Die langen Schatten des Ersten Weltkriegs – Teil 5 | Von Wolfgang Effenberger

Teil 5: Die kurze Halbwertszeit von Kriegsplänen

Deutschland stolpert in den Krieg

Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.

In den vorangegangenen Artikeln wurden vor allem die politisch-diplomatischen Facetten des anscheinend unaufhaltsamen Wegs in den Ersten Weltkrieg aufgezeigt. Nun soll mit der Darstellung des deutschen Angriffs auf die von 12 Festungsanlagen geschützte belgische Stadt Lüttich Einblick in den generellen Wahnsinn und die vollkommene Absurdität eines Krieges vermittelt werden. Jedes rationale Denken löst sich im Pulverdampf auf. Darauf hat schon der preußische Heeresreformer, Militärwissenschaftler und Kriegsphilosoph Generalmajor Carl von Clausewitz (1780-1831) hingewiesen. Für ihn führen Friktionen, etwa Verzögerungen, Fehler und Missverständnisse, zu „Abweichungen“ von akribischen Kriegsplanungen.(1)

Der “Handstreich” auf Lüttich

Am ersten August-Wochenende 1914 zogen über Deutschland bedrohliche Wolken auf. In Grenznähe stationierte Truppen wurden alarmiert sowie Posten an wichtigen Verkehrsknotenpunkten, z.B. Bahnhöfen, Brücken und Nachschubrouten, in Stellung gebracht.

Dem in Hannover stationierten Generalkommando des X. Armeekorps wurde vom Großen Generalstab eine höchst geheime “Denkschrift” ausgehändigt. Darin wurde dem Kommandierenden, General der Infanterie Otto von Emmich, die Aufgabe übertragen, Lüttich für den Fall der Weigerung Belgiens, Deutschland den Durchmarsch des deutschen Heeres zu gestatten, im Handstreich zu nehmen. Der Generalstab rechnete mit einer Bereitstellung des belgischen Heeres südlich von Brüssel oder bei Namur – ein Eingreifen bei Lüttich wurde für wenig wahrscheinlich gehalten.(2) Die belgische Operationsfähigkeit wurde von den Planern für die ersten Mobilmachungstage als gering eingeschätzt. Die Friedensbesatzung der Festung Lüttich mit ihren Forts bzw. Fortins wurde auf 6.000 Soldaten geschätzt, im Kriegsfall rechneten die deutschen Generalstabsoffiziere mit 19.000 Mann zuzüglich 3.000 Angehörigen der nur für Hilfsdienste hinter der Front verwendbaren “Garde Civique”.

Am 2. August 1914 trat in Quedlinburg um 15.00 Uhr das 1. und 2. Bataillon mit der Maschinengewehrkompanie feldmarschbereit auf den Kasernenhof. Nach der Rede des Oberst von Oven, Kommandeur des Infanterieregiments 165 (ca. 1.500 Soldaten), segnete der Garnisonsgeistliche die Truppe. Um 20.30 Uhr stand das 1. Bataillon unter klingendem Spiel am Marktplatz, um vom Oberbürgermeister verabschiedet zu werden. Um 22.40 Uhr war dieser Kampfverband bereits verladen und der Zug rollte an. Doch wohin? Die Soldaten kannten den Zielort nicht. Doch bald merkten sie, dass es in Richtung Westen geht. Knapp drei Stunden später folgte der Regimentsstab mit Oberst von Oven, dann das 2. Bataillon unter Major Graf v. Matuschka mit der Maschinengewehrkompagnie. Um 03.20 Uhr folgte das 3. Bataillon unter Major von Saldern.

Kaum am Bahnhof in Aachen angekommen, erhielt die Truppe schon die Befehle für die nächsten 24 Stunden, samt Antreten am Morgen des 4. August 1914.

Inzwischen war auch der Stab des X. Armeekorps aus Hannover in Aachen eingetroffen. Der Befehlshaber all dieser rasch an die Grenze geworfenen sechs Infanteriebrigaden (3) (in Summe ca. 18.000 Mann) – jede mit Artillerie und anderen Waffen ausgerüstet – und drei Kavalleriedivisionen(4) (in Summe ca. 30.000 Mann), General Emmich, samt einem kleinen Teil seines Korpsstabes, hatte den Standort Hannover unauffällig verlassen und war mit dem Auto nach Aachen gefahren.

