu viel.

Dennoch mutet ein „immer mehr des Selben“ in Bezug auf den Realitätsabgleich aus psychodynamischer Sicht wie ein rigider, unflexibel-zwanghafter Daueraktionismus an. Dies stellt einen regressiven, kindlichen Bewältigungsmechanismus dar. Ein reifer, erwachsener Lösungsansatz würde differenziert und ganzheitlich herangehen.

Die Zahl der Infektionen kann gemäß der Studie von John P. A. Ioannidis auch mit weniger restriktiven Interventionen reduziert werden.

Nur weil die Mehrheit an einer Überzeugung festhält, muss diese nicht zwangsläufig richtig sein.

Ein Beispiel dafür liefert das nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die späten 1970er-Jahre hinein populäre Konzept der schwarzen Pädagogik im Erziehungsratgeber von Johanna Haarer, einer nationalsozialistischen Ärztin, die Methoden der Kindererziehung propagierte, die heute unter „Kindesmissbrauch“ verortet werden dürften. Generationen unsicherer Mütter haben die Empfehlungen im blinden Glauben umgesetzt, die Expertin wüsste schon, was richtig sei.

Bei psychischen Belastungen sollte man sich zeitnah an den Hausarzt, eine psychiatrische Facharztpraxis oder an einen Psychotherapeuten wenden. Ein Psychotherapieplatz ist online etwa auf der Homepage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung zu finden. Die Krankenkasse kann zudem bei der Suche nach psychologischer Unterstützung weiterhelfen.

Vermieden werden sollte zur Stressbewältigung der Griff zu Alkohol oder Drogen.
Häufig stellen niederschwellige Telefonangebote und Kriseninterventionsstellen eine gute Erste Hilfe dar. Örtliche Angebote sind digital zu finden oder bei Nachfrage an Hilfstelefonen. Die Telefonseelsorge ist über folgende Nummer erreichbar: 0800 1110111. Es gibt auch kleinere, neuere Angebote, etwa zu finden bei der Lebensmut-Hotline. Digitales Informations- und Unterstützungsmaterial bietet eine gute Ergänzung und kann neben personellem, menschlichen Kontakt hilfreich sein.

Quellen und Anmerkungen:

  1. Egle, Ulrich T.; Leweke Frank: „Stress-induzierte Hyperalgesie“, Themenheft Researchgate, 2016, https://www.researchgate.net/profile/Ulrich-Egle-2/publication/304080983_Editorial_Stress-induzierte_Hyperalgesie/links/5765b22608ae421c4489d47c/Editorial-Stress-induzierte-Hyperalgesie.pdf.
  2. Schubert, Christian:„Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie“, 2. Auflage, Schattauer Verlag, 2015.
  3. Heim, Christine; Binder Elizabeth B.: „Current research trends in early life stress and depression: review of human studies on sensitive periods, gene-environment interactions, and epigenetics“, Experimental neurology, 2012; 233:102–111, (PubMed: 22101006).
  4. Egle, Ulrich T.: „Langzeitfolgen früher Stresserfahrungen für die körperliche Gesundheit und Lebenserwartung. Lehrbuch Psychosomatik 4.0, herausgegeben von Egle, Ulrich T.; Heim, Christine; Strauß, Bernhard; von Känel. Roland, Verlag W. Kohlhammer Stuttgart, 2020.
  5. Tomova, Livia; Wang, Kimberly L., Thompson, Todd et alii: „Acute social isolation evokes midbrain craving responses similar to hunger“, Nature Neuroscience 23, 1597–1605, 2020, https://doi.org/10.1038/s41593-020-00742-z
  6. Huxhold, Oliver; Tesch-Römer, Clemens: „Einsamkeit steigt in der Corona-Pandemie bei Menschen im mittleren und hohen Erwachsenenalter gleichermaßsen deutlich, dza aktuell Heft 04/2021, https://www.dza.de/fileadmin/dza/Dokumente/DZA_Aktuell/DZAAktuell_Einsamkeit_in_der_Corona-Pandemie.pdf
  7. Egle, Ulrich T.; Leweke Frank, 2016, am angegebenen Ort.
  8. Schubert, Christian: Psychoneuroimmunologie und Infektanfälligkeit. zkm, 5: 17-23, 2013, Seite 18, https://www.praeventologe.de/images/stories/Aktuelles/2020/Schubert_Neuroimmunologie.pdf
  9. Röhr, Susanne; Müller, Felix; Jung, Franziska; Apfelbacher, Christian; Seidler, Andreas; Riedel-Heller, Steffi G.: „Psychosoziale Folgen von Quarantänemaßnahmen bei schwerwiegenden Coronavirus-Ausbrüchen: ein Rapid Review“. Psychiatrische Praxis 2020, 47(4), 179–189, https://doi.org/10.1055/a-1159-5562.
  10. Liu, Xinhua et alii: „Depression after exposure to stressful events: lessons learned from the severe acute respiratory syndrome epidemic“,, 12. April 2011, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/mid/NIHMS277500/.
  11. Mausfeld, Rainer „Psychologie, ‚weiße Folter‘ und die Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern, 2009, http://www.uni-kiel.de/psychologie/psychophysik/mausfeld/Mausfeld_Psychologie%20%27weisse%20Folter%27%20und%20die%20Verantwortlichkeit%20von%20Wissenschaftlern_2009.pdf.
  12. „Einsamkeit ernst nehmen. Studie zu Einsamkeit in der zweiten Lebenshälfte: Einsamkeitsempfinden in der Pandemie deutlich erhöht”, Presse­mitteilung Bundesseniorenministerin Franziska Giffey, 22. Februar 2021, https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/ministerin-giffey-einsamkeit-ernst-nehmen-174034.
  13. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/suizid-alter-1.4593328
  14. Christian Schubert, 2015, am angegebenen Ort.
  15. https://www.pronovabkk.de/presse/studien-archiv/psychische-gesundheit-in-der-corona-krise.html
  16. https://www.donau-uni.ac.at/de/aktuelles/news/2021/psychische-gesundheit-verschlechtert-sich-weiter0.ht
  17. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/corona-krise-bewirkt-massenandrang-auf-psychotherapeuten-17193152.html
  18. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/suizid-alter-1.4593328
  19. Statistik 2015, Deutsche-Depressionshilfe.
  20. „Warnsignale der Psyche erkennen, Suizide verhindern“, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
    Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V., dgppn, 10. September 2018, https://www.dgppn.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2018/welttag-der-suizidpraevention.html.
  21. „Aktuelle Zahlen und Fakten der Psychatrie und Psychotherapie“,dgppn, Stand Oktober 2020, https://www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html.
  22. „CoDAG-Bericht, Nummer 4“, 11. Dezember 2020, Ludwig-Maximilians-Universität München, https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/bericht-4.pdf.
  23. Ebenda.
  24. Franziska Giffey, 22. Februar 2021, am angegebenen Ort.
  25. Rainer Mausfeld, 2009, am angegebenen Ort.
  26. Ioannidis, John P. A.; Bendavid, Eran; Oh, Christopher; Bhattacharya, Jay: „Assessing mandatory stay‐at home and business closure effects on the spread of Covid‐19“, 5. Januar 2021, https://doi.org/10.1111/eci.13484.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung.

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Dieser Beitrag erschien am 17. März 2021 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse

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