Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
Der 9. Mai 2024 fällt nicht nur auf den Himmelfahrtstag, sondern steht auch für drei geschichtsträchtige Ereignisse:
Die seit 1950 jährliche Karlspreisverleihung in Aachen, der Europa-Tag, der auf die Robert-Schumann-Erklärung vom 9. Mai 1950 zurückgeht, und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 im Berliner Stadtteil Karlshorst, an die alljährlich neben vielen Veranstaltungen an verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin mit einer großen Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau erinnert wird.
Bedingungslose Kapitulation am 9. Mai 1945 in Karlshorst
Bereits am 7. Mai 1945 unterzeichnete im Hauptquartier des US-Generals Dwight D. Eisenhower in Reims Generaloberst Alfred Jodl – Chef des Wehrmachtführungsstabes, eine Kapitulationsurkunde. Die Waffen sollten am nächsten Tag ruhen.
Die US-Amerikaner waren am 6. Juni 1944 auf dem europäischen Kriegsschauplatz gelandet, die Sowjetunion war am 22. Juni 1941 von der Wehrmacht überfallen worden.
Die Sowjettruppen eroberten Berlin und hatten allein dabei so viele Gefallene wie die USA in Gesamteuropa. Die Gesamtverluste der Sowjetunion werden mit über 25 Millionen beziffert.
Darin sind an die drei Millionen russische Gefangene enthalten, die in Deutschland entweder durch Genickschussanlagen oder durch Vernichtung mittels Arbeit ermordet worden sind.
Ebenso beschämend ist die Belagerung des damaligen Leningrad durch die deutsche Heeresgruppe Nord. Die Belagerung dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. 28 Monate oder 872 Tage unvorstellbaren Leids. Es war ein Teil des Vernichtungskriegs im Osten und somit „ein genozidaler Akt, bei dem rund 1,1 Millionen Menschen gestorben sind“(1), Die Stadtbevölkerung sollte gezielt ausgehungert werden. Das war ein Kriegsverbrechen, zudem stand die Stadt unter ständigem Artilleriebeschuss.(2)
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung Stalins auf eine deutsche Kapitulation im Hauptquartier von Feldmarschall Georgi Schukow in Karlshorst zu verstehen. Und so unterschrieben dann am 9. Mai 1945 – kurz nach Null Uhr –in Karlshorst Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel als ranghöchster deutscher Soldat sowie die Befehlshaber der Teilstreitkräfte vor den 4 Siegermächten die bedingungslose Kapitulation.
Damit war der Zweiten Weltkriegs in Europa offiziell beendet.(3)
In den letzten Jahren kam es immer wieder wegen antirussischer Ausschreitungen an den verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin zu großen Polizeieinsätzen. 2024 wird wieder mit erheblicher Polizeipräsenz im Treptower Park und am Tiergarten gerechnet.(4)
Die Robert-Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 – heute Europatag
Laut Wikipedia wird der 9. Mai als Europa-Tag in Erinnerung an die Schuman-Erklärung von 1950 als Ursprung der Europäischen Union gefeiert.
Der Stabschef des französischen Außenministers erklärte später:” Alles begann in Washington”(5).
Am 9. Mai 1950 traf der US-Außenminister Dean Acheson in Paris mit seinem französischen Kollegen Robert Schuman und dem französischen Vizeministerpräsidenten Georges Bidault zusammen. Anschließend verkündete Schuman: „Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, … so daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist.“(6)
Diese Erklärung, deren Urheber US-Außenminister Acheson war, steht im Zusammenhang mit Kriegsvorbereitungen – wie immer, wenn Energie und Stahl für kommende Kriege gebündelt werden.
Sieben Wochen vor der Schuman-Erklärung, am 16. März 1950, hatte sich Winston Churchill für einen deutschen Verteidigungsbeitrag ausgesprochen. Und nur wenige Monate nach der Schuman-Erklärung wurde die “Dienststelle des Bevollmächtigten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen” eingerichtet – dahinter verbarg sich nichts anderes als die Vorbereitung zur Wiederbewaffnung der BRD.
