Eine Rezension von Eugen Zentner.
Der WikiLeaks-Gründer Julian Assange ist wohl der bekannteste politische Häftling unserer Zeit. Er hat schreckliche Kriegsverbrechen aufgedeckt, wird dafür aber nicht gewürdigt, sondern verfolgt. Seit über einem Jahrzehnt befindet er sich auf der Flucht und muss derzeit in Großbritannien in Haft ausharren. Doch die USA lassen nicht locker und fordern weiterhin seine Auslieferung. Wenn sie das durchsetzen können, kommt der australische Investigativ-Journalist wohl nie mehr frei. Seine Angehörigen tun deshalb alles, damit das nicht passiert. Ihnen widmet sich der neue Film «Ithaka», der in unaufgeregten Bildern deren Einsatz darstellt und einen authentischen Eindruck davon vermittelt, welchen Strapazen sie ausgesetzt sind.
Im Mittelpunkt steht Assanges 76-jähriger Vater John Shipton, ein ruhiger und asketisch wirkender Mann, der von Melbourne nach Europa gekommen ist, um sich mit diversen Politikern, Medienvertretern und den Unterstützern seines Sohnes zu treffen. Der Film beginnt kurz vor der weltweiten Corona-Politik und endet mit dem vorläufigen Entschluss, Assange erst einmal nicht in die USA auszuliefern. In dieser Zeit schüttelt der schlaksige Shipton etliche Hände und spricht in sämtliche Mikrofone, die ihm Journalisten pausenlos entgegenhalten. Obwohl Assanges Vater sich stets um Beherrschung bemüht, dringt sehr schnell durch, wie unangenehm er sich in diesen Situationen fühlt. Aber er habe keine andere Wahl, sagt er mehrmals. Um seinen Sohn zu befreien, müsse er diese Unannehmlichkeiten auf sich nehmen.
Sie hören jedoch nicht auf mit den vielen Auftritten und Reisen, die Shipton durch Europa unternimmt. Sie gehen tiefer und durchdringen seine Psyche, wie einige Szenen verdeutlichen, wenn der alte Mann in manchen Momenten über sein Seelenleben spricht. Aufwühlend wirken insbesondere die seltenen persönlichen Treffen mit Assange, zumal die beiden in früheren Jahren keine enge Beziehung hatten. Über diese Periode redet der Vater nur ungerne. Bisweilen reagiert er sogar gereizt, wird mürrisch und bemüht sich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Der innere Kampf mit sich selbst dringt nach außen, zeigt sich in seinen Gesichtszügen und verhärtet die Stimme. Dann gibt er sich wieder sanftmütig. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, die er – wie einige Aufnahmen verraten – mit Yoga-Übungen zu regulieren versucht.
Das Schicksal seines Sohnes wiegt schwer. Für Shipton bekommt die psychische Last jedoch dadurch noch mehr Gewicht, dass er seine kleine Tochter aus einer anderen Beziehung zu Hause in Australien lassen muss und mit ihr während seiner Reise durch Europa keine Zeit verbringen kann. Um ihr zumindest partiell nahe zu sein, spricht er mit ihr zwischen den Terminen per Telefon, ob im Taxi, in der Bahn oder im Hotelzimmer. In solchen Bildern tut sich die quälende Rastlosigkeit aus, die Unruhe und Bewegung, in der er sich befindet, sowohl physisch als auch mental. Die nervliche Anspannung ist mit den Händen greifbar und bemächtigt sich seiner, so wie am Ende des Films, wo Shipton sogar Spuren negativen Denkens zeigt.
