Die langen Schatten des Ersten Weltkriegs – Teil 3 | Von Wolfgang Effenberger

Teil 3: Diplomatische Winkelzüge pflastern den Weg in den Krieg 

Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger. 

Nach den lärmend-ungestümen russisch-französischen Feiern in Petersburg beschleunigte sich die Fahrt in den Abgrund. Am 23. Juli 1914, dem Tag der Abreise des französischen Staatspräsidenten Poincaré und seines Ministerpräsidenten Viviani aus Petersburg, übergab um 18:00 Uhr der österreichische Gesandte Freiherr Wladimir Giesl von Gieslingen in Belgrad eine auf 48 Stunden befristete diplomatische Depesche mit 10 Punkten. Darin forderte Österreich-Ungarn von Serbien, alle serbisch-nationalistischen Aktivitäten sofort zu beenden und die Verantwortlichen des Attentats konsequent zu verfolgen. Am brisantesten waren die Punkte 5 und 6. Darin wurde gefordert, dass „…in Serbien Organe der K. u. K. Regierung bei der Unterdrückung der gegen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegung mitwirken“ (5) und in (6) „…eine gerichtliche Untersuchung gegen jene Teilnehmer des Komplottes vom 28. Juni einzuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der K. u. K. Regierung hierzu delegierte Organe wurden an den diesbezüglichen Erhebungen teilnehmen“.(1)

In einer Beilage wurden die Untersuchungsergebnisse der österreichischen Ermittlungsbehörden dem Ultimatum beigefügt: Die Pistolen und Bomben, deren sich die Verbrecher als Werkzeuge bedienten, entstammten einem serbischen Waffendepot, der ganze Plan sei in Belgrad unter Beihilfe von Major Vojislav Tankosić ausgeheckt worden, und Milan Ciganović habe in der Nähe von Belgrad die Mörder in der Handhabung der Granaten und Pistolen unterwiesen. Die Einschleusung der gedungenen Mörder sei mithilfe der serbischen Grenzhauptleute und Zollorgane organisiert worden.  

Die deutsche Regierung reagierte unmittelbar und ließ sofort in Petersburg, Paris und London erklären, sie wünsche dringend eine Lokalisierung des Konflikts zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, da jede Intervention einer anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unberechenbare Folgen herbeiführen könne.  

Ehe am Nachmittag des 24. Juli 1914 der russische Ministerrat tagte, fand in der französischen Botschaft eine Absprache zwischen Sergej Sasonow (RUS), Maurice Paléologue (F) und William Buchanan (GB) statt – ein ungewöhnlicher Vorgang! Der Ministerrat befasste sich dann in erster Linie mit der Frage, ob die innere Lage Russlands den Krieg gestatte. Diese Frage wurde anscheinend bejaht.

Aus Belgrad lag auch ein Telegramm des serbischen Prinzregenten Alexander vor, der den Zaren um Rat bat: „Wir sind bereit, jene Forderungen Österreich-Ungarns anzunehmen, die mit der Stellung eines unabhängigen Staates vereinbar sind sowie jene, deren Annahme Eure Majestät uns anrät.“(2) 

War Russland friedlich gesinnt, so musste es Belgrad raten, sich zu fügen. Doch das Kriegsfieber hatte in Russland bereits die herrschenden Kreise erfasst. Kurz vor Mitternacht des 23. Juli 1914 gab der deutsche Gesandte in Belgrad ein Telegramm auf und informierte das Auswärtige Amt über die serbischen Militärs, die kategorisch die Note ablehnen und Krieg fordern würden. Die Mobilisierung sei bereits in vollem Gange.(3)

Während Frau Pašić bereits sicher in Paris weilte, floh ihr Mann und Premierminister mit seiner Regierung überstürzt nach Saloniki. 

Über die Vorgänge in Petersburg gut informiert, schrieb die “Rjetsch”: 

„Augenscheinlich ist sich die russische Diplomatie des Ernstes der Lage nicht bewusst. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Serbien nach der russischen Note eine nicht völlig befriedigende Antwort geben wird und dass eine Ermunterung Serbiens bereits erfolgt ist, sodass ein Teil der Verantwortung für die Folgen Russland zufällt. Die einzige Möglichkeit für den Dreierverband, eine Hineinziehung in den Konflikt zu vermeiden, bleibt die Lokalisierung der serbischen Frage und die Vermeidung jeder Ermunterung Serbiens“. Es scheint, dass Serbien wohl bereit gewesen wäre, die Note einfach anzunehmen. Aber in Russland empfand man sie als eine gegen Russland gerichtete Provokation, auf die Russland in Tagen antworten müsse.(4)

Die K. u. K. Regierung erwartete die Antwort der königlichen Regierung Serbiens spätestens bis Samstag, den 25. Juli 1914 um 18.00 Uhr. Sollte sie nicht zustimmend ausfallen, würde das den Abbruch der diplomatischen Beziehungen nach sich ziehen.

Zweifelsohne gab es in Österreich-Ungarn Kreise, die im Krieg gegen Serbien die einzige Lösung erblickten. Aber ebenso gab es auch andere Strömungen. Am Ballhausplatz tobten erbitterte Kämpfe zwischen der Kriegspartei um Generalstabschef Conrad von Hötzendorf und der Friedenspartei rund um Außenminister Graf Tisza, der sich erfolgreich dafür eingesetzt hatte, dass Serbien unversehrt bleiben sollte.  

Schon in den frühen Morgenstunden des 25. Juli 1914 liefen die ersten Telegramme aus Petersburg in Belgrad ein. Um 04.00 Uhr wurde telegrafiert, dass Serbien mit Russlands Hilfe rechnen könne. Sechs Stunden später wurde Serbien geraten, es solle erklären, dass es sich nicht mit Waffen gegen eine Großmacht verteidigen wolle und könne – das entsprach noch den provisorischen Entschlüssen des russischen Ministerrates vom Tag zuvor. Um 11.30 Uhr wurde nach Belgrad gemeldet, dass der russische Ministerrat beschlossen habe, zur Mobilisierung zu schreiten. Zwischen 11.00 Uhr und 12.00 Uhr wurde in Petersburg vom Kronrat beschlossen, die Mobilmachung vorläufig nicht zu verkünden, dafür aber die im März 1913 eingeführte “Kriegsvorbereitungsperiode” anzuordnen.