Ein Jahr zuvor, am 4. April 1949, war die NATO gegründet worden. Laut Lord Ismay, dem 1. Generalsekretär, mit der der Absicht, „Amerika drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.“(7)
Im Bündnisvertrag wird die Einsicht verlangt, dass wirtschaftlicher Wiederaufbau und Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit sind:
Daher auch der Marshallplan. Nur wenige Monate später, am 19. Dezember 1949, verabschiedeten die USA den Kriegsplan „Dropshot”, mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte. In der „Grundannahme” heißt es wörtlich: „Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.” Daraufhin sollten 300 Atombomben und zigtausende hochexplosiver Bomben abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt. Als dann jedoch 1957 der Satellit Sputnik seine Kreise um die Erde zog, mussten die Kriegsplanungen überarbeitet werden, und der Zeitpunkt für Dropshot wurde vertagt. In Moskau aber ist der Plan unvergessen.
Für mich war es 1999 unvorstellbar, dass sich die Bundesrepublik Deutschland erstmals an einem Krieg, und dann auch noch an einem völkerrechtswidrigen Angriff beteiligt!
Nachdem die USA für den Krieg gegen Rest-Jugoslawien kein UN-Mandat bekamen, änderten sie kurzerhand ihre Strategie und mandatieren seither ihre Kriege selbst. Die Vereinten Nationen sind obsolet geworden – stattdessen beruft man sich auf eine diffuse, exklusive „regelbasierte Ordnung” und damit auf ein imperiales Faustrecht.
Nun soll Deutschland angesichts der sich militärisch ausweitenden Konflikte kriegstüchtig werden. Die Entwicklung, für die der sogenannte Wertewesten hauptverantwortlich ist, zielt auf Krieg gegen Russland und China. Diese absehbare Gefahr brachten wenige Monate nach dem Maidan-Putsch Anfang 2014 Willy Wimmer und ich im Vorwort zu „Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute” zum Ausdruck:
„die gleichen Kreise, die vor hundert Jahren nationale Konflikte für ihre Interessen instrumentalisierten, sind heute wieder am Werk. Wieder wird bedenkenlos gepokert und dabei billigend die Gefahr eines Weltkriegs und damit neues unermessliches Leid in Kauf genommen“.(8)
Im September 2014 setzte das Pentagon die Langzeitstrategie TRACOC 525-3-1 „Win in a Complex World 2020 -2040“ in Kraft. Darin wurden Heer, Marine und Luftwaffe auf die künftigen Konflikte eingestimmt: An erster Stelle wird die Bedrohung durch Russland und China genannt, dann die durch Iran und Nordkorea und erst zum Schluss die Bedrohung durch transnationale Terroristen.
Im US-Strategiepapier vom 27. Oktober 2022 nannte US-Präsident Biden als Hauptziele:
- Abbau der wachsenden multidisziplinären Bedrohung durch China
- Abschreckung der von Russland ausgehenden Herausforderung in Europa
- Ausschluss jedes Verzichts auf einen nuklearen Erstschlag.
Zur Umsetzung dieser Prioritäten gehört u.a. der Aufbau eines dauerhaften Vorteils.
Wie will ein Land mit diesem Anspruch in Frieden mit anderen Nationen leben?
In den Handreichungen des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses vom 15. November 2022 ist zu lesen, dass viele militärische Operationen der USA im 1. und 2 Weltkrieg und danach das Ziel hatten, regionale Hegemonie in Eurasien zu verhindern.
Stand das serbisch dominierte Rest-Jugoslawien der NATO-Osterweiterung im Weg?
Oder hatte es sich zu sehr an China gebunden, wie der Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad vermuten lässt?
Die Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart (Irak, Libyen, Syrien, Ukraine, Ägypten usw.) zeigen, dass die Blutspur der Strategen des Ersten Weltkriegs bis in die heutige Zeit reicht und so lange kein Ende finden wird, bis die Triebkräfte, die in den Ersten Weltkrieg geführt haben, aufgedeckt sind und die Konflikte in eine nachhaltige Friedenslösung münden.
Vor Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz unterschrieben der deutsche Kanzler und der ukrainische Präsident ein auf zunächst 10 Jahre befristetes Sicherheitsabkommen samt Ankündigung eines milliardenschweren Militärhilfepakets. Eingangs verurteilen darin beide Länder – ich zitiere –
„auf das Schärfste den ungerechtfertigten, unprovozierten, illegalen und brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, durch den Russland in gravierender Weise gegen das Völkerrecht einschließlich der UN-Charta verstößt. Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind“.(9)
Dieses „Sicherheitsabkommen” wurde unmittelbar nach der Unterzeichnung wirksam.
Damit ist Deutschland auf Gedeih und Verderb an das Schicksal der Ukraine gekettet. Der Eingangssatz lässt jedes diplomatische Geschick vermissen und wird nicht nur die Hardliner im Kreml gegenüber Deutschland unversöhnlich stimmen. Deutschland hat jetzt aus Russland keine Zurückhaltung mehr zu erwarten.
