Die Vehemenz und Schärfe bei der Ausgrenzung kritischer Stimmen irritiert weiterhin und ist sachlich kaum erklärbar. Über Meinungen, Fakten und deren Interpretation müsste man sich verständigen können. Warum ist das in der Corona-Krise nicht möglich? Es scheint, als ob abseits von Politik und Rationalität noch ein anderes Motiv wirkt.
Ein Kommentar von Paul Schreyer.
Vor einem Jahr, zu Beginn der Krise, ließ sich mühelos argumentieren, dass die meisten Politiker und Journalisten ehrlichen Herzens vor der Virusgefahr warnen und sich tatsächlich um die Stabilität des Gesundheitssystems sorgten. Mit dem rigorosen und dauerhaften Abblocken und Diffamieren aller Kritiker wurde diese Begründung jedoch brüchig. Denn warum war und ist eigentlich kein Gespräch miteinander möglich? Woher der unbedingte Wille, eine kontroverse Debatte zu vermeiden und die strikte Weigerung, bestehende Annahmen in Frage zu stellen? Woher, mit einem Wort, die Unerbittlichkeit?
Der Unmut darüber ist schon lange groß, es gibt viele Erklärungsversuche, auch Appelle an Journalisten, doch vielfältiger zu berichten und denjenigen Fachleuten Gehör und Sendezeit zu schenken, die von der Regierungslinie abweichen. Die Aufrufe jedoch verhallen – es ändert sich praktisch nichts.
Die einen sagen, das liege an zu großer Regierungsnähe, andere verweisen auf ein sozial sehr homogenes journalistisches Feld, also eine starke Ähnlichkeit der meisten Journalisten in Herkunft, Milieu und politischen Ansichten. Für beides gibt es gute Belege. Der Autor Marcus Klöckner wies schon vor der Corona-Krise in seinem Buch „Sabotierte Wirklichkeit“ 2019 darauf hin, dass die Kritik an den Medien über diese Argumente noch hinausgehen müsse und reale Machtkämpfe nicht ausblenden dürfe:
„Es geht um die Vorherrschaft bei der Schaffung medialer Wirklichkeit. Es wäre reichlich naiv anzunehmen, sauber vorgetragene Lösungsvorschläge könnten etwas verändern. Wie eingangs geschrieben: Aus Sicht der dominierenden Akteure gibt es ja nicht mal ein Problem – außer eben, dass es da diese ‚Spinner‘ gibt. Da ist er, der soziale Kampf. Und dieser Kampf wird mit großer Härte geführt. (…) Machen wir uns nichts vor: Die Weichensteller in den Medien wissen um die Verhältnisse. Sie sehen, wie ihnen die ‚Felle‘ wegschwimmen. Das sind alles kluge Köpfe. Aber auf dieser Ebene des sozialen Kampfes will man nicht verlieren oder aufgeben.“
Ein Text, wohlgemerkt, aus dem Jahr 2019. Möglicherweise spielt aber auch die Psychologie eine Rolle, genauer: das Problem der Rechtfertigung eigenen Handelns vor sich selbst. Dieser Bereich des individuellen Innenlebens ist naturgemäß einer Beobachtung von außen weitgehend verschlossen. Daher sind die folgenden Betrachtungen spekulativ und lassen sich nicht beweisen. Sie erscheinen allerdings naheliegend.
Es ist eine Binsenweisheit, dass sich nicht jeder Mensch der Gründe seines Handelns voll bewusst ist. Man neigt dazu, sich selbst Motive zu unterstellen, die gesellschaftlich hoch angesehen sind – auch wenn einen in der Tiefe eigentlich anderes antreibt. Die Radikalität, ja Brutalität von Medien und Politik im Umgang mit Kritikern der Regierungsbeschlüsse gibt der Vermutung Raum, dass hier vielleicht nicht nur die offen vorgetragenen rationalen Motive wirken, sondern auch Angst eine Rolle spielt.
Die in diesem Text aufgestellte These lautet, dass der Hass auf die Querdenker – und überhaupt auf das „quer denken“ – sich nicht nur aus Empörung über deren angenommene Verantwortungslosigkeit speist, sondern auch aus der Angst vor dem eigenen Irrtum. Diese Angst, sollte sie denn tatsächlich bestehen, dürfte in den seltensten Fällen offen ins Bewusstsein treten. Eher schwelt sie im Hintergrund, als dumpfe Ahnung, für die es kaum Worte gibt.
Der eigene Irrtum ist auf seltsame Art inakzeptabel geworden, gilt als geradezu unprofessionell. Man weiß Bescheid, kennt sich aus, lässt sich nichts vormachen. So gesehen erscheint die Angst vor dem Irrtum in der Corona-Krise nur als spezielle Spielart einer sich generell ausbreitenden Härte, Gereiztheit und Diskussionsverweigerung, die auch bei vielen anderen Themen zu beobachten ist. Diese allgemeine gesellschaftliche Überspanntheit könnte man als psychische Entsprechung eines aus dem Ruder laufenden, bis zum Zerreißen gespannten ökonomischen Systems betrachten, das an den Nerven aller darin Eingewobenen immer unnachgiebiger und brutaler zerrt.