Auf ihn wartete schon der Oberquartiermeister der II. Armee, Generalmajor Ludendorff, der bis 1913 als Chef der 2. Abteilung, der “Aufmarschabteilung im Großen Generalstab” war und der den Handstreich auf Lüttich geplant hatte, sollte nun dessen Durchführung überwachen.(5)

Die „Denkschrift“ beinhaltet für den 5. August 1914 nachstehende Aufträge:

Die 34. Brigade sollte noch vor Tagesanbruch die Maas bei Visé überschreiten und die Gegend zwischen Slins und Heurele-Romain erreichen. Die 27. Brigade sollte ihre Sicherungen bis an den Südwestrand von Blegny vortreiben und mit ihren beiden 21cm-Mörser-Batterien das Feuer auf die Forts de Pontisse und de Barchon eröffnen.

Die 38. Brigade sollte das linke Ourthe-Ufer bei Poulseur erreichen und die 43. Brigade – im Amblève-Tal vormarschierend – die Gegend südlich von Poulher.

Die 2. und 4. Kavalleriedivision sollte im Norden, in der Nähe zur holländischen Grenze, die Maas überschreiten und gegen Antwerpen – Brüssel – Charleroi aufklären, während die 9. Kavalleriedivision im Süden die Maas zwischen Lüttich und Huy zu überschreiten hatte. Sie sollte weiter in Richtung Namur und Givet aufklären und die Angriffstruppen gegen Namur absichern.

In der Mitte, zwischen der 34. und 27. Brigade, sollte die 14. Brigade unter Generalmajor von Wussow den Stoß entlang der Straße von Aachen nach Lüttich zur Karthause und schließlich zur Zitadelle am anderen Maas-Ufer mitten durch eine Kette von 6 Panzerforts(6) führen.  Direkt an der befohlenen Marschroute befanden sich das Fortin d´Evegnée im Norden und das Fort de Fléron im Süden.

Am linken Maas-Ufer gab es weitere sechs Forts und im Stadtbereich die Zitadelle. Die Bewaffnung der Forts bestand aus 8 schweren, 4 leichten Geschützen (bei den Fortins waren es 7 schwere und 3 leichte). Zusätzlich hatten alle 5,7 cm-Schnellfeuergeschütze, die für den beweglichen Einsatz zwischen den Forts vorgesehen waren. Der Durchbruch war für die Nacht vom 4. auf den 5. Mobilmachungstag geplant. Die an den Planungen beteiligten deutschen Generalstabsoffiziere dürften diesen Kriegsschauplatz mit ähnlicher Akribie analysiert haben, wie ihr englischer Kamerad Henry Wilson mit seinen französischen Freunden die Gefechtsräume in Belgien.

Der Handstreich bedeutete einen Gewaltangriff auf eine starke Festung bei schwierigen Geländeverhältnissen. Der Durchmarsch musste erzwungen werden, und das hieß: Krieg mit Belgien – einem Land, das mit der politischen Krise überhaupt nichts zu tun hatte! Dieses 15 Jahre nach Waterloo gegründete Staatengebilde sollte nach dem Willen der Großmächte eine Art Pufferstaat zwischen Deutschland und Frankreich werden.

Für England war Belgien nur ein Spielball. Am 23. April 1912 hatte der belgische Generalstabschef, General Jungbluth, im Beisein eines hohen Beamten des Außenministeriums, des Grafen von der Straaten, eine Unterredung mit dem englischen Militärattaché in Brüssel, Oberstleutnant Tom Bridges. Der Graf hielt in seiner Mitschrift den Dialog fest: „Die englische Regierung hätte während der letzten Ereignisse (Marokkokrise) unmittelbar eine Landung bei uns (in Belgien) vorgenommen, selbst wenn wir keine Hilfe verlangt hätten“. Daraufhin wandte der General ein, „…dass dazu unsere Zustimmung notwendig sei… Der Militärattaché hat geantwortet, dass er das wisse; aber da wir nicht imstande seien, die Deutschen abzuhalten, durch unser Land zu marschieren, so hätte England seine Truppen in Belgien auf jeden Fall gelandet“.(7)

Das Deutsche Reich dagegen würde bei einem unerlaubten Durchmarsch durch Belgien in der ganzen Welt als Aggressor dastehen. Mit Sicherheit war die damalige Entscheidung des deutschen Generalstabs, den Durchmarsch zu erzwingen, nicht alternativlos! Ein Durchbruch durch eine Festungsanlage wie Lüttich setzte eine kriegsnahe Ausbildung voraus (Deutschland hatte seit 1870/71 keine Kriege mehr geführt).

Die kriegsnahe Ausbildung hatte der Generalstab zwar beantragt – sie war jedoch aus politischen Gründen abgelehnt worden. Unter diesen Umständen kann man die Entscheidung für den Handstreich nur als verantwortungslos bezeichnen.