Wie konnte der deutsche Kanzler Olaf Scholz einen für die BRD so existenzbedrohenden Pakt unterschreiben?
Sollte die Ukraine auf dem Schlachtfeld in die Knie gezwungen werden, könnte sich der Krieg zu einem umfassenderen regionalen Konflikt ausweiten, in den auch andere europäische Verbündete der Vereinigten Staaten verwickelt werden.(10)
Dieses Szenario wurde schon am 28. Februar 2023 bei der US-Senatsanhörung zum Ukraine-Krieg angedacht:
Kommt nun der dritte große europäische Krieg?
Die USA scheinen in einer Situation zu sein, in der als Ausweg nur noch der umfassende Krieg gesehen werden kann.
Wieso verschließt sich der deutsche Kanzler den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen? Dass sich seit 2015 in jedem Jahr die NATO-Militärmanöver weiter bis ins Gigantische gesteigert haben, kann ihm nicht entgangen sein! Dazu die unsägliche Kriegsrhetorik der NATO-Generalsekretäre Rasmussen und Stoltenberg.
Bertolt Brecht verfasste 1951 einen „Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller“. Angesichts der Remilitarisierung der jungen Bundesrepublik warnte er vor einem Dritten Weltkrieg: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“(11)
Der „Internationale Karlspreis zu Aachen”
„Der Internationale Karlspreis zu Aachen, der 1950 erstmals vergeben wurde, ist der älteste und bekannteste Preis, mit dem Persönlichkeiten oder Institutionen ausgezeichnet werden, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben”, heißt es bedeutungsschwer auf der Homepage der Stiftung, die den Preis alljährlich vergibt. Weiter ist dort zu lesen: „Zum Namensgeber für den Preis wurde Karl der Große, der als erster Einiger Europas gilt und der Ende des achten Jahrhunderts Aachen zu seiner Lieblingspfalz wählte; damit wurde eine Brücke zwischen europäischer Vergangenheit und Zukunft geschlagen.“(12)
Karl der Große als Vorbild für ein geeintes und friedliches Europa?
Karl wurde am Weihnachtsfest des Jahres 800 nach alttestamentlicher Sitte von Papst Leo III. gesalbt und gekrönt.
Seine Anrede lautete: „Allergnädigster, erhabener, von Gott gekrönter, großer, friedebringender Kaiser, der das Römische Reich regiert und durch Gottes Barmherzigkeit auch König der Franken und Langobarden ist.” Es war also kein deutsches oder fränkisches Reich entstanden, sondern das westliche Imperium Romanum. Folglich kann Karl der Große nicht als Mentor eines geeinten Europas dienen.
Auch findet sich weder bei seinem Biografen Einhard noch in den Reichsannalen des karolingischen Hofes ein Wort zu Europa. Von Europa sprachen anscheinend eher gebildete Fremde, Iren und Angelsachsen. Kaiser Karl war bei Dänen, Polen, Ungarn, Griechen oder Russen nicht sonderlich beliebt. Und die Sachsen setzten sich über 32 Jahre lang gegen die unerbittlichen Unterwerfungs- und Christianisierungsfeldzüge Karls zur Wehr, in denen sie die Absicht einer Frankisierung wie auch der Zerschlagung ihrer demokratischen Stammesstrukturen erkannten.
Erst zur Zeit Napoleons nahmen die Vorstellungen von Europa Kontur an. Nachdem Napoleon die Lombardei erobert hatte, glaubte er sich in der Tradition Karls: »Ich bin Karl der Große.«(13) Angesichts der Macht Napoleons skizzierte der deutsche Romantiker Friedrich Schlegel 1810 das Bild von Karl als »Gesetzgeber für das ganze abendländische Europa.(14). Schlegel sah in Europa eine Idee, der Karl die Gestalt eines „christlichen Vereins aller abendländischen Nationen” gegeben hatte.
