Die Idee, dass uns nichts erspart bleibt, hat etwas Tröstliches

Was unsere innere Stimme uns zu Bewusstsein bringen könnte.

Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

von Dirk C. Fleck.

Ich weiß, solche Daten werden nicht erfasst, jedenfalls nicht von der weltweiten Schnüffelmaschine des Tiefen Staates. Aber rein theoretisch müsste sich der ökologische Fußabdruck, den wir während unserer irdischen Existenz hinterlassen, messen lassen.

Wenn am Ende abgerechnet wird, steht doch zweifelsfrei fest, was jeder Einzelne von uns im Laufe der ihm zugestandenen Jahre hier veranstaltet hat. Es steht fest, wie viel Liter Benzin wir verbraucht haben, um unseren Hintern von A nach B zu bewegen. Es steht fest, wie viel Kilo Fleisch wir verspeist haben, wie viel Wasser wir verbraucht haben, wie viel Waschmittel von uns in die Flüsse geleitet wurde und was wir der Umwelt an Plastikmüll zugeführt haben, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Und wer weiß denn, ob die Daten, die über unser fahrlässiges Verhalten Aufschluss geben, nicht doch irgendwo gespeichert sind und somit entscheidenden Einfluss nehmen auf unsere zukünftige Existenz?

Zukünftige Existenz?! Nicht gleich aufregen, Leute! Mir ist schon klar, dass die meisten Menschen mit dem Begriff Reinkarnation nichts am Hut haben, dass sie schon die Erwähnung dieses Wortes für esoterisches Geschwurbel halten, was letztlich ihre Lebensweise erklärt, die der Satz „Nach mir die Sintflut!“ ja trefflich beschreibt.

Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott

Aber jeder könnte zumindest einmal darüber nachdenken. Wenn die Idee von der Wiedergeburt einen Sinn ergibt, dann doch nur wegen der Vorstellung, dass sie uns nacheinander in jede denkbare materielle Form zwingt. So könnten wir zu einem übergreifenden Verständnis gelangen, das uns aus dem Leid erlöst, welches unabdingbar mit jeder menschlichen, an den Körper gebundenen Existenz verknüpft ist. Aus diesem Verständnis heraus werden wir also sowohl der Baum gewesen sein, den wir gefällt haben, als auch die Ameise, die wir unter unseren Füßen zertraten. Wir werden die Erfahrungen eines Silvesterkarpfens ebenso gemacht haben, wie die eines Tigers im Zoo. Wir werden den Autoreifen so wenig entkommen sein, wie die Kröten auf ihrer Wanderung zu eben jenem Ziel, das uns allen gemeinsam ist. Wir werden uns sowohl schuldig als auch unschuldig gefühlt haben. Wir werden Herrscher und Besiegte in uns vereinigen, jeder Schmerz, jede Freude, jeder Wahnsinn wird uns schließlich vertraut sein.

Die Idee, dass uns nichts erspart bleibt, hat auch etwas Tröstliches. Besagt sie doch letztlich: In all unserem Tun können wir uns nur ans uns selbst vergreifen. Um für diese Erkenntnis offen zu werden, gilt es, den Angstknoten in uns zu lösen, jenes Geschwür der Seele, das sich in vordergründigen Sicherheiten versteckt. Dessen Eiter ist die Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass sich nichts, aber auch gar nichts an egoistischer Attitüde dem Leben gegenüber verteidigen lässt. Früher oder später müssen wir erkennen, dass wir Teil eines einzigen und einzigartigen Körpers sind. Wie hatte Friedrich Schiller so richtig gesagt: Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott.

Okay, ich will Sie nicht länger mit meinem „Geschwurbel“ nerven. Eigentlich wollte ich mit Ihnen nur ein kleines Gedankenspiel spielen. Angenommen, nur mal angenommen, es gäbe eine Instanz, so eine Art innere Stimme, der wir total vertrauen, wenn sie sich meldet. Gesetzt den Fall, diese innere Stimme würde uns sagen, wann wir sterben werden. Nicht das Datum, das nicht. Die Stimme macht den Zeitpunkt unseres Ablebens an unserem Konsumverhalten fest.