Schon am 2. Mobilmachungstag, am 3. August 1914, traf um 19.00 Uhr, nach über 20 Stunden Bahnfahrt, das 1. Bataillon des InfRgt. 165 (8) am Zielort ein: Aachen-Roterde. Es wurde ausgeladen und zu seinem Biwakplatz am Südwestausgang von Aachen geführt. In der Nacht auf den 4. August trafen die restlichen Teile des Regiments ein.

Nur wenige Kilometer westlich davon wurden umsichtig die Abwehrmaßnahmen verstärkt. Um 03.30 Uhr hatten die Lütticher Forts das Zeichen gegeben, alles niederzubrennen oder abzureißen, was das Schussfeld einschränkte. Im Dorf Boncelles wurden 130 Häuser und die Kirche von den belgischen Pionieren gesprengt. „Was uns am meisten bewegt, ist die Zerstörung von Wohnhäusern in der Umgebung der Forts, ist das tiefe Elend aller der Unglücklichen, die aus ihren Wohnungen vertrieben sind und ihre Sachen, ihre Möbel forttragen, um sie vor der Zerstörung in Sicherheit zu bringen.“(9) Am gleichen Tag wurden auch die im Bereich des Lütticher Gouverneurs liegenden Tunnel gesprengt.

Am 4. August 1914 um 06.00 Uhr lief das auf 12 Stunden befristete Ultimatum an Belgien aus. Zur gleichen Zeit brach das InfRgt. 165 nach einer regnerisch kalten ersten Nacht das Biwak ab. Unsicherheit, Aufregung, geschürt durch Gerüchte, dass in den vor Aachen liegenden Wäldern Franktireurs herumstreiften, ließen vermutlich nur wenige Soldaten Schlaf finden.

Nachdem Belgien seine Einwilligung für einen deutschen Durchmarsch verweigert hatte, teilte der deutsche Botschafter in Brüssel der belgischen Regierung mit, dass das Deutsche Reich sich nach Ablehnung seiner Vorschläge nun gezwungen sehe, die zur „Abwehr der französischen Bedrohung nötigen Maßnahmen notfalls mit Gewalt durchzusetzen“.(10)

Jetzt erst wurden die Kommandeure in die kommende Aufgabe – Lüttich handstreichartig zu nehmen – eingewiesen. Der Autor, selbst ehemaliger Pionieroffizier, hat sich vor Ort ein Bild gemacht. Ungeachtet der 12 Forts hält er einen Angriff allein von der Topografie her für kaum durchführbar. Lüttich liegt in einer nach Westen ausgebuchteten Maas-Schleife. Die zwischen 100 und 160 Meter breite Maas vereinigt sich hier mit den Flüssen Ourthe und Vesdre. Alle weisen tiefeingeschnittene, steile Flussufer auf, die bei einem kriegsmäßigen Übergang die Pioniertruppe vor enorme Probleme stellt. Anzunehmen, man werde alle Maas-Brücken oder zumindest die Brücke in Visé unversehrt in die Hand bekommen, scheint dem Autor mehr als verwegen, ja gerade verantwortungslos. In der von General Emmich am 31. Juli 1914 ausgehändigten Denkschrift des Generalstabs hieß es dazu nur lapidar: „Während des Vormarsches ist jeder Feind, ohne Prüfung seiner Stärke, rücksichtslos anzugreifen. Der Angriff durchstößt die Zwischenräume der Werke [Forts] ohne Artillerievorbereitung. Er bemächtigt sich der die Stadt umgebenden Uferhöhen, schneidet die Besatzung ab, sucht durch Besetzung der Chartreuse und der Zitadelle Einfluss auf die Stadt zu gewinnen und verhindert die Zerstörung der Tunnel, Bahnhöfe und Brücken. Letztere sind zur Zerstörung vorbereitet. Ihre schnelle Besetzung ist daher wichtig.“(11)

Nun erhielt jedes Bataillon 10.000 Mark in Gold. Davon jeder Kompanieführer 2.000 Mark: Damit sollte die Truppe alles bar bezahlen, was sie in Belgien brauchte.(12)

Um 08.30 Uhr sammelten sich die Führer der verstärkten 14. Infanterie-Brigade (InfBrig) an der Straße Aachen-Herbesthal bei Bildchen.(13) Im weiteren Verlauf soll nur exemplarisch ein Bild aus den ersten Kriegstagen in Belgien entworfen werden. Dazu wird der auf das Zentrum von Lüttich zielende Angriff der 14. InfBrig – hier vor allem das InfRgt 165 – nachgezeichnet.

