Der eurasische Raum als geopolitischer Dreh- und Angelpunkt. Auszug aus dem soeben erschienenen Buch „Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise”
Von Wolfgang Bittner.
Die Aufteilung der Welt nach der Herzland-Theorie von Halford Mackinder
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte der britische Geograf Halford Mackinder (1861–1947) die sogenannte Herzland-Theorie von der „Weltinsel“, die aus den zusammenhängenden Kontinenten Europa, Asien und Afrika besteht.(1) Nach dieser Theorie, die sich später der polnisch-US-amerikanische Politologe und langjährige Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski (1928–2017) in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ (1997) zu eigen machte, beherrscht das Herzland, wer über Osteuropa verfügt – in dessen Zentrum die Ukraine liegt –, und wer die Herrschaft über Osteuropa besitzt, beherrscht die Weltinsel und damit die Welt.(2) Die antiquiert anmutende Grundidee Mackinders, die jedoch nicht voreilig abgetan werden sollte, lautet:
„Who rules Eastern Europe commands the Heartland
Who rules the Heartland commands the World Island
Who rules the World Island commands the World.“(3)
Mackinder sah durch eine sich aus dem Zentrum des eurasischen Kontinents entfaltende Landmacht, die unabhängig von den Weltmeeren wäre, die Vorherrschaft der britischen Seemacht und damit die universale Hegemonie Englands gefährdet. In diese Richtung wies die fortschreitende technische Entwicklung, die eine wirtschaftliche und verkehrsmäßige Erschließung weiter Teile des Kontinents ermöglichte. Mackinders „Herzland“ war das Gebiet des Russischen Reiches und der späteren Sowjetunion, und seine Theorie stellte seinerzeit eine Warnung vor dem Verlust der britischen Dominanz dar.
Die USA haben in diesem Konstrukt keine herausragende, großartige Bedeutung, die sie jedoch beanspruchen. Daraus wird ersichtlich, warum sie – in Fortsetzung der Imperialpolitik Englands – eine Kooperation Deutschlands mit Russland seit mehr als einem Jahrhundert verhindern und seit dem Ende der Sowjetunion auf einen Regimewechsel in der Ukraine hingearbeitet haben, was in Russland mit der Regierung Jelzin nicht ganz gelungen war, in Kiew aber 2014 schließlich zum Erfolg führte.
Als souveräner Staat existiert die Ukraine erst seit dem Ende der Sowjetunion. Eine erste Staatsgründung reicht allerdings ins 9. Jahrhundert zurück, in die Epoche der Kiewer Rus, einem Großreich auf dem Gebiet der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland, dessen politisches und kulturelles Zentrum Kiew war.(4) An die angeblich glorreiche Vergangenheit der Kiewer Rus knüpfen heute nationalistische Kräfte an.
Zbigniew Brzezinski schrieb Ende der 1990er-Jahre: „Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr … Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges, Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.“(5) Das war eine Hauptsorge der USA mit ihrem unipolaren Anspruch, und deshalb bemächtigten sie sich der Ukraine sozusagen auf „kaltem Wege“, wogegen sich in Westeuropa kaum Widerstand regte. Im Gegenteil, die Europäische Union begrüßte die Erweiterung ihres Wirtschaftsraumes und Einflussgebietes und in Billigung der Interventionspolitik der USA die Schwächung Russlands. (…)
Das One-Belt-One-Road-Projekt im “Herzland“
Peking und Moskau planen im Rahmen der 2001 gegründeten Shanghai-Cooperation unter Einbeziehung der übrigen BRICS-Länder und weiterer Staaten den Aufbau eines interkontinentalen Infrastruktur-Netzes von China über Wladiwostok und Sibirien bis Moskau und Westeuropa, an das auch Indien, Afrika und der arabische Raum angeschlossen sind.(6) Dazu gehört die verkehrsmäßige und wirtschaftliche Erschließung bisher peripherer Regionen mit ihren Ressourcen. Gelingt dies, würde unabhängig von den Flugzeugträgern der USA ein gigantischer Binnenmarkt auf der größten zusammenhängenden Landfläche der Welt entstehen, und zwar mit der Folge, dass die Vereinigten Staaten nur noch eine übermäßig hochgerüstete Regionalmacht zwischen Pazifik und Atlantik wären. Von China wurden für dieses Vorhaben, das auch den Ausbau der ursprünglichen Seidenstraße umfasst, mehr als 1000 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt.