Im Kronrat habe der Zar in aller Deutlichkeit die Notwendigkeit, Serbien zu unterstützen, vor Augen geführt, „…auch wenn man dazu die Mobilmachung erklären und Kriegshandlungen beginnen müsse, jedoch nicht eher, als bis österreichische Truppen die serbische Grenze überschritten hätten“.(5)

Diesem Kronrat hätten auch Nikolai Nikolajewitsch und der Generalstabschef beigewohnt. Nach seiner Rückkehr aus Zarskoje Selo berichtete der französische Militärattaché General de Laguiche: „Der Kriegsrat habe die größte Kriegslust gezeigt und den Beschluss gefasst, zum Schutze Serbiens bis zum Äußersten zu gehen, insbesondere habe der Zar durch seine Entschlossenheit alle überrascht.“(6) 

Der französische Botschafter Paléologue fasste als Ergebnis dieser Sitzung zusammen: Russland wird 13 Armeekorps (bzw. 39 Divisionen) gegen Österreich mobilisieren, diese Maßnahme jedoch erst dann veröffentlichen, wenn Österreich Serbien mit Waffengewalt zwingt. Nach Paris telegrafierte er, dass für die Militärdistrikte Kiew, Odessa, Kasan und Moskau Mobilmachung anbefohlen sei. Für die Militärbezirke Wilna, Warschau und Petersburg seien geheime Weisungen ergangen.(7) Über die Städte und Gouvernements St. Petersburg und Moskau sei der Belagerungszustand verhängt worden.(8) 

Am Nachmittag gegen 16.00 Uhr hieß es dann aus Petersburg: „Alle Vorbereitungen für die Mobilisierung angeordnet, welche sogleich verkündet werden, falls der österreichisch-ungarische Gesandte Belgrad verlassen würde“.(9)

Zu diesem Zeitpunkt erwartete der österreichische Gesandte Wladimir Freiherr Giesel keine Antwort mehr und begann, seine Koffer zu packen, um nach Ablauf der Frist noch um 18.30 Uhr den Schnellzug nach Budapest nehmen zu können.

Doch nur wenige Minuten vor 18.00 Uhr erschien zu seiner Verblüffung der serbische Ministerpräsident Nikola Pašić und überreichte ihm eine in aller diplomatischer Raffinesse abgefasste Antwort-Note, die der Gesandte Giesel nur überfliegen konnte. Umgehend übergab er Pašić die vorbereitete österreichische Antwort, die der serbischen Regierung den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mitteilte. Giesel erreichte gerade noch seinen Zug in Richtung. Budapest. Serbien leitete inzwischen die Räumung Belgrads ein.

Zur gleichen Zeit erfolgte einige Tausend Kilometer ostwärts die Beförderung der jungen russischen Offiziere, die eigentlich nach der Tradition erst am 18. August 1914 stattfinden sollte. 

In ihrer Antwortnote hatte sich die serbische Regierung viel Mühe gegeben, die meisten Forderungen von Österreich-Ungarn elegant und nichtssagend zurückzuspielen. Die von Wien geforderte Erklärung: „Die Königliche Regierung bedauert, dass serbische Offiziere und Funktionäre … mitgewirkt haben….“ wurde übernommen und auf raffinierte Weise modifiziert. Sie lautete: „Die Königliche Regierung bedauert, dass laut der Mitteilung der K.u.K. Regierung gewisse serbische Offiziere und Funktionäre an der eben genannten Propaganda mitgewirkt und dass diese damit die freundnachbarlichen Beziehungen gefährdet hätten, zu deren Beobachtung sich die Königliche Regierung durch die Erklärung vom 31. März 1909 feierlich verpflichtet hatte.“ 

Auf den ersten Blick eine zustimmende Antwort – doch nur auf den ersten! Mit dem Beisatz „…laut der Mitteilung der K.u.K. Regierung“ vermied die serbische Regierung jede Mitverantwortung und behielt sich für die Zukunft freie Hand. Den anderen Forderungen wurden in ähnlicher Manier zugestimmt; nur die Forderung 5 wurde indirekt und die Forderung 6 direkt abgelehnt. Letztere erregte heftigen Widerspruch, da sie angeblich nicht mit der serbischen Souveränität vereinbar sei. Unter diesem Punkt verlangte das Ultimatum die Teilnahme österreichisch-ungarischer Organe an den das Komplott betreffenden Ermittlungen.(10) 

„Da der Versuch, die serbischen Mitschuldigen bei dieser Tat zu strafen, Ausflüchten begegnete“, schrieb Bertrand Russell, „griff Österreich nach einiger Zeit zu einem Ultimatum, welches unter anderem forderte, dass beim Gerichtsverfahren gegen verdächtige Serben auch österreichische Beamte teilnehmen. Wäre der Prinz von Wales an den Grenzen Afghanistans ermordet worden und wir hätten Grund, zu glauben, dass die Afghanen an seiner Ermordung schuldig sind, dann hätten wir wahrscheinlich mit der vollen Unterstützung von Englands öffentlicher Meinung ein ähnliches Begehren gestellt.“(11)

Im Gegensatz zu Russell hatte der englische Außenminister Edward Grey kein Verständnis für Österreich und verstieg sich sogar dazu, das Ultimatum als „das übelste Schriftstück, das je von einem Staat an einen anderen gerichtet wurde“(12) zu bezeichnen. 

Schon drei Stunden nach Übergabe der Antwort-Note erfolgte die serbische Mobilmachung.(13) Die Donau-Monarchie antwortete sechs Stunden später ihrerseits mit der Teilmobilmachung von acht Armeekorps.(14) Wie die Kämpfe später zeigten, konnte Serbien schnell, umfassend und sehr erfolgreich mobilisieren – unerwartet kam da anscheinend nichts.

So geriet in der Zeit zwischen dem 23. Juli 1914 (18.00 Uhr) und derselben Stunde des 25. Juli 1914 das Räderwerk der Kriegsmaschine unaufhaltsam in Bewegung.

Bis dahin hatte Kaiser Wilhelm II. den Rat seines Kanzlers befolgt, weder die deutsche Flotte in die Heimathäfen zu beordern, noch selbst in die Heimat zurückzukehren.  

Im norwegischen Gewässer Odde am Utnefjord hatte am 25. Juli 1914 die deutsche Marineführung die Meldung erreicht, dass sich die englische Flotte (Home-Fleet) nach der Manöver-Revue von Spithead nicht wie üblich auflöste, sondern als Verband in den Nordseehäfen verblieb.(15) Daraufhin wurde die alljährliche Nordlandreise abgebrochen und die vor Jütland liegende deutsche Flotte kehrte nach Wilhelmshaven und Kiel zurück.  