Es lässt sich annehmen, dass die Möglichkeit des eigenen Irrtums für einen Menschen in der Corona-Krise immer dann in besonders bedrohliche Nähe rückt, wenn Tausende oder sogar Zehntausende Menschen öffentlich gegen die Entscheidungen der Regierung protestieren. Einem selbstkritischen, zur Reflexion fähigen Menschen eröffnet sich dann die Frage, ob diese Demonstranten vielleicht vernünftige Argumente haben könnten. Dass ein Journalist oder Politiker diese Frage in seinem Inneren zulassen kann, dass er oder sie in der Lage ist, darüber nachzudenken, und damit diese Angst vor dem eigenen Irrtum ins Bewusstsein treten zu lassen, ist ein wesentlicher Schlüssel zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung.
„Der Andere könnte recht haben“
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900-2002), bekannt für seinen Satz „Der Andere könnte recht haben“, zitierte in einem Interview zu seinem 100. Geburtstag Hegel: „Ein gebildeter Mensch ist ein Mensch, der mit den Gedanken des anderen mitgehen kann.“ Gebildet sei, so Gadamer, wer „seine Selbstliebe überwinden“ könne, „sodass er hört, was der andere sagen will.“ Heute erleben wir vor allem das Gegenteil.
Verwunderlich ist daran wenig. Wer auf der Grundlage der offiziellen Gefahreneinschätzung über Monate hinweg immer wieder erklärt, dass Regierungskritiker „Spinner“ seien, da sie die Gefahr eben verharmlosten, der besitzt selbstverständlich kaum noch innere Motivation, diese Gefahreneinschätzung kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Denn daran hängt ja seine Abwertung und Ausgrenzung der Anderen sowie, damit verknüpft, seine oder ihre Rechtfertigung von Regierungshandeln, dass Leid für Millionen Menschen erzeugt hat. Es existiert daher nicht nur kein Anreiz zum Infragestellen, sondern, viel dramatischer: Es liegt eine immense Bedrohung im Hinterfragen, da das Eingeständnis eines eventuellen Irrtums inzwischen mit dem Eingeständnis der Mitschuld an dem millionenfachen Leid verbunden ist – eine unfassbare Last.
Die Angst vor diesem Irrtum und dieser Last wird selten voll ins Bewusstsein treten. Jeder Mensch wird sich davor schützen, so gut er oder sie es kann, vor allem, indem der eigene Standpunkt systematisch gegen Verunsicherung abgeschottet wird.
In dieser tristen und ausweglos erscheinenden Situation befinden sich heute große Teile der Medien, der Parlamente, der öffentlichen Verwaltung, der Wissenschaft – und leider auch der Justiz. Die ständige Alarmstimmung erscheint, so betrachtet, auch als Selbstschutz, als Abwehr der Möglichkeit des eigenen Irrtums. Man versichert sich immer wieder aufs Neue der Richtigkeit der eigenen Warnungen. Über jede Studie, die das bestätigt, wird prominent berichtet, jede anderslautende Studie als „Verharmlosung“ kritisiert oder beschwiegen.
Dass etwa die Helios-Unternehmensgruppe, mit 89 Kliniken einer der größten Krankenhauskonzerne in Deutschland, Tag für Tag seine Corona-Belegungszahlen veröffentlicht, die schon seit Monaten keine dramatische Lage erkennen lassen – und damit so gar nicht zu den Fallzahlen des Robert Koch-Instituts passen –, wird konsequent ausgeblendet (hier die aktuellen Daten, Stand 29. März 2021).
Medien wie Politik wähnen sich in einer Art Krieg – gegen das Virus, gegen Andersdenkende – und können folgerichtig auch nur noch in einer binären Kriegslogik handeln: Aufgeben oder so lange eskalieren, bis der Gegner vernichtet ist, bis alle einer Meinung sind und die Möglichkeit des eigenen Irrtums damit scheinbar verschwunden. Man könnte argumentieren, dass all diejenigen, die ein solches Ende nicht wollen, so bald wie möglich aufhören sollten, an diesem Krieg teilzunehmen – oder, um in der Metapher zu bleiben: zu desertieren und nicht mehr für diese Medien und diese Regierungen zu arbeiten.
Es geht auch in kleineren Schritten – etwa, wenn mehr Menschen in Politik und Medien es zulassen, die Möglichkeit des eigenen Irrtums zumindest zu erwägen – und damit auch die Angst vor der eigenen Mitschuld als zutiefst verunsichernde Emotion in all ihrer Bedrohlichkeit zuzulassen. Das wäre ein Weg, der von der Spaltung wegführt, der Dialog über den Graben hinweg ermöglicht – und damit auch gesellschaftlichen Frieden.
Protagonisten wie Merkel, Söder, Scholz oder Wieler ist dieser Weg inzwischen so gut wie verschlossen. Doch vielen anderen, die sich weniger klar exponiert haben, steht er weiterhin offen.
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Die Bücher „Wir sind die Guten“, „Wer regiert das Geld?“ und „Chronik einer angekündigten Krise“ von Paul Schreyer werden in diesem Zusammenhang empfohlen.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 29. März 2021 im Magazin multipolar.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: pathdoc / shutterstock
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