Selbst im Dritten Reich erfuhr Karl Anerkennung. In seinen Tischgesprächen im Führerhauptquartier bat Hitler seinen Chefideologen Alfred Rosenberg, „einen Heroen wie Karl den Großen nicht als Karl den Sachsenschlächter zu bezeichnen. Geschichte müsse immer aus ihrer Zeit heraus verstanden werden”.(15) Für ihn war Karl der erste Einiger aller germanischen Stämme und der erste Schöpfer eines „vereinigten Europas”. Karl gelangte nun zu der fragwürdigen Ehre, Namensgeber für die 1. Französische SS-Waffen-Grenadierdivision „Charlemagne” zu werden.(16)
Hitler stiftete für Angehörige dieser Division vorzugsweise einen Platzteller aus Sèvres-Porzellan. Das Dekor zeigte die bekannte Reiterstatuette Karls aus dem Louvre mit der lateinischen Inschrift: „Das Reich Karls des Großen / das seine Enkel teilten / im Jahr 843 / verteidigt Adolph Hitler / gemeinsam mit allen Völkern Europas / im Jahr 1943.“(17)
Das braune Regime missbrauchte den großen Franken als integrierende Symbolgestalt für die eigene europäische Machtchimäre. „Karl der Europäer” überstand den Zusammenbruch von 1945 jedoch unbeschadet. Die beeindruckende Aachener Karlsausstellung des Europarats von 1965 galt „dem ersten Kaiser, der Europa zu vereinen wusste“(18) – mithin einem Leuchtturm. Aber der leuchtet nicht. Der Mythos vom großen Europäer stammt vor allem von nationalsozialistischen Geschichtsschreibern, die den mittelalterlichen Kaiser zum Urahn eines von Hitler geeinten Kontinents machten.
Jährlich zu Christi Himmelfahrt wird der Internationale Karlspreis zu Aachen an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verliehen. Der erste Preisträger war Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, am 18. Mai 1950, „in Anerkennung seiner Lebensarbeit für die Gestaltwerdung der Vereinigten Staaten von Europa“.(19)
1925 war sein umstrittenes Werk „Praktischer Idealismus” erschienen, eine krude Mischung aus puritanischer Arbeitsethik und marxistischer Heilserwartung. Propagiert wird ein heroischer Aktionismus mit dem Ziel der völligen Vereinheitlichung der Weltbevölkerung und der totalen technischen Beherrschung der Erde im Sinne einer „Aristokratie der Gesinnung”, die zu einer sozialen Entwicklung ohne Kriege führen soll.
Der naive Glaube an den „heroischen Willen” im Kampf für das Heil der Menschheit bescherte Europa im 20. Jahrhundert die aggressiven Machtstrukturen kollektiver Zwangssysteme – Nationalsozialismus und Stalinismus. Coudenhoves Vision kann einen das Gruseln lehren:
„Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen. Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen.“(20)
Die Edlen, entstanden aus der Zuchtwahl nach den „göttlichen Gesetzen erotischer Eugenik”, sollen die Massen führen.
„So wird der neue Zuchtadel der Zukunft nicht hervorgehen aus den künstlichen Normen menschlicher Kastenbildung, sondern aus den göttlichen Gesetzen erotischer Eugenik. Der Sozialismus, der mit der Abschaffung des Adels, mit der Nivellierung der Menschheit begann, wird in der Züchtung des Adels, in der Differenzierung der Menschheit gipfeln.“(21)
Man ahnt schon, wozu die eurasisch-negroide Mischrasse gut sein soll: Die abendländische Kultur mit ihrer Vielfalt individueller Entwicklungsmöglichkeiten soll orientalisiert, das Volk umerzogen werden:
„Ein pazifiziertes und sozialisiertes Abendland wird keine Gebieter und Herrscher mehr brauchen – nur Führer, Erzieher, Vorbilder. In einem orientalischen Europa wird der Zukunftsaristokrat mehr einem Brahmanen und Mandarin gleichen als einem Ritter.”