Um 08.45 Uhr gab der Brigadekommandeur den Befehl zum Vormarsch über Henri Chapelle, Battice auf Herve.

Das Wetter war trüb und regnerisch; das Jägerbataillon 4 bildete die Vorhut, dicht aufgeschlossen folgte das InfRgt 165. Vor der belgischen Grenze wurde gehalten und ein Aufruf des Befehlshabers des X. Armeekorps, des Generals der Infanterie, Otto v. Emmich verlesen, in dem dieser die Belgier aufforderte, eingedenk der Waffenfreundschaft von Waterloo her den Deutschen freien Durchzug durch ihr Gebiet zu gewähren und sich jeglicher feindseliger Handlungen zu enthalten. Die belgische Grenzbevölkerung stand diesem Aufruf mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Während den marschierenden deutschen Soldaten Wasser angeboten wurde (vielleicht auch nur aus Angst), wurden die Straßen aufgerissen und Baumsperren errichtet. Hielten diese Maßnahmen den deutschen Vormarsch auch nur geringfügig auf, so waren sie doch ein Indiz dafür, dass die belgische Bevölkerung gewillt war, den Deutschen den Vormarsch so schwer wie nur möglich zu machen.  Bald wich die friedliche Landschaft kriegerischen Bildern: Pioniere beseitigten Straßensperren, Husaren brachten gefesselte Zivilpersonen, Gewehrfeuer war zu hören.

Dieser völkerrechtswidrige(14) Einmarsch deutscher Truppen in das neutrale Belgien führte unverzüglich zu einer Reaktion Londons. In Berlin überreichte der britische Botschafter Sir William Goschen dem deutschen Reichskanzler Bethmann Hollweg ein auf Mitternacht befristetes Ultimatum, in dem die Zusage verlangt wurde, dass Deutschland die belgische Neutralität entsprechend dem Londoner Vertrag von 1839 achten werde. Bethmann Hollweg hielt Sir William Goschen vor, dass Großbritannien wegen eines “Fetzen Papiers” gegen Deutschland in den Krieg ziehe, was in London mit Empörung aufgenommen wurde. Die britische Regierung war im Gegenzug jedoch nicht bereit, Deutschland ein Neutralitäts-versprechen zu geben. Dazu waren die Absprachen zwischen dem englischen und französischen Generalstab schon zu weit gediehen Außerdem hatte Seelord Churchill ein politisches Axiom geschaffen: „Großbritannien übernimmt den Schutz der französischen Nordseeküste, Frankreich den der Interessen Englands im Mittelmeer“.(15) Spätestens an diesem Nachmittag hätten alle an der Krise Beteiligten zur Vernunft kommen können und müssen. In allen Hauptstädten war der Wille zum Frieden niedergewalzt worden. Überall hatten die Kriegsparteien gesiegt!

In dieser Stimmung versammelten sich am Abend des 4. August 1914 Henry Asquith, der britische Premier, sein Außenminister Sir Edward Grey und die noch nicht aus Empörung über die britische Kriegsplanung zurückgetretenen Minister des Kabinetts im Sitzungssaal der Downing Street. Nervös saßen sie um den Tisch des Sitzungssaals und warteten auf den (in London 23.00 Uhr) befristeten Ablauf ihres Ultimatums an Deutschland (Berlin 00.00 Uhr).

Als sich die 23. Stunde mit Glockenschlag ankündigte, formulierten die Herren das englische Kriegstelegramm, welches 20 Minuten später telegrafisch übermittelt wurde: “Krieg, Deutschland, Handeln”. Ohne weitere Kriegserklärung befand sich nun Großbritannien im Krieg mit dem Deutschen Reich. Die englischen Dominions folgten umgehend (zumeist ohne gesonderte Kriegserklärung), womit sich innerhalb weniger Tage aus dem Lokalkrieg ein Kontinentalkrieg und aus diesem der Erste Weltkrieg entwickelt hatte.(16)

Mit dem englischen Kriegseintritt wurde der Befehl an die britische Marine gegeben, aus dem deutschen Überseekabel vor Emden ein Teilstück herauszuschneiden – was bereits in den frühen Morgenstunden des 5. August 1914 geschah. Diese Maßnahme darf nicht unterschätzt werden. Sie verschaffte Großbritannien die propagandistische Oberhoheit über die amerikanischen Seelen.

Der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg drückte die Skrupel der deutschen Reichsregierung, Belgiens Neutralität zu verletzen, am 4. August 1914 vor dem Reichstag mit den Worten aus:

So waren wir gezwungen, uns über den berechtigten Protest der luxemburgischen und der belgischen Regierung hinwegzusetzen. Das Unrecht – ich spreche offen – das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wiedergutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut“.(17) Das Reichstagsprotokoll vermerkt: Ungeheure Bewegung; stürmisch wiederholter Beifall. Das mit dem Durchhauen war leichter gesagt als getan.