Sonntag, 26. Juli 1914 

Die Absicht Serbiens und Russlands, die Frage der österreichisch-ungarischen Sühneforderungen zu einer Machtfrage zwischen den europäischen Bündnisgruppen eskalieren zu lassen, wollte Berlin im Interesse des Friedens unterlaufen. Die Gefahr einer Eskalation wurde offenbar in London und Paris ebenso gesehen. Daher war am 26. Juli 1914 bei der Aussprache zwischen Sasonow und Pourtales von einer „Revision der österreichischen Untersuchung durch Europa nicht mehr die Rede“.(16) Welchem Umstand war das Entgegenkommen Sasonows geschuldet? 

Am selben Tag hatte aus London der russische Botschafter Benckendorff einen Situationsbericht geschickt, in dem es hieß: „Sir E. Grey hört nicht auf, mir zu wiederholen, dass seine nach Berlin gerichteten Erklärungen dort auf keinen Fall gestatten, auf die Neutralität Englands im Falle eines Krieges zu rechnen. Lichnowsky war in der Tat sehr verwirrt, aber das kommt daher, weil es ihm wehtat, dass es zum Kriege kommt. Ich bin gar nicht sicher, dass er die Worte Greys so verstanden hat, wie Grey es wünschte.“(17)

Dieses fatale Missverständnis zwischen dem englischen Außenminister und dem deutschen Botschafter mag zum einen an der diplomatisch verklausulierten Sprache Greys und zum anderen an der anglophilen Einstellung Lichnowskys gelegen haben. Möglicherweise wollte Grey auch nicht eindeutig von Lichnowsky verstanden werden. Außerdem musste Grey nicht nur im Verhältnis zu Lichnowsky, sondern auch für die britische Öffentlichkeit jede Kriegsrhetorik unterlassen, denn die britische Bevölkerung war durch die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Irland vorerst nicht für einen weiteren “Kriegsschauplatz” zu gewinnen.

„Es ist wahr“, schließt Benckendorff seinen Bericht ab, „dass Österreich, wie man sagt, nicht auf einmal den Krieg beginnen wird. Vorläufig besteht noch ein Hoffnungsstrahl. Was die Rolle Deutschlands anbetrifft, so erscheint mir dieselbe in dunklerem Lichte als allen übrigen. Und darauf stütze ich mich eben hier: England fürchtet sich nicht so vor dem Vorrang Österreichs auf der Balkanhalbinsel, wie vor dem Vorrang Deutschlands in der Welt“.(18) (!!) 

Als aber gegen Mittag des 25. Juli 1914 dringende Depeschen aus dem Auswärtigen Amt u.a. über die Manövertätigkeit der britischen Kriegsmarine auf dem Schiff des Kaisers eintrafen, musste Admiral Georg Alexander von Müller, Chef des Marinekabinetts, eine Entscheidung treffen. Um 15.00 Uhr befahl er dem Kapitän der „Hohenzollern“ eigenmächtig, die Kessel für die 22 Stunden lange Fahrt zurück nach Cuxhaven anzuheizen. 

Am Morgen des 27. Juli 1914 traf Kaiser Wilhelm II. in Kiel ein und wurde nachmittags um 15.00 Uhr in Berlin von seinem Kanzler Bethmann in demütiger Haltung empfangen.

In scharfer Form stellte ein zornig erregter Kaiser die Frage, wie das alles gekommen sei? Die Erregung des Kaisers war begreiflich, denn der Kanzler hatte seiner Majestät bis zuletzt versichert, „…dass dem Frieden keine Gefahr drohe und dass er insbesondere mit England in steter Fühlungnahme und in bestem Einvernehmen stünde.“ Ein sichtlich zerschmetterter Kanzler gab mit verstörtem Gesicht zu, sich in jeder Richtung getäuscht zu haben und bat um seinen Abschied, den der Kaiser mit den Worten verwehrte: „Sie haben mir diese Suppe eingebrockt, nun sollen Sie sie auch ausfressen!“(19). 

Am folgenden Morgen legte der Kanzler seinem Souverän den Text der inzwischen zwei Tage alten serbischen Antwort-Note auf den Tisch: „Eine brillante Leistung für eine Frist von 48 Stunden“, vermerkte Wilhelm II., „das ist mehr, als man erwarten konnte! Damit fällt jeder Kriegsgrund fort, Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen! Darauf hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!“(20). Unverzüglich ließ Wilhelm II. daraufhin seinen Generaladjutanten Plessen an den Chef des Generalstabes, Moltke, telegrafieren, dass für Österreich-Ungarn jeder Anlass zum Krieg fortfalle. Hier hat sich der Kaiser, beseelt vom Wunsch nach Frieden, vom diplomatischen Meisterstück aus Belgrad wohl einfangen lassen! Dabei scheint ihm der ambivalente Charakter mancher Teilantworten nicht aufgefallen zu sein. Er scheint auch übersehen zu haben, dass Serbien drei Stunden nach Ablauf des Ultimatums – also um 21.00 Uhr – zur Mobilmachung schritt. Erst um 24.00 Uhr folgte Österreich-Ungarns Mobilmachung. 

Der deutsche Botschafter in Paris hatte am 24. Juli 1914 dem kommissarischen Leiter des Außenministeriums am Quai d’Orsay eine Note verlesen, mit der die deutsche Reichsleitung ihrer Forderung nach einer Lokalisierung des Konflikts zwischen der Habsburgermonarchie und Serbien Ausdruck gab. „Wir wünschen dringend die Lokalisierung“, hatte sich Bethmann Hollweg in dieser Adresse vernehmen lassen, „weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde“.(21) Als diese Demarche des deutschen Botschafters Freiherr von Schoen Poincaré am 25. Juli 1914 bekannt wurde, hatte er sie umgehend als eine „kaum verhüllte Drohung“ (22) bewertet. Am Morgen des 27. Juli 1914 erreichte Poincaré – nun an Bord der “France” – ein Telegramm, wonach der britische Außenminister Sir Grey, dem Bethmann Hollwegs Note am 25. Juli 1914 zur Kenntnis gebracht wurde, sich von dieser »Drohung« nicht sonderlich beeindruckt zeigte, sondern dem deutschen Botschafter zu verstehen gab, dass „…wenn der Krieg auszubrechen drohe, keine Macht in Europa davon unberührt bleiben könne“; er habe gegenüber dem russischen Botschafter bekräftigt, dass „…er keinen Zweifel an der wahrscheinlichen [Kriegs- W.E.]Teilnahme Englands hegt“.(23)  

In ihrer Antwort unterbreiteten die Serben den Vorschlag, das internationale Gericht in Den Haag oder die Großmächte – die an der Ausarbeitung der von der serbischen Regierung am 31. März 1909 abgegebenen Erklärung mitgewirkt haben – mit einem Schiedsverfahren zu betrauen. Als der Zar das serbische Ansinnen bekräftigte, instruierte der Reichskanzler den deutschen Botschafter in St. Petersburg, dass ein Schiedsverfahren natürlich in diesem Falle ausgeschlossen sei. Das brachte der deutschen Regierung den Vorwurf ein, ausschließlich in Machtbegriffen zu denken. Dagegen verwahrte sich der Reichstagsausschuss und verwies auf die Erfahrung Deutschlands, dass es in zwei wichtigen Fällen mit England und den USA die Erfahrung gemacht habe, „…dass diese beiden Schlüsselstaaten die Schiedsverträge nicht nach Treu und Glauben einhielten, sondern sich dem Schiedsverfahren durch Hinweise auf nationale Rechtsvorgänge und Verfassungsschwierigkeiten entzögen“(24). Ähnlich negative Erfahrungen hatten Chile und Italien mit Amerika gemacht. Auch konnte ein schweizerisch-italienischer Zwischenfall nicht schiedsgerichtlich gelöst werden(25). 

