Ein Kommentar von Dirk C. Fleck.
Ich bin kein großer Fan von Newslettern, die meisten habe ich abbestellt. Einen allerdings nicht. Das hat sicher auch damit zu tun, dass er in etwa nur alle halbe Jahr verschickt wird, aber vor allen Dingen hat es damit zu tun, dass er jedes Mal wertvolle Wortfracht überbringt. Absenderin ist Liane Dirks, eine deutsche Schriftstellerin, deren Roman „Vier Arten meinen Vater zu beerdigen“ mich sehr beeindruckt hat. Auch dieses Statement, das sich auf ihrer Website findet (www.liane-dirks.de), hat mich im Innersten berührt: “Kunst machen zu wollen, schreiben zu wollen, singen zu müssen – das kommt mit einer ungeheuren Wucht daher. Es haut einen um. Es fordert, es verlangt, es will in die Welt, es ist ein Auftrag. Und es lässt nicht mehr locker. Wild, bedingungslos, sehr oft gnadenlos, hart und lustvoll, unglaublich schön, nichts verleugnend, alles umarmend und immer im Werden. Kunst zu machen fordert den Menschen ganz und: es fordert einen ganzen Menschen.“
Im letzten Newsletter nun teilt Liane Dirks mit, dass wir, also jeder Einzelne von uns, aus hundert Billionen Zellen bestehen, wer immer das gezählt haben mag. Das sind tausend Milliarden, also eine Eins mit zwölf Nullen: 1 000 000 000 000. Eine Eins mit zwölf Nullen ist als Größenordnung nicht vorstellbar. Liana Dirks versucht uns trotzdem eine Vorstellung zu geben:
„Das ist, als würde man den Sternenhimmel, genauer gesagt die gesamten Sterne unserer Galaxie auf einen einzigen, winzigen Punkt zusammenziehen, und dieser Punkt heißt Mensch“.
Beeindruckend, oder? Wir müssen uns keinen Kopf darüber machen, ob die Zahl stimmt, unser Körper mag aus mehr oder weniger Zellen bestehen. Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir Verwalter eines eigenen Universums sind, in dem jede Zelle nicht nur davon abhängig ist, wie pfleglich wir mit uns umgehen, sondern auch davon, in welcher geistigen Verfassung wir uns gerade befinden. Die hundert Billionen Zellen sind nämlich kein Klumpen, sie sind ein „instabiler Raum“, wie es der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr nannte, in dem sich Geist und Materie eine Weile lang lieben dürfen, bis sie sich einen neuen Raum suchen.
„Den eigenen Körper mit all seinen Möglichkeiten und Begrenzungen und vor allem mit seiner Vergänglichkeit zu umarmen, das ist Auferstehung, das ist bewusstes und demütiges fortwährendes Schreiben an der Geschichte unseres Menschseins,“
sagt Liane Dirks in ihrem Newsletter.
Und jetzt werfen wir einmal einen Blick auf unsere Aufmerksamkeit inmitten dieses Mysteriums, das wir Leben nennen. Wir verschenken sie an vordergründige gesellschaftspolitische Spielchen, wir ziehen uns die Folie der Banalität übers Gesicht und ersticken daran. Wir ersticken unsere Spiritualität und somit den Kern unseres Wesens, was zu fatalen Zuständen führt, in denen uns immer neue Ängste an die Gurgel gehen. Wir sind nicht der Souverän in unserem Universum, für das wir Verantwortung tragen. Was, wenn die Instanz, die wir Schöpfer nennen, ihre Verantwortung für das Universum ebenso hasenfüßig ausüben würde?