Noch näher rückt die Kamera an Assanges Frau Stella heran. Im Film nimmt sie zwar weniger Raum ein als Vater John, liefert jedoch einen besseren Einblick in die Gefühlswelt des inhaftierten Protagonisten, der zwar stets im Hintergrund bleibt, aber die Dramaturgie bestimmt. Regisseur Ben Lawrence gelingt es, mehrere Telefongespräche zwischen Assange und Stella festzuhalten. Solche Szenen wirken sehr unmittelbar und verraten viel über die seelische Verfassung des inhaftierten Opfers. Seine Stimme ist brüchig, die Depressionen führen das Wort. Stella muss bisweilen stark überlegen, wie sie ihn bei Laune halten soll. In solchen Augenblicken offenbart sich ihr schweres Schicksal, zu der die Angst hinzukommt, nachts alleine nach Hause zu gehen. Sie habe sich intensiviert, als ihr die Mordpläne der Sicherheitsbehörden bekannt wurden. „Manche Leute wollen, dass er tot ist“, sagt Stella an einer Stelle.
Wie Shipton ist Assanges Frau ebenfalls permanent im Einsatz, führt Interviews, hält Vorträge und spricht mit Anwälten, muss sich parallel aber auch noch um die gemeinsamen beiden Kinder kümmern. Eigentlich sei Nachwuchs lange Zeit kein Thema gewesen, verrät sie. Doch es habe eine Zeit gegeben, als der WikiLeaks-Gründer in der ecuadorianischen Botschaft Hoffnungen hatte, sich in Zukunft wieder frei bewegen zu können. Die USA vereitelten diese Möglichkeit, so subtil wie wirkungsvoll. Über deren Methoden spricht im Film vor allem Nils Melzer. Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter ist einer der wenigen, die neben Shipton und Stella interviewt werden. Obwohl er wertvolle Informationen über die Dimension von Assanges Schicksal liefert, dient er mehr als Kontrastfolie, durch die die Leiden der engsten Familienmitglieder deutlicher zum Vorschein kommen.
Zwar ist auch Melzer in den Fall involviert und zeigt sich besorgt hinsichtlich der Konsequenzen für Demokratie und Pressefreiheit, wirkt vor der Kamera jedoch gefasster und nüchterner, wie ein Mann, der die Angelegenheit aus einer emotional größeren Distanz beobachtet. Ganz anders Shipton und Stella, deren ganzer Körper von Müdigkeit gezeichnet ist. Sie mobilisieren ihre letzten Kräfte, schwanken zwischen Frustration und Hoffnung, kämpfen mit Tränen. «Ithaka» bildet ihre Lebenssituation mit viel Empathie ab, ohne auf Effekte abzuzielen. Wer den Film schaut, wird fühlen, was in Assange und dessen Familie vorgeht. Der brisante Fall geht jedoch über das persönliche Schicksal hinaus und betrifft die Weltgemeinschaft, die entscheiden muss, ob sie wirklich in einer wahrhaft liberalen Demokratie leben möchte. „Wenn Julian fällt, tut es auch der Journalismus“, sagt sein Vater in einem Interview.
Es ist daher wichtig, dass die öffentliche Aufmerksamkeit stärker auf Assanges Geschichte gelenkt wird. Die Dokumentation stellt dafür die Weichen, indem sie nicht nur den Einsatz seiner Unterstützer beleuchtet, sondern auch Hintergrundinformationen liefert, die vielen Menschen möglicherweise nicht bekannt sind – eben weil die Leitmedien ihnen nicht genügend Beachtung schenken. Wer die Tragweite von Assanges Fall verstehen will, kann das derzeit im Kino tun. «Ithaka» läuft deutschlandweit in ausgewählten Spielstätten. Besonders viele Tourtermine gibt es im Dezember – in Halle und Düsseldorf, in Bremen und Berlin, in Hamburg und Würzburg. Einen Monat später wird der Film auch in Köln vorgeführt, bis er schließlich nach Saarbrücken kommt.
Hier weiterführende Links zum Film:
https://blog.freeassange.eu/2022/09/20/dokumentarfilm-ithaka-nun-auch-in-deutschland/
https://www.dropbox.com/sh/embtsdpcnr35yn9/AABV6T9Ll5lVQ_RCVojLfWZga?dl=0
https://www.youtube.com/watch?v=tKOu8ej0ewQ
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: ithaka.movie
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