So erfährt der eine, dass seine Zeit gekommen ist, wenn er die letzte der ihm noch zustehenden 35 Kilo Plastikmüll entsorgt hat. Ein anderer erfährt, dass er 2289 Liter Benzin zugebilligt bekommt, und wenn die verfahren sind, ist Schluss auf Erden. Einem Dritten werden noch 64 Kilo Fleisch zugestanden, bevor er stirbt. Und dem Vierten wird sein Ende vorausgesagt, sobald er auch nur eine Sekunde länger im Internet surft, als 3700 Stunden. Das Internet, so erführe er bei dieser Gelegenheit, ist nämlich weltweit der drittgrößte Energiefresser, Tendenz steigend.

Wie würden diese Menschen reagieren? Wie gesagt, sie zweifeln nicht im Geringsten an der Prophezeiung ihrer inneren Stimme. Ich vermute, jeder der vier hier Genannten würde extrem nachdenklich werden. Zumal ihnen schlagartig klar würde, dass sie einen Entzug zu durchlaufen hätten, gegen den sich das Abnabeln vom Heroin wie eine leichte Fingerübung ausnimmt. Der Autofahrer würde beginnen, seine Fahrten langsam einzuschränken, bis er sich irgendwann selbst ein Fahrverbot erteilt.

Das gleiche gilt vermutlich für den Internetsurfer: Er begänne, die Besuche im Netz nach Nützlichkeit und Notwendigkeit abzuwägen. Der Fleischesser täte sich mit dem Verzicht schon schwerer, er ist körperlich süchtig. Vermutlich würde er seinen Konsum nach der Prophezeiung rauschhaft steigern, um vor dem letzten Schnitzel eine Vollbremsung hinzulegen. Das letzte Schnitzel wäre so etwas wie die Pistole, die man unter der Wäsche versteckt hält – für den Fall, dass man unheilbar krank wird, pleite geht oder von der Frau verlassen wird. Das nennt man dann ein selbstbestimmtes Leben…

„Ich geh mal kurz zu Edeka“ ist nicht mehr

Am einfachsten scheint es die Person mit den 35 Kilo zugestandenem Plastikmüll zu haben. Aber das täuscht. Sie hat vermutlich die Arschkarte gezogen. Okay, Jute statt Plastik – null Problemo, sofort umsetzbar. Aber bereits beim Leeren der ersten Jutetasche stellte die Person fest, dass fast jedes Produkt aus dem Supermarkt eingeschweißt ist. Selbst die zwölf Himbeeren, die sie im Joghurt verrühren wollte, sind in Plastikfolie gewickelt. Aber hatte unsere Person nicht neulich von einem alternativen Supermarkt gelesen, der Waren pur verkauft, ganz ohne Verpackung? Also ab ins Internet. Gottseidank gab es in diesem Fall kein Stundenlimit. Und dann ab ins Auto. Zehn Kilometer hin zu der unverpackten Butter, zehn Kilometer zurück. Zum Glück sprach die innere Stimme auch nicht von einem begrenzten Benzinvorrat. Aber Vorsicht bei Möbeln und Kinderspielzeug, beim Autokauf und auch allen anderen Kaufaktionen. Arschkarte, sag ich doch.

Ich bin Anwohner und geh mal kurz zu Edeka ist nicht mehr. REWE, Penny, Netto und Konsorten stehen auch nicht zur Verfügung. Die großen Kaufhäuser ebenfalls nicht und auch nicht 99 Prozent der kleinen Läden. Wir stecken definitiv in der Plastikfalle. Und in ihr bezahlen wir mit Plastikkarten …

Während sich also drei von vier Menschen, denen ihre innere Stimme eine unumstößliche Wahrheit flüstert, durch Einsicht und Disziplin noch vor dem geweissagten Tod zu retten vermögen, scheinen wir als menschliche Gemeinschaft rettungslos verloren. Obwohl die Menetekel des Untergangs für uns alle unübersehbar geworden sind, obwohl sie an jeder Wand hängen und aus jedem Fernseher springen.