Viele Menschen tun sich noch immer schwer, sich selbst als spirituelles Wesen zu akzeptieren. Sie lassen sich lieber von der „Vernunft“ leiten. Aber nach den Kriterien der Vernunft müssten wir den Menschen ehrlicherweise als abstraktes, nicht nachzuweisendes Wesen definieren. Denn nichts, was eine Person letztlich ausmacht, ist greifbar oder messbar. Keine Freude, kein Leid, kein Gedanke – und mag er auch noch so logisch sein – ist greifbar oder messbar. Stolz, Eifersucht, Liebe, Demut, Zorn, Habgier, Langeweile, Machtgelüste – alles nicht zu sehen, anzufassen, zu riechen, zu hören oder zu schmecken. Jeder gute oder schlechte Vorsatz kommt körperlos daher. Sämtliche Emotionen und Eigenschaften, über die wir unsere Persönlichkeit definieren, entziehen sich dem wissenschaftlichen Beweis. Wir sagen, unser Herz blutet, wenn wir verletzt sind. Und wenn wir glücklich sind, sagen wir, dass unser Herz überfließt. Nichts davon ist in den Laboren nachprüfbar. Und doch findet die seelische Verfassung jedes Einzelnen ihren körperlichen Ausdruck. Am deutlichsten ist dies an den Krankheiten auszumachen, die von den Naturvölkern als Warnzeichen verstanden wurden.
Ich vermute, dass niemand unter uns ist, der behaupten würde, er beziehe seine Energie aus der Steckdose. Welche Energie aber ist es dann, die unser Herz schlagen lässt? Woher kommt diese Energie und auf welche Weise sind wir mit ihr verbunden? Wir kennen die Wahrheit, wir mögen uns nur nicht an sie erinnern, weil wir Angst davor haben, aus dem System zu fallen, das uns so gnadenlos platt bügelt und vor dem wir dennoch in masochistischer Manier kuschen. Wir haben Angst, aus der Gesellschaft zu fallen und den schweren Kampf eines unverstandenen Außenseiters führen zu müssen. Dabei wissen wir doch, dass wir Teil eines gigantischen Netzwerkes sind, dass nichts so weit von einander entfernt ist, dass es nicht Verbindung mit ihm hätte. „Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott“, hat Friedrich Schiller es formuliert. Wir alle speisen unsere Existenz aus derselben Quelle. Nichts was wir erleben, gehört uns allein. Jedes Gefühl ist eine Leihgabe aus dem unerschöpflichen Meer der Möglichkeiten, wie es in der Quantenphysik heißt. Jede Erscheinungsform, ob sie nun geistiger oder materieller Natur ist, verdient also den gleichen Respekt, den wir für uns selbst reklamieren. Erweisen wir diesen Respekt nicht, vergreifen wir uns letztlich nur an uns selbst. Das ist Gesetz. Lasst es uns bitte nicht weiter infrage stellen.
Die europäische Kultur ist von dem Gedanken geprägt, dass Kraft dazu da ist, für oder gegen etwas angewendet zu werden. Das ist falsch. Kraft zu haben bedeutet, voll und ganz gegenwärtig zu sein. Wir müssen wieder lernen, die simple Wahrheit der Zusammengehörigkeit allen Lebens zu verstehen, sodass sie in jedem Augenblick wirksam werden kann. Das kann doch nicht so schwer sein. Zumal es das einzig wirkliche Vergnügen ist, welches das Leben für uns permanent bereit hält …
„Unser Werden ist auf ständigen Austausch angewiesen, der uns formt, bildet, der uns wachsen und vergehen lässt und der Spuren hinterlässt,“
schreibt Liane Dirks.
„Diese berichten nicht nur von den Ereignissen, die uns widerfahren, sondern auch von den Gefühlen, die wir damit verbinden. So kann der Körper zum Lehrmeister werden. In der Auseinandersetzung mit ihm, mit dem, was er uns bietet und verbietet, wo er mitgeht und wo er sich verweigert, erfahren wir, was Menschsein heißt, und machen uns unsere Biografie, unsere Schrift des Lebens, bewusst. Der Körper schreibt sich in uns ein und wir in ihn, bis wir schlussendlich verkörpern, was wir sind. Was wir dann ausstrahlen, ist Anmut und Würde. Wir dürfen sein, was wir sind, wissend, spürend, dass wir mehr sind“.
Kann man einen solchen Newsletter kündigen? Ich kann es nicht …
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Dieser Beitrag erschien am 25. März 2021 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse
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Bildquelle: Monster Ztudio / shutterstock
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