Anfang des 20. Jahrhunderts findet man selbst bei berühmten Schriftstellern unverhohlene Ausleseerwägungen, so etwa bei Bertrand Russell (1872–1970) oder H. G. Wells (1866–1946), der von einem perfekten Weltstaat träumte mit einem »ethischen System«, welches
„die Fortpflanzung dessen begünstigt, was in der Menschheit fein, wirksam und schön ist … und die Fortpflanzung von niederen und unterwürfigen Typen, von angstgetriebenen und feigen Seelen, von allem, was in den Seelen, Körpern oder Gewohnheiten der Menschen gemein, hässlich und bestialisch ist, kontrolliert“.(22)
Coudenhove geißelt den moralischen Verfall sowohl im Kapitalismus als auch im Kommunismus, hofft aber in naiv-platonischer Manier auf eine „Aristokratie des Geistes”.(23) Seine Analyse der Demokratie als Fassade der Geldherrschaft klingt geradezu aktuell:
„… weil die Völker nackte Plutokratie nicht dulden würden, wird ihnen die nominelle Macht überlassen, während die faktische Macht in den Händen der Plutokraten ruht. In republikanischen wie in monarchischen Demokratien sind die Staatsmänner Marionetten, die Kapitalisten Drahtzieher: sie diktieren die Richtlinien der Politik, sie beherrschen durch Ankauf der öffentlichen Meinung die Wähler, durch geschäftliche und gesellschaftliche Beziehungen die Minister.“(24)
Coudenhove-Kalergis „praktischen Idealismus” könnte man als eine der vielen romantischen Gesellschaftsutopien abtun, hätte er nicht eine so fatale politische Wirkkraft entfaltet. Beispielsweise bei den angelsächsischen Elite-Gesellschaften mit ihrer Überzeugung von der Überlegenheit der angelsächsischen Rasse, gepaart mit pseudoreligiösem oder gar revolutionärem Sendungsbewusstsein. Sie bedienen sich dieser Art von „Philosophie”, um ihre pure Machtgier ethisch zu verbrämen, und haben uns genau die Art von „Schieber-Plutokratie” beschert, die Coudenhove-Kalergi beseitigen wollte.
2008 erhielt die deutsche Kanzlerin Angela Merkel den begehrten Preis. In ihrer Dankesrede betonte sie, dass die höchsten irdischen Güter, „Freiheit, Menschlichkeit und Frieden” immer wieder aufs Neue zu hegen und zu pflegen seien.
Nur 6 Jahre zuvor hatte sie als CDU-Chefin eindringlich für eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg geworben. Anfang Dezember 2022 gab die Karlspreisträgerin Merkel ohne jede Scham zu, dass das Abkommen von Minsk nur dazu diente, Zeit zu gewinnen, um die Ukraine aufzurüsten: „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben,“ sagte die frühere deutsche Bundeskanzlerin der Wochenzeitung Die Zeit. „Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“(25)
Und der Karlspreisträger Emmanuel Macron ist gewillt, Truppen in die Ukraine zu schicken. Auch er hatte nichts unternommen, um das Minsk-Abkommen umzusetzen und damit Frieden in die Ukraine zu bringen.
So wenig Karl der Große ein friedenbringender Kaiser war, sind es heute die demokratisch gewählten Repräsentanten.
Nun taumelt die europäische Union in eine Katastrophe, die sich seit mindestens 10 Jahren ankündigt.
Wir brauchen dringend eine echte Kultur des Verstehens und Verständigens, des Bemühens um Wahrhaftigkeit, eine Kultur des Friedens!
Anmerkungen und Quellen
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld” in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie “Die unterschätzte Macht” (2022)
1) https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340408/leningrad-niemand-ist-vergessen/
2) Ebda.
5) Wolfgang Effenberger: “Schwarzbuch EU & NATO Warum die Welt keinen Frieden findet.” Höhr-Grenzhausen 2020, S. 131
6) Ebda.
7) Ebda., S. 122f.
8) Wolfgang Effenberger/Willy Wimmer: “Wiederkehr der Hasardeure”. Höhr-Grenzhausen 2014, S. 18
10) Ebda.
11) www.deutschlandfunk.de/vor-70-jahren-als-bertolt-brecht-den-offenen-brief-an-die-100.html
13) Vgl. Döbber/Roith: Karl, der große Europäer? Ein dunkler Leuchtturm. In: Leben und Lernen in der EU, www.schulseiten.de/jvfg/page.php?page=geschichte_geschichte_3
14) Zit. wie www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22793
15) Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche. Frankfurt a. M. 1993, S. 166
16) Zit. wie Döbber/ Roith: Karl, der große Europäer? A. a. O.
17) Ebda.
18) Zit. wie www.spiegel.de/spiegel/ print/d-21197891.html
19) Zit. wie www.karlspreis.de/de/preistraeger/richard-nikolaus-graf-coudenho-ve-kalergi-1950/vita
20) Coudenhove-Kalergi, R. N.: Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus. Wien/ Leipzig 192, S. 23
21) Ebd., S. 56
22) Zit. wie www.Cambridge.org/journals/ Victorian-literture-and-culture/article/ euthanasia-and-devolution-in-speculative-fiction/DBE31BA1A4E2BBB4E- 374F595948A61E/
23) Coudenhove-Kalergi 1925, S. 33
24) Ebda., S. 39
25) https://www.wsws.org/de/articles/2022/12/20/merk-d20.html
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