Noch enttäuschender waren hingegen Deutschlands Erfahrungen mit einer Seekriegsrechts-Konferenz in London. Sie war als Gegenstück zur vierten Haager Konvention (1908/09) über das Kriegsrecht abgehalten worden. Einstimmig wurde damals eine Seekriegsrechts-Erklärung angenommen, welche in der Tat die Handlungsfreiheit des “Beherrschers der See” stark beeinträchtigte – ebenso wie die Macht des deutschen Heeres durch die vorangegangene Konvention über den Landkrieg geschmälert wurde.

Während Deutschland den Vertrag ratifizierte, zog England die Verhandlungen in die Länge und unterließ es, bis zum Kriegsbeginn die Vereinbarungen zu ratifizieren. Daher kommt der Weigerung Englands, den Seekrieg völkerrechtlich zu regeln, erhebliche Bedeutung zu.(26)  

Aus heutiger Sicht mag es nicht sonderlich klug gewesen sein, angesichts der Gefahr des Mehrfrontenkrieges auf die schiedsgerichtlichen Möglichkeiten verzichtet zu haben, zumal laut Christopher Clark („Die Schlafwandler“) damals in Europa sowohl Institutionen als auch akzeptierte Rechtsnormen für eine internationale Behandlung von Konflikten fehlten. Besonders auffällig schien Clark auch die Tendenz der Entente-Mächte, Österreich-Ungarn abzuschreiben.(27) Aber auch die Angst, durch eine Verzögerung ins Hintertreffen zu geraten und dadurch die einzige Trumpfkarte – die militärische Schnelligkeit – zu verlieren, mag angesichts der gegnerischen Überlegenheit ausschlaggebend gewesen sein.

Zurück zum späten Nachmittag des 27. Juli 1914. Gegen 17.00 Uhr fand sich der bulgarische Gesandte Tschapratschikoff bei Pašić ein, der ihm eröffnete, dass die Lage gefährlich sei, er aber aus Petersburg die Nachricht habe, „…daß Russland entschlossen unseren Schutz übernommen hat“. Frankreich sei mit Russland solidarisch und „England wünscht sehr, dass der Krieg vermieden werde. Wenn er erklärt wird, wird es nicht neutral bleiben, es wird sich einmischen“.(28) Im weiteren Gespräch stellte Pašić für den Bündnisfall den Bulgaren “gute Folgen” in Aussicht und unterstrich die günstige Lage Serbiens unter den europäischen Mächten.

Am Morgen des 28. Juli 1914 proklamierte Kaiser Franz Joseph (1830-1916) aus seiner Villa in Bad Ischl die Kriegserklärung an Serbien: „An Meine Völker! Es war Mein sehnlichster Wunsch, die Jahre, die Mir durch Gottes Gnade noch beschieden sind, Werken des Friedens zu weihen und Meine Völker vor den schweren Opfern und Lasten des Krieges zu bewahren. Im Rate der Vorsehung ward es anders beschlossen. Die Umtriebe eines hasserfüllten Gegners zwingen Mich – zur Wahrung der Ehre Meiner Monarchie, zum Schutze ihres Ansehens und ihrer Machtstellung und zur Sicherung ihres Besitzstandes – nach langen Jahren des Friedens wieder zum Schwerte zu greifen.“(29) In der Tat: Seit 1871, dem Jahr der Proklamation des deutschen Kaisers in Versailles, führten Deutschland wie auch Österreich-Ungarn im Gegensatz zu ihren Nachbarn keine imperialen Kriege: 

  • 1877-1878 Russisch-Osmanischer Krieg
  • 1878-1880 Zweiter Britisch-Afghanischer Krieg
  • 1880-1881 Erster Krieg der Briten gegen die Buren
  • 1882: Britisch-Ägyptischer Krieg
  • 1884-1885 Französisch-Chinesischer Krieg
  • 1885-1886 Serbisch-Bulgarischer Krieg
  • 1885-1886 Dritter Britisch-Birmanischer Krieg
  • 1894-1895 Erster Japanisch-Chinesischer Krieg
  • 1897: Türkisch-Griechischer Krieg
  • 1898: Krieg der USA gegen Spanien
  • 1899-1902 Krieg der USA gegen Philippinen
  • 1899-1902 Zweiter Krieg der Briten gegen die Buren
  • 1900: Russisch-Chinesischer Krieg
  • 1903-1904 Britischer Tibet-Feldzug
  • 1904-1905 Russisch-Japanischer Krieg
  • 1911-1912 Italienisch-Türkischer Krieg und
  • 1912-1913 Balkankriege

So wundert es nicht, dass der Deutsche Kaiser Wilhelm II. im Frühjahr 1913 anlässlich seines 25-jährigen Thronjubiläums weltweit als Friedensstifter gefeiert wurde. Während die Balkankrise die europäische Diplomatie in Atem hielt, bereitete sich Berlin Anfang Juni 1913 auf ein großes politisches Ereignis vor: Die viertägigen Feierlichkeiten zum 25-jährigen Thronjubiläum von Wilhelm II. Auf der Titelseite derAllgemeinen Zeitung des Judentums“ hob deren Herausgeber, Ludwig Geiger die 25 Regierungsjahre des Kaisers als eine Zeit gesegneten Friedens hervor. Geiger stellte ihn als leuchtendes Beispiel unermüdlicher, vielseitiger Tätigkeit hin und ging auch auf seine Reden ein. Sie seien „…von einem ungeheuren Schwung, oft von einer elementaren Kraft und bezeugen ein heißblütiges Temperament, das – wie es in dem Wesen einer solchen Eigenart liegt – gelegentlich auch zu Entgleisungen und Ausschreitungen führt“.(30) Besonders gewürdigt wurden der unermüdliche Einsatz des Kaisers für die Sozialreform und hier der nationale Arbeiterschutz. Es sei des Kaisers fester Wille, „…dass die Gesetzgebung auf dem Gebiete der sozialpolitischen Fürsorge nicht ruhe und auf den Schutz und das Wohl der Schwachen und Bedürftigen fortgesetzt bedacht sei“. Im kurzen Rückblick wurde konstatiert, „…dass Preußen und Deutschland eine führende Rolle in der Welt spielen, zwar viel beneidet und angefeindet, nicht überall geliebt, vielleicht auch manchmal befehdet und zurückgedrängt, aber dass es im allgemeinen mit Stolz auf die Vergangenheit sehen und mit Ruhe, wenn sich auch in sie gelegentlich Bangigkeit einmischt, der Zukunft entgegensehen kann“.(31) 