Der Ökozid ist nur deshalb überhaupt möglich, weil sich das Zerstörungswerk auf unendlich viele Schultern verteilt. Jeder einzelne von uns lädt von der Gesamtlast der alles niederwalzenden Zivilisationslawine allenfalls ein Mikrogramm auf seine Schulter. Diese „Minimenge“ kann er nach seinem Verständnis in keinen katastrophalen globalen Zusammenhang bringen. Warum also sollte jemand sein Auto verschrotten, wenn die Luft dünn wird? Wir kennen die Ausrede, mit der wir uns Absolution erteilen: Sie sind Schuld! Sie weigern sich, den Umweltschutz im Grundgesetz zu verankern. Sie setzen weiterhin auf Atomkraft. Neulich haben sie eine entsprechende Umfrage in Auftrag gegeben, aber im Grunde sind sie nur geldgeil. Wie wollen sie die Probleme jemals in den Griff kriegen? Nächste Woche sägen sie die Kastanien in meiner Straße ab, sie brauchen Parkplätze. Irgendwann ersticken sie noch mal in ihrem eigenen Dreck, aber feiern tun sie bis zum Ende. – He, Sie da! Haben Sie sie gesehen?

Was wir dringend bräuchten hat Wolf Bünting, Psychotherapeut und Gründer des ZIST (Zentrum für Individual- und Sozialtherapie), sehr treffend auf den Punkt gebracht. Und das, Herr Nachbar, ist machbar. Bünting sagt:

„Das Ziel ist, wieder dort anzuknüpfen, wo wir waren, bevor wir geprägt und konditioniert wurden. Das heißt, am Wesen der Person anzuknüpfen, an ihrem Dasein, an ihrem Interesse, an ihrer Wahrnehmung, an ihrer eigenen Würde, an ihrem Mitgefühl, am Gefühl für den eigenen Wert als Geschöpf, an der Aufrichtigkeit – so wie Kinder sind, bevor sie anfangen zu schauen, wem sie es recht machen können.“

Denn nicht nur was wir tun, sondern auch was wir denken und fühlen steht mit allen anderen Taten, Gedanken und Gefühlen sämtlicher Mitwesen auf diesem Planeten in ständiger Verbindung. Es bedingt einander, sodass aus diesem Konglomerat der jeweils augenblickliche Zustand der Welt erwächst.

Je mutiger unser Handeln, je klarer und gerechter unsere Gedanken und je tiefer unsere Gefühle, desto mehr tragen wir dazu bei, dass sich die „Gesamtlage“ zum positiven verändert.

Im Moment, das müssen wir wohl unumwunden zugeben, ist die Lage nicht berauschend. Ein Grund mehr, uns selbst und damit der Gemeinschaft aller Lebewesen etwas Gutes zu tun. Wer etwas Besseres vorhat, sollte sagen, was es ist. Dann wird er merken, dass er ganz schön alt aussieht.

„Wo materieller Fortschritt, wo Eroberungen von ganz äußerlicher Perfektion herrschen, an welcher weder unser Herz noch unser Menschenkörper teilhaben konnten, wo all das herrscht, was sich auf Bequemlichkeiten stützt und sich unter Ausschluss jedes inneren Fortschritts auf dieser Grundlage verfeinert, da hat sich echte Kultur nicht mehr entwickelt. Im Maße, wie wir Fortschritte machen und unser Einfluss auf die äußere Natur uns Wüsten beschert, die messbar sind, entgeht uns gleichsam der Himmel, und bei dieser Ausdrucksweise handelt es sich um ein Bild, das für die Realität nicht ohne Folgen ist”, schreibt Antonin Artaud (1896 – 1948), französischer Schauspieler, Dramatiker, Regisseur, Zeichner und Theater-Theoretiker.

+++

Dieser Beitrag erschien am 2.12.2017 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

+++

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

+++

Alle Beiträge von KenFM sind ab sofort auch auf der KenFM App verfügbar: https://kenfm.de/kenfm-app/

+++

Dir gefällt unser Programm? Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten hier: https://kenfm.de/support/kenfm-unterstuetzen/


Auch interessant...

Kommentare (18)

Hinterlassen Sie eine Antwort