Die Auseinandersetzungen in der Ostukraine sind nach wie vor der gefährlichste Konflikt, mit dem wir es derzeit zu tun haben. Dort brennt eine Zündschnur, aber darüber wird kaum noch berichtet. Griechenland, Terroranschläge, der Krieg in Syrien und seit Monaten nun der Flüchtlingszustrom überlagern sämtliche anderen Probleme, die es zu diskutieren und zu lösen gälte, vor allem die Lage in der Ukraine. Den Politikern, denen die Leitmedien assistieren, ist das offensichtlich recht. Doch es bedarf nur eines Funkens, und die Situation gerät außer Kontrolle. Dass der Krieg in Syrien den Anlass geben könnte, ist zu bezweifeln. Denn trotz der Provokationen durch die Türkei, wird sich Russland kaum auf eine Konfrontation mit dem NATO-Mitglied einlassen. Syrien ist fern, dagegen beträgt die Entfernung von Kiew nach Moskau nur 750 Kilometer. Das „Schachbrett“ (siehe Zbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht“) ist Eurasien, der Brennpunkt die Ukraine.
Vierter Auszug aus dem Buch von Wolfgang Bittner. Erweiterte Neuausgabe, Westend Verlag, Frankfurt am Main, November 2015.
Restauration und Indoktrination
Das angebliche Eintreten für Demokratie und Recht hat sich als Vorwand für eine Politik entlarvt, die im machiavellistischen Sinn – der Zweck heiligt die Mittel – die ganze Welt destruiert. Zu Recht sagte Egon Bahr, einer der entscheidenden Vordenker der Entspannungspolitik Willy Brandts: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.«(1) Das zeigt sich bei fast allen sogenannten »humanitären Einsätzen« der vergangenen Jahre. Bahr war der Auffassung, »dass wir in einer Vorkriegszeit leben«.
Die Menschen werden manipuliert, sie werden drangsaliert, überwacht, abgezockt, in Kriege, Mord und Totschlag verwickelt, aber das alles wird als Normalität vermittelt. Ein großer Teil der Bevölkerung verblödet (Couch-Potatoes und »Tittitainment«) oder zieht sich ins Private zurück. »Was kümmert’s mich, solange es mir gut geht«, ist zu hören. Oder: »Sie sind sowieso alle korrupt …« Viereinhalb Millionen Hartz-4-Empfänger in Deutschland, Kinderarmut, ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb oder am Rande des Existenzminimums. Nachts im Fernsehen: Blut und Sperma, Dreck und Horror; in den Kinderzimmern – soweit vorhanden – Kitsch und Kram.
In den Mittelmeerstaaten sind mehr als fünfzig Prozent der jungen Menschen arbeitslos, ein Rettungspaket nach dem anderen wird verabschiedet: Geld für die Banken. Und Geld natürlich für die Rüstung. NATO-Generalsekretär Rasmussen fordert die Mitgliedstaaten der Militärallianz auf, angesichts einer »neuen Sicherheitslage in Europa«(2) ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen, und Bundespräsident Gauck verlangt »ein Ja zu einer aktiven Teilnahme an Konfliktlösungen im größeren Rahmen«, auch mit militärischen Mitteln.(3) Die Bevölkerung wird zur Kasse gebeten, in den Städten und Gemeinden werden viele der sozialen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte abgebaut.
Die NSA (National Security Agency), eine Verbrecherorganisation, die im Auftrag der kriminellen US-Regierung die ganze Welt ausspäht und überwacht, macht weiter wie bisher, als gäbe es weder nationales noch internationales Recht. Auch die deutschen Dienste, die mit der NSA zusammenarbeiten, bleiben unbehelligt, ihre Budgets wurden noch aufgestockt. Die Untersuchungen zum NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), dem neun ausländische Mitbürger und eine Polizistin zum Opfer fielen, verlaufen im Sande; Beweise wurden vernichtet, die Haupttäter sind unter seltsamsten Umständen ums Leben gekommen und samt Beweismaterial verbrannt. Es wird vertuscht, abgewiegelt, gelogen, dass sich die Balken biegen, doch das alles hat keine Konsequenzen.
Wer hätte um die Jahrtausendwende gedacht, dass es so offensichtlich so weit kommen könnte? Was ist aus den guten Ansätzen geworden? Wer erinnert sich noch an Willy Brandts »Wandel durch Annäherung«? Dass viele Hoffnungen durch Morde an Politikern wie Patrice Lumumba, Salvador Allende, Olof Palme oder Jitzchak Rabin zunichte gemacht wurden, ist lange vergessen. Die Bevölkerung wird abgelenkt, mit Halbwahrheit, Lügen und Hetze bombardiert. Wer nicht mitmacht, wer sich querstellt, wird disqualifiziert, diffamiert oder – was noch wirkungsvoller ist – totgeschwiegen.