Von US-Präsident Wilson lag ein Gratulationstelegramm vor: „In der aufrichtigen Hoffnung, dass eine lange Dauer Eurer Majestät segensreicher, friedlicher Regierung dem großen deutschen Volke wachsenden Segen bringen möge, bringe ich Euer Majestät die herzlichsten Glückwünsche der Regierung und des Volkes zum 25jährigen Tage von Euer Thronbesteigung dar“.(32)

In der Ergebenheitsadresse der englischen Kirchen betonte Bischof Boyd Carpenter den außergewöhnlichen Fortschritt in der materiellen, moralischen und intellektuellen Wohlfahrt des deutschen und seines eigenen Volkes, um dann festzustellen: „Ein solcher Fortschritt ist nur möglich, wenn die Völker frei sind von den Besorgnissen und Störungen des Krieges, und wir erkennen es mit Dankbarkeit an, dass die Erhaltung des europäischen Friedens nächst Gott in nicht geringem Maße auf den früh gebildeten und unermüdlich festgehaltenen Entschluss Eurer Majestät zurückzuführen ist, die Segnungen des Friedens zu fördern und zu erhalten“.(33)

Das sollte sich in diesen Jahren jedoch als äußerst schwierig erweisen. 

Nachdem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt hatte, telegraphierte der deutsche Kaiser an den Zaren Nikolaus II., seinen ganzen Einfluss einzusetzen, um Österreich-Ungarn dazu zu bewegen, eine offene und befriedigende Verständigung mit Russland anzustreben. „Ich hoffe zuversichtlich, dass Du mich in allen meinen Bemühungen, alle Schwierigkeiten, die noch entstehen können, zu beseitigen, unterstützen wirst. Dein sehr aufrichtiger und ergebener Freund und Vetter, gez. Wilhelm“.(34)

In seiner Antwort bat der Zar seinen Vetter Wilhelm II., alles Mögliche zu tun, um den Bundesgenossen zurückzuhalten. Umgehend informierte Kaiser Wilhelm II. dann den Zaren von seinen Umstimmungsversuchen in Wien.

Sobald die österreichische Kriegserklärung an Serbien an die Festung Lüttich gedrahtet war, befahl der Gouverneur von Lüttich, General Leman, Alarm auszulösen und die ihm anvertraute Festung in den Verteidigungsstand zu versetzen. Dazu wurde das Schussfeld frei gemacht, die Minenkammern der zur Sprengung vorgesehenen Tunnel, Eisenbahn- und Straßenbrücken geladen und die von Aachen über Herve nach Lüttich führende Straße mit Hindernissen versehen.  

Am Nachmittag des 28. Juli 1914 gab der 39jährige Marineminister Winston Churchill Order an die Flotte, sich unter größter Geheimhaltung auf Gefechtsstand nach Scapa Flow auf die nördlichen Orkney-lnseln zu begeben. Gegen Mitternacht schrieb er aus der Admiralty noch ein paar Zeilen an seine Frau Clementine, die gerade mit den beiden Kindern Diana und Randolph ein Feriendomizil an der See in Nordfolk bezogen hatte: “28 July Midnight / My darling One & beautiful – Alles treibt auf Katastrophe und Zusammenbruch zu. Ich bin interessiert, in vollem Gang und glücklich. Ist es nicht schrecklich, so gebaut zu sein? Die Vorbereitungen üben auf mich eine widerliche Faszination aus. Ich bete zu Gott, dass er mir solche furchtbaren Anwandlungen der Leichtigkeit verzeiht“.(35) 

Glücklich im Angesicht der Katastrophe? Als Korrespondent im Burenkrieg hatte Churchill den modernen Krieg und dessen Vernichtungskraft bereits mit eigenen Augen erleben können. Auch musste ihm nach dieser Erfahrung bewusst sein, dass im neuzeitlichen Krieg Zivilpersonen dem Krieg nicht mehr entfliehen konnten. In der Nacht auf den 29. Juli 1914 versuchte der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg Englands Absicht für den Fall auszuloten, dass sich der Balkankonflikt auf Frankreich und Deutschland ausweiten sollte. Dem englischen Botschafter in Berlin, Sir Goschen, erklärte Bethmann Hollweg, dass Deutschland mit England Frieden halten wolle und im Falle einer Ausweitung des Krieges auf Frankreich keine Gebietserwerbungen auf Kosten Frankreichs beabsichtige.  

Mittwoch, 29. Juli 1914: Grey setzt sein Doppelspiel fort 

In seiner ersten Unterredung beteuerte Bethmann Hollweg dem englischen Botschafter Goschen erneut den deutschen Friedenswillen und unterrichtete Goschen im tiefsten Vertrauen über die kaiserliche Note nach Wien mit dem geforderten “Halt in Belgrad”. Fritz Fischer („Deutschlands Griff zur Weltmacht“) will hier lediglich erkennen, dass Berlin damit nur „den Eindruck zu erwecken suchte, er wirke stark bremsend auf Wien ein“.(36)

Nach Bethmann Hollwegs Vorstoß informierte der britische Außenminister Sir Grey den deutschen Botschafter in London, Fürst Karl Max Lichnowsky, und teilte ihm mit, dass sein Land gedenke, nur solange neutral zu bleiben, wie sich der Krieg auf Russland und Österreich beschränke. Sollten aber Deutschland und Frankreich in diesen Krieg hineingezogen werden, könne England nicht mehr lange abseits stehen.(37) Das war die erste leise Drohung an die Adresse Deutschlands und die zweite seit dem Jahr 1911.

Grey, der britische Gentleman, versuchte noch, dem deutschen Botschafter Fürst Lichnowsky die Augen zu öffnen: „Er solle sich durch den freundschaftlichen Ton der Unterhaltung nicht über den Weg täuschen lassen, den die britischen Interessen nehmen würden“.(38)

Gleichzeitig instruierte Grey den französischen Botschafter in London, Paul Cambon verklausuliert über den Umfang der britischen Interessen bei einem Kampf um die Hegemonie von Europa. Auf diskrete Weise erfuhr nun Frankreich, „…dass es im Streit der Russen, Österreicher und Serben freie Fahrt zum Krieg mit Deutschland hat“.(39) Es kann sich – das drückt Grey so aus – getrost in einen Krieg “hineinziehen” lassen.