Als sich spät nachmittags die Reiter der 2. und 4. Kavalleriedivision der Brücke von Visé näherten, flogen Teile davon in die Luft. Da es unmöglich erschien, einen Übergang über die 150m breite Maas zu erzwingen, bezog die 34. InfBrig am Nordausgang von Berneau ihr Biwak. Viele der Soldaten hatten in den vorausgegangenen drei Tagen wenig Schlaf gefunden und krochen todmüde in ihre Zelte. Um Mitternacht rief ein übervorsichtiger Wachposten des InfRgt 90 in die Dunkelheit: “Halt, wer da!” Gleich darauf fielen Schüsse. Jeder meinte, sich gegen einen unbekannten Feind wehren zu müssen. Sogar die Maschinen-gewehre fingen an zu rattern. Nur langsam gelang es den Offizieren, das Feuer einzustellen und die Soldaten zu beruhigen.

Aber kaum waren die Leute in ihre Zelte zurückgekehrt, da ging der Tumult von neuem los. „Eine Kompagnie des 1. Bataillons machte sich daran, mit Hurra und aufgepflanztem Seitengewehr das Biwak des 2. Bataillons zu stürmen“.(18) Das erste Beispiel nächtlicher Panik – weitere sollten folgen.

Im Gefechtsstreifen der InfBrig 14 sicherte das 2. Bataillon /165 unter Major Matuschka gegen die Forts-Linie von Lüttich im Raum Bolland-Mélen-Soumagne. Eine vorgeschobene Feldwache reichte bis dicht vor Micheroux. Auch beim 2. Bataillon verlief die Nacht sehr unruhig. Feindliches Gewehrfeuer konnte auch nicht eindeutig ausgemacht werden. Dazu mischten sich die Kanonen des Forts de Fléron in die Unterhaltung. Die ungeklärte Gefechtslage ließ den Kommandeur des 2. Bataillon das 3. Bataillon alarmieren und nah an die Vorposten heranschieben. Nach zwei Stunden war die Situation geklärt und das 3. Bataillon konnte wieder in sein Biwak zurück marschieren.

Nun ein Blick nach Osten:

Erst wenige Wochen vor Kriegsbeginn hatte Kriegsminister Suchomlinow, geschwächt durch das Intrigenspiel mit dem Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch Romanow, ein einheitliches Armeehauptquartier, die sogenannte “Stawka” aufstellen können. Nach einigem Zögern ernannte der Zar am 2. August 1914 seinen frankophilen Cousin Nikolai, der nie eine Armee im Feld kommandiert hatte, zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen russischen Armee. Die Armee im Westen blieb in zwei Fronten gegliedert: Während die Südwestfront unter General Nikolai Iwanow gegen die K.u.K.-Truppen in Galizien kämpfen sollte, waren die I. und II. Armee der Nordwestfront unter General Jakow Schilinski gegen Ostpreußen zum Angriff angetreten. Von Norden her führte General Pavel von Rennenkampf die I. Armee und von Südwesten her General Alexander Samsonow die II. Armee.

Auf Drängen des französischen Generalstabs marschierten die beiden Armeen der Nordwest-Front vom 4. bis 7. August 1914 in Ostpreußen ein. Frankreich erhoffte sich dadurch einen Truppenabzug an der deutschen Westfront. Dies geschah, obwohl – wie der russische Stabschef der Nordwestfront berichtete – die Truppen noch nicht bereit für eine Offensive waren. Dennoch zwangen sie die VIII. Deutsche Armee zum Rückzug und setzten zu einem Angriff auf Königsberg an.(19)

Zurück nach Belgien:

Da am Morgen des 5. August 1914 belgische Infanterie weiter das linke Maas-Ufer bei Visé besetzt hielt, setzten die Reiter der Aufklärungsschwadronen und Fernpatrouillen weiter nördlich (bei Lixhé und Schloss Navarre, dicht an der holländischen Grenze) unter Zuhilfenahme von strohgefüllten Zeltbahnen über, während die Pferde nebenher schwammen. Anschließend sollte die Infanterie übergesetzt werden. Da aber das Brückengerät nicht für die volle Flussbreite ausreichte, wurden Fähren gebaut. Die steilen Uferverhältnisse und die starke Strömung sorgten für Probleme. So konnte die Artillerie-Abteilung (II./60) und das InfRgt 25 