Kriegsvorbereitungen
Wir lesen, sehen und hören, Russland habe sozusagen aus heiterem Himmel die Krim annektiert, ein Zivilflugzeug abgeschossen, Soldaten in die umkämpfte Ostukraine geschickt; Putin, der „Gottseibeiuns“, der überhaupt hinter allem stecke, habe die Ukraine destabilisiert. Deswegen müsse noch mehr aufgerüstet und die Schraube der Wirtschaftssanktionen immer mehr angezogen werden, koste es uns was es wolle. Die essentiellen Fragen bleiben unbeantwortet: Warum sollte der russische Präsident ein Zivilflugzeug abschießen lassen? Welches Interesse sollte Russland daran haben, sein Nachbarland Ukraine, mit dem es umfangreiche Handelsbeziehungen hatte, ins Chaos zu stürzen? Warum sind die westeuropäischen Regierungen niemals auf die jahrelangen Kooperationsangebote des russischen Präsidenten eingegangen? Was sind die wahren Hintergründe des Ukraine-Konflikts und der Spaltung Europas? (…)
Inzwischen werden in Kreisen der NATO-Strategen für einen Ernstfall, also eine militärische Auseinandersetzung mit Russland, begrenzte taktische Atomschläge nicht mehr ausgeschlossen. Was das für die deutsche Bevölkerung bedeuten könnte, liegt auf der Hand. Denn seit langem ist bekannt, dass sich u.a. in Büchel in Rheinland-Pfalz einsatzfähige Atomwaffen befinden, über die das US-Militär verfügen kann.(4) Sollte es zu einer militärischen Konfrontation unter Einsatz taktischer Atomwaffen kommen, ist davon auszugehen, dass nach zu erwartenden Gegenschlägen von Deutschland nicht mehr viel übrig bliebe.
Seit die NATO nach Osten vorrückt und insbesondere seit Beginn des Ukraine-Konflikts rüstet auch Russland wieder massiv auf, allerdings defensiv. Aber die Bild-Zeitung berichtet: „Der Westen wirft Russland vor, mit Manövern und Raketentests die Spannungen wegen der Ukraine-Krise aufzuheizen.“(5) Weiter heißt es, Russland verfüge über 60 fest installierte und 18 mobile Interkontinentalraketen des Typs Topol-M, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können und eine Reichweite von 11.000 Kilometern haben. Diese Topol-M-Rakete sei eine der gefährlichsten Waffen der Russen. Sie gelte als „Gegenstück zum amerikanischen Raketenabwehrschild“ und sei geeignet, nach einem nuklearen Angriff einen Gegenangriff zu starten. Das erfahren die Bild-Zeitungs-Leser eher beiläufig, als sei die erneute atomare Bedrohung der Menschheit das Normalste von der Welt.
Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri verfügt Russland zurzeit (Mitte 2015) über 7.500 Nuklearwaffen, darunter 1.780 einsatzbereite atomare Sprengköpfe. Demgegenüber besitzen die USA 7.260 Nuklearwaffen, von denen 2.080 jederzeit einsatzbereit sind.(6) Zwar dürfte Russland bei einem Angriff der NATO mit konventionellen Waffen unterlegen sein, aber es verfügt „über eine atomare Zweitschlagkapazität, die den angreifenden Staat nach der Maxime ‚wer zuerst schießt, stirbt als zweiter‘ vernichten würde.“(7)
Obwohl anscheinend immer mehr europäische Politiker begreifen, wohin die Militarisierung und Sanktionspolitik führen kann, nämlich zu einem offenen Krieg mit Russland, den niemand gewinnen würde, verhalten sie sich gegenüber den USA nach wie vor unterwürfig. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist stolz auf die „Speerspitze“, ein im Aufbau befindliches multinationales Landstreitkräftekontingent von 5.000 Soldaten unter deutscher Führung.(8) Deutschland ist also maßgeblich an den Aggressionen und Provokationen gegen Russland beteiligt. Wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekannt gab, soll die schnelle Eingreiftruppe, zu der die Speerspitze gehört, von etwa 25.000 Soldaten auf bis zu 40.000 Soldaten aufgestockt werden.(9)
Quellennachweise:
(1) Egon Bahr, Egon Bahr schockt die Schüler:›Es kann Krieg geben‹; zit. n.: https://lampedusasolidarity.wordpress.com/2013/12/07/egon-bahr-schockt-schuler-ich-ein-alter-mann-sage-euch-dass-wir-in-einer-vorkriegszeit-leben-hitler-bedeutet-krieg-habe-sein-vater-1933-zu-ihm-gesagt-als-heranwachsender-habe-er-das-n/ (22.09.14).
(2) »NATO denkt über ›neue Sicherheitslage‹ in Europa nach«; in: Deutsche Welle; zit. n.: http://www.dw.de/nato-denkt-über-neue-sicherheitslage-in-europa-nach/a-17678150 (23.09.14).
(3) Hans-Joachim Wiese, Gauck: ›Auch zu Waffen greifen‹; zit. n.: http://www.deutschlandfunk.de/aussenpolitik-gauck-auch-zu-waffen-greifen.694.de.html?dram:article_id=289120 (22.09.14).
(4) Focus, Nukleare Bedrohung: Hier lagern in Europa Atomwaffen, 6.3.2015, http://www.focus.de/politik/videos/keine-chance-fuer-abruestung-nukleare-bedrohung-hier-lagern-in-europa-atomwaffen_id_4527232.html.
(5) Bild-Zeitung, Putins Truppen testen atomwaffenfähige Rakete, 22.8.2015, http://www.bild.de/politik/ausland/wladimir-putin/laesst-atomrakete-testen-42288796.bild.html.
(6) Welt/Reuters/AFP/AP/coh, NATO-General warnt vor Putins starker und moderner Armee, 16.6.2015, http://www.welt.de/politik/ausland/article142600291/Nato-General-warnt-vor-Putins-starker-und-moderner-Armee.html. So auch Ralph Hartmann, Die russische Gefahr, Ossietzky Nr. 18 v. 12.9.2015, S. 657.
(7) Ralph Hartmann, a.a.O.
(8) Zeit Online, Nato will schnelle Eingreiftruppe vergrößern, 5.2.2015, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/nato-ukraine-eingreiftruppe.
(9) Focus Online, Nato verdreifacht ihre Speerspitze in Osteuropa, 24.6.2015, http://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-konflikt-nato-stockt-spezialeinheiten-massiv-auf_id_4772578.html.
Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Buchauszuges.
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