Spät in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli 1914 versuchte Bethmann Hollweg über den britischen Botschafter Goschen England auf den Abschluss eines zukünftigen allgemeinen Neutralitätsabkommens festzulegen. Dazu versicherte er dem britischen Botschafter: “Wir können dem englischen Kabinett – voraussetzlich dessen neutraler Haltung – versichern, dass wir selbst im Falle eines siegreichen Krieges keine territoriale Bereicherung auf Kosten Frankreichs in Europa anstreben“.(40)

Weiter erklärte sich der deutsche Kanzler bereit, die Neutralität und Integrität Hollands zu achten, falls die Gegner Deutschlands sie ebenfalls “respektieren” würden. 

Es war von Berlin äußerst naiv, zu hoffen, dass ein dritter Balkankrieg ebenso zu begrenzen sei wie die zwei davor. Mit Deutschland als Bündnispartner von Österreich-Ungarn hatte die Krise von Anfang an einen europäischen Charakter angenommen, bei dem die Weltmacht Großbritannien unter anderem dafür sorgen musste, dass sich auf dem Kontinent keine Hegemonialmacht bildete.

Am Nachmittag des 30. Juli 1914 meldete der britische Botschafter in Wien, Maurice de Bunsen, an Grey den Inhalt eines von ihm als geheim eingestuften Gesprächs zwischen dem serbischen Gesandten Jowanowitsch und dem französischen Botschafter. Der serbische Gesandte äußerte, dass die Zeit für Serbien arbeite. Die südslawischen Provinzen seien innerhalb von drei Jahren bereit, sich gegen Österreich-Ungarn zu erheben, ohne dass „Serbien auch nur den kleinen Finger zu rühren brauche“.(41) So habe sich Österreich zum Krieg entschlossen, von dem es anscheinend durch nichts abgehalten werden könne. „Nach Ansicht des französischen Botschafters geht daraus hervor, dass der Konflikt nicht Folge deutscher Anstiftung ist; auch gehe nicht unbedingt daraus hervor, dass Deutschland europäischen Krieg wünscht, wie viele in Frankreich glauben“.(42) 

Als erster erfuhr Paléologue am 29. Juli 1914 um 23.00 Uhr von der allgemeinen russischen Mobilmachung durch den stellvertretenden Direktor im Ministerium des Äußeren, Basily. 13 Armeekorps waren gegen Österreich-Ungarn mobilisiert und heimlich war die allgemeine Mobilisierung befohlen worden. Das bedeutete Krieg! „Ich bin der Ansicht“, so Paléologue zu Basily, „…dass der russische Generalstab keine Maßnahmen ergreifen sollte, ohne sich darüber vorher mit dem französischen verständigt zu haben“.(43) Paléologues Mahnung zur Vorsicht gegenüber Sasonow hatte offenbar keine Früchte getragen.  

Donnerstag, 30. Juli 1914

In ihrem Leitartikel schrieb an diesem Tag die Londoner Times: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass Deutschland sein Möglichstes tut, um den Draht zwischen der russischen und der österreichischen Hauptstadt wieder anzuknüpfen – to restore the wire“.(44)  

Während in Russland die Befehle für die Generalmobilmachung ausgefertigt wurden, tele-grafierte der Zar an Kaiser Wilhelm II: „Die militärischen Maßnahmen, die jetzt in Kraft getreten sind, wurden vor fünf Tagen, also am 25. Juli 1914, zum Zwecke der Verteidigung wegen der Vorbereitung Österreichs (gegen Serbien!) getroffen“.(45)

Nur Stunden später klärte der russische Kriegsminister Suchomlinow den Zaren dahingehend auf, dass eine Rücknahme der am 30. Juli 1914 um 18.00 Uhr angeordneten Gesamtmobilmachung technisch unmöglich sei und Frankreich noch am gleichen Tag Waffenhilfe für Russland zugesichert habe. Daraufhin schrieb Nikolaus seinem Vetter: „Ich danke Dir von Herzen für Deine Vermittlung, die eine Hoffnung aufleuchten lässt, dass noch alles friedlich enden könnte. Es ist technisch unmöglich, unsere militärischen Vorkehrungen einzustellen, die durch Österreichs Mobilisierung notwendig geworden sind“.(46)

An diesem hilflosen Schreiben des Zaren an seinen Vetter in Berlin wird deutlich, dass Nikolaus II. nur Spielball der administrativen Kräfte war. Damit teilte er das Schicksal seines Vetters in Berlin. Aus einer längeren Randbemerkung zur Depesche des deutschen Botschafters in Petersburg vom 30. Juli 1914 lässt sich die Stimmung Wilhelms II. ablesen:

Also die berühmte ‚Einkreisung‘ Deutschlands ist nun doch endlich zur vollsten Tatsache geworden, trotz aller Versuche unserer Politiker und Diplomaten, sie zu hindern. Das Netz ist uns plötzlich über dem Kopf zugezogen worden und hohnlächelnd hat England den glänzendsten Erfolg seiner beharrlich durchgeführten puren antideutschen Weltpolitik – gegen die wir uns machtlos erwiesen haben -‚indem es uns, isoliert im Netze zappelnd aus unserer Bundestreue zu Österreich den Strick zu unserer politischen und ökonomischen Vernichtung dreht. Eine großartige Leistung, die Bewunderung erweckt selbst bei dem, der durch sie zugrunde geht“.(47) 