Die USA versuchen das Projekt Neue Seidenstraße mit allen Mitteln zu hintertreiben, unter anderem durch die allein dem eignen Vorteil dienende Abspaltung Westeuropas von Russland sowie durch die Entziehung von Wirtschaftskraft. Die Sanktionen, denen sich die europäischen Staaten auf Druck aus Washington angeschlossen haben, sind eine von zahlreichen Maßnahmen. (…)
Natürlich ist die Dominanz Chinas mit seiner Überproduktion, für die immer mehr Absatzmärkte benötigt werden, zu berücksichtigen, ebenso der militärisch-strategische Aspekt. Für Russland, das an dem Projekt beteiligt ist, dürfte es nach der Trennung von Westeuropa schwer sein, dem chinesischen Übergewicht standzuhalten. Damit könnte im Osten Russlands eine – von den USA offenbar angestrebte – konfrontative Situation entstehen. Dem müsste eine Neuorientierung der europäischen Politik Rechnung tragen, was jedoch sträflicherweise nicht geschieht. Insofern steht Wladimir Putin mit dem Rücken zur Wand. Da die Außenpolitik Deutschlands und der EU von Washington mitbestimmt wird, fehlt es an einer eigenen wirtschaftspolitischen Strategie. Das gilt nicht nur für die Beziehungen zu Russland, sondern auch hinsichtlich des Neue-Seidenstraße-Projekts.
Zu registrieren ist, dass die US-Wirtschaft im Handel mit Russland keine Einbußen verzeichnet. Die Vereinigten Staaten haben es geschafft, Europa zu dessen Lasten und auf dessen Kosten wieder zu spalten, die über Jahre hinweg sich verbessernden Verbindungen zwischen Russland und Deutschland zu unterbrechen und eine akute Kriegsgefahr in Europa heraufzubeschwören. Zum Seidenstraßengipfel in Peking schickten sie keinen Vertreter, und hinsichtlich des Verhältnisses zu Russland wird sich voraussichtlich erst einmal nichts ändern. Das Land soll sich den westlichen Kapitalinteressen öffnen, was zwar vorteilhaft für den Westen wäre, aber – wenn man sich die Verhältnisse in der Ukraine ansieht – nicht für die russische Bevölkerung.
Quellen:
(1) Halford Mackinder: The geographical pivot of history, 1904. In: Democratic Ideals and Reality, web.archive.org/web/20090305174521/www.ndu.edu/inss/books/Books%20-%201979%20and%20earlier/Democratic%20Ideals%20and%20Reality%20-%201942/DIR.pdf
(2) Vgl. http://cfschultze.de/wp-content/uploads/mackinders-heartland-theorie.pdf
(3) Halford Mackinder: Democratic Ideals and Reality, Washington 1919, Neuausgabe 2015, S. 106
(4) Dazu: Erich Donnert: Das Kiewer Russland – Kultur und Geistesleben vom 9. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert, Urania, Leipzig 1983
(5) Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, S. Fischer, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2001, S. 74 f
(6) Das One-Belt-One-Road-Projekt, jetzt auch „Neue Seidenstraße“ genannt, ist bereits seit Jahren unter Wirtschafts- und Finanzanalysten sowie in alternativen Medien im Gespräch. Siehe Wolfgang Bittner: Die Eroberung Europas durch die USA, Westend, Frankfurt am Main 2017, S. 133 f. mit weiteren Nachweisen.
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Siehe auch KenFM im Gespräch: https://kenfm.de/wolfgang-bittner-die-heimat-der-krieg-und-der-goldene-westen/
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Bildhinweis: Buchcover “Der Neue West-Ost-Konflikt”
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