Waren dem deutschen Kaiser, Sohn der Royal Highness Victoria Adelaide und Lieblingsenkel der Queen Victoria, befördert zum Field Marshall der British Army und Admiral der Britisch Navy, die Vorgänge in England bis dahin verborgen geblieben? Hatte er die englische Politik der “Balance of Power”, die auf dem Kontinent keine Freunde, sondern jeweils wechselnde Partner für ihren Festlandsdegen suchte, nicht rechtzeitig durchschaut? Hatte er vergessen, dass England seit Elisabeth I. jede europäische Großmacht erfolgreich vernichtet hatte, so Spanien 1588, Holland 1654 und Frankreich 1763? Wie konnte sich der deutsche Kaiser derart von der englischen Regierungsbürokratie einwickeln lassen? In dieser Beziehung muss das Verhalten des deutschen Kaisers wohl als ziemlich naiv und wenig verantwortungsvoll bezeichnet werden. Man kann nur vermuten, dass ihn die positive familiäre Bindung an das englische Königshaus für die raffinierte geostrategische Politik der englischen Administration blind gemacht hatte – er konnte es sich schlichtweg nicht vorstellen. Zusätzlich war er offensichtlich in größeren militärisch-strategischen Zusammenhängen nicht bewandert genug, denn er beschäftigte sich lieber akribisch mit den Entwürfen seiner von vornherein wirkungslosen Kriegsflotte, um der drohenden Gefahr für Deutschland zu begegnen. Wie dem auch sei – Wilhelm II. versäumte es an diesem schicksalsschweren Krisentag, die Tätigkeiten von Kabinett und Militär zu bündeln und den Chef des Generalstabs, General von Moltke, auf seine Friedens-Linie einzuschwören.(48) Dieser drängte im Bann der aufziehenden militärischen Gefahr für Deutschland seinen österreichischen Kameraden, General von Hötzendorf, die allgemeine Mobilmachung zu beschleunigen. Einen gegenläufigen Impuls gibt am gleichen Tag der deutsche Kanzler dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold. Er rät ihm dringend vom Krieg gegen Serbien ab.

Am Abend des 30. Juli 1914 war die österreichisch-ungarische Regierung bereit, den deutschen Vorschlägen zur De-Eskalierung weitgehend entgegenzukommen. Doch die russische Gesamtmobilmachung machte jede weitere deutsche Vermittlungstätigkeit obsolet.(49) Inzwischen hatte Frankreich die Mobilmachung des Grenzschutzes befohlen und Deutschland die “Sicherung” für die Flotte angeordnet.

Am frühen Morgen des 31. Juli 1914 prangten an allen Straßenecken in Petersburg die Mobilmachungsanschläge. Nun war jeder Zweifel ausgeschlossen. Der deutsche Botschafter Pourtales meldete diesen Schritt nach Berlin und bemühte sich nach Kräften um die Rücknahme des Mobilmachungsbefehls. Doch ohne Erfolg. Vielmehr versuchte die russische Regierung, diesen Schritt vor dem Ausland zu verschleiern. So erklärte der britische Premier Asquith am 31. Juli 1914 im Unterhaus: „Wir haben soeben, nicht aus Petersburg, sondern aus Deutschland erfahren, dass Russland eine allgemeine Mobilmachung seines Heeres und seiner Flotte verkündet hat.“(50)

Mit der Bitte, die von ihm aufgenommenen Vermittlungsaktivitäten zwischen Russland und Österreich-Ungarn nicht durch weitere Kriegsvorbereitungen an der östlichen Grenze zu gefährden, wandte sich Wilhelm II. an Nikolaus II.

Er wäre sonst zu defensiven Gegenmaßnahmen gezwungen. Diese Bitte endete mit einem letzten Appell, alle Deutschland bedrohenden Militärmaßnahmen einzustellen.(51)


(Telegramm an die Badische Presse vom 31. Juli 1914 12 Uhr 10) (52) 

Österreich-Ungarn hatte in den Morgenstunden den Grenzschutz gegen Rußland und um 12.23 Uhr die Gesamtmobilmachung befohlen. Da Petersburg auf die deutschen diplomatischen Bemühungen nicht mehr reagierte, forderte Berlin in einem auf zwölf Stunden befristeten Ultimatum Russland auf, seine Kriegsmaßnahmen einzustellen.(53) Gleichzeitig wurde für das Deutsche Reich die “Drohende Kriegsgefahr” verkündet. Diese Maßnahme löste schon fieberhafte Aktivitäten aus.  

Der amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan hat den gefährlichen Automatismus der russisch-französischen Militärkonvention beleuchtet: Sobald eine der Dreibundmächte ihre Streitkräfte mobilisieren würde, sollten Frankreich und Russland zur Gesamtmobilmachung übergehen; Mobilmachung und Eröffnung der Kriegshandlungen aber sollten faktisch identisch sein. Die in der Militärkonvention vorgesehene Verklammerung von Mobilmachung und Kriegsbeginn verschaffte, so Kennan, den russischen Militärs die Möglichkeit, „…einen großen europäischen Krieg zu entfesseln, wann immer es ihnen in den Kram passte“.(54)

Doch für die damaligen Zeitgenossen bedeutete eine Gesamtmobilmachung Krieg. Bei den französisch-russischen Verhandlungen über die Militärkonvention mit Zar Alexander III. hatte der französische General Boisdeffre am 18. August 1892 erklärt, dass die Mobilmachung einer Kriegserklärung gleichkomme. Mobilisieren heiße, seinen Gegner zwingen, das Gleiche zu tun. Mit der Mobilmachung wird ein gigantisches Räderwerk in Gang gesetzt. Strategische Transporte rollen an und Truppen werden zusammengezogen – an der ostpreußischen Grenze damals zwei russische Armeen – also etwa eine Million Mann.  

Der amerikanische Neuzeithistoriker William Leonard Langer (1896-1977), der sich speziell mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs befasst hat, kommt heute zu einem ähnlichen Schluss.

In einem Interview vom 29. September 2013 antwortete er auf den Verweis des F.A.Z. Journalisten Andreas Kilb zur Logik des deutschen Generalstabs: Wir müssen jetzt die Russen schlagen, damit wir nicht in drei Jahren von ihnen geschlagen werden. In Deutschland gibt es seit dem Dreißigjährigen Krieg ein spezielles Trauma, das sich in jeder Generation erneuert: das Gefühl, durch die Lage in der Mitte Europas fremden Invasoren gegenüber verletzlich zu sein. Der Rest ist schiere Mathematik. Die franko-russische Allianz ist das aggressivste Bündnis auf dem europäischen Kontinent. Es existiert nur, um gemeinsam Krieg gegen eine dritte Macht zu führen: das Deutsche Reich. Wenn die Deutschen sich ausrechnen, wie viele Soldaten dieses Bündnis gegen sie aufbieten kann, wächst der Abstand mit jedem Jahr.“(55)

Teil 4 (folgt in Kürze): Das Abendland marschiert in den Abgrund

Hier die Links zu:

Teil 1: https://staging.apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-1-von-wolfgang-effenberger/

Teil 2: https://staging.apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-2-von-wolfgang-effenberger/

Anmerkungen und Quellen

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete “atomare Gefechtsfeld” in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Hier die Bücher zum 1. Weltkrieg:



1) Effenberger/Wimmer 2014, S. 178/179

2) Richard Kralik: Geschichte des Völkerkrieges (1914-1919), Paderborn 1923, S. 24

3) Boghitschewitsch 1929, Bd. II, S. 546

4) Ebenda

5) Zitiert nach Berliner Monatshefte, XIV. Jahrg., 1936, S. 292 f.

6) Zitiert nach Possony S. 234; siehe auch Paleologue, a. a. O., S. 251

7) Janusz Piekalkiewicz: Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf/Wien 1988, S. 22Piekalkiewicz, S. 28

8) Paléologue in einem Telegramm vom 26. Juli 1914; siehe Paléologues Tagebuch, a. a. O., S. 250 sowie Bericht an den französischen Senat – 704/1919 – S. 39, 127.

9) Possony, S. 233

10) Unter http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/19140722-1.pdf

11) Russell, Bertrand: Der Krieg, ein Kind der Furcht (deutsch von F. Beran), Zürich 1915, S. 10 f.

12) Sir Edward Grey am 24. Juli 1914 in einem Telegramm an Sir M. de Bunsen, Britische Dokumente Bd. I, Nr. 91, S. 123; vgl. dazu: Heinrich Jaenecke: »Das Attentat«, in: GeoEpoche, Nr. 14/2004, S. 31, 32.

13) Nach Piekalkiewicz aus rein »defensivem Charakter« (S. 24), was die Österreicher aber nicht wissen konnten oder wollten

14) Janusz Piekalkiewicz: Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf/Wien 1988, S. 22Piekalkiewicz, S. 24.

15) Wolfgang Effenberger/ Konrad Löw: Pax americana, München 2004, S. 203

16) Deutsche Dokumente Nr. 217

17) B.W. von Bülow: Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch, in “Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch”, Fünfter Band, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Berlin o.J., S. 55

18) Ebda.; Deutsche Allgemeine Zeitung vom 28. August 1919.

19) Bülow 1930/31, S. 165

20) Gerhart Binder: Epoche der Entscheidungen, Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart-Degerloch 1960, S. 42

21) 176 Zit. Runderlaß Bethmann Hollwegs an Pourtalés, Schoen, Lichnowsky, 21. 7. 1914, in Deutsche Dokumente (DD) 1, 100

22) „menace à peine déguisée 177 Zit. Notes journalières, in NL Poincaré, BNF, Nafr. 16027, fol. 115 (Eintrag vom 25. 7. 1914).

23) Im Original: „que si la guerre venait à éclater aucune Puissance en Europe ne pourrait sén désintéresser et a affirmé à l`Ambassadeur de Russie quíl n`avait pas laissé de doute sur la participation probable de l`Angleterre“. 178 Zit. Bienvenu-Martin an Paul Cambon, Jules Cambon, Paléologue, Barrère, Dumaine und Bapst, in: DDF 3, 11, 90. Vgl. Paul Cambon an Bienvenu-Martin, 25. 7. 1914, in DDF 3, 11, 58.

24) Possony 1968, S. 73

25) Die Vorgeschichte des Weltkrieges, a.a.O., Band V/2, 5. 191 f.

26) Possony 1968, S. 73

27) ANDREAS KILB: “Alle diese Staaten waren Bösewichte” vom 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark in “Aktuell Feuilleton” der F.A.Z. unter http://www.faz.net/-gqz-7hsa5 [3. Januar 2014]

28) Bulgarisches Orangebuch Bd. I Nr. 218

29) https://web.archive.org/web/20140625111303/http:/www.onb.ac.at/ausstellungen/anmeinevoelker/

30) Allgemeine Zeitung des Judentums, 77. Jahrgang, Nr. 24 vom 13. Juni 1913, Seite 1

31) Ebda., Seite 2

32) Bayerische Staatszeitung, München, vom Montag, den 16. Juni 1913, S. 3

33) Ebda., vom Mittwoch, den 18. Juni 1913, S. 2

34) Zitiert aus: Stark, Hans-Günther: In Europa gehen die Lichter aus. In: Deutsche Geschichte Nr. 71 3/2004, S. 27 f.

35) Thomas Kielinger und Florian Stark: Britischer Minister gibt Deutschen die Kriegsschuld, in DIE WELT vom 9. Januar 2014 unter http://www.welt.de/geschichte/article123683306/Britischer-Minister-gibt-Deutschen-die-Kriegsschuld.html [9.2.2014]

36) Fritz Fischer: Jetzt oder nie – Die Julikrise 1914, vom 27.Mai 1964, in “DER SPIEGEL” unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46173734.html [20. Januar 2014]

37) Gerhard Binder, Epoche der Entscheidungen, Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart-Degerloch 1960, S. 42

38) Dietrich Schäfer, 1916, S. 133

39) Hermann Stegemann : Geschichte des Krieges, I. Band, Stuttgart/Berlin, 1917, S. 359; Rhonhof 2007, S. 60

40) Fritz Fischer Spiegel 1964

41) Britische Dokumente Bd. I, Nr. 265, S. 271

42) Boghitschewitsch 1929, Bd. II, S. 560 u.a. Fußnote 3)Im englischen Blaubuch von 1914 ist dieser Bericht unter Nr. 79 übernommen.

43) Paléologue, a. a. O., S. 257

44) Montgelas, Glossen, S. 22.

45) Deutsche Dokumente Nr. 390

46) Paléologue, a. a. O., S. 257

47) Reventlow 1940, S. 445

48) Schultze-Rhonhof 2003, S. 45 f.

49) Deutsche Dokumente Nr. 502, 503

50) Bülow Grundlinien S. 88, vgl. Weißbuch Nr. 576/ Nr. 518.

51) Zitiert aus: Stark, Hans-Günther: In Europa gehen die Lichter aus. In: Deutsche Geschichte Nr. 71 3/2004, S. 27 f.

52) “petersburg weicht – wiederholten – anfragen deutschlands aus . auch heut . es will nur gewehr bei fusz stehen . privater telegrammverkehr zwischen kaiser und zar trotz zunehmender kriegsspannung noch nicht abbruch gekommen = korrespondenzgesellschaft”

53) Bülow Grundlinien S. 88; Weißbuch Nr. 490

54) George F. Kennan, Die schicksalhafte Allianz. Frankreich und Russland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 1990, S. 337

55) ANDREAS KILB: “Alle diese Staaten waren Bösewichte” vom 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark in “Aktuell Feuilleton” der F.A.Z. unter http://www.faz.net/-gqz-7hsa5 [3. Januar 2014]

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Kommentare (1)

Ein Kommentar zu: “Die langen Schatten des Ersten Weltkriegs – Teil 3 | Von Wolfgang Effenberger

  1. Das Beispiel zeigt, dass Bellizisten mit allen Tricks arbeiten. Also müssen Pazifisten mit allen Wassern gewaschen sein, um im Kampf gegen den Bellizismus zu siegen. Naivität ist total fehl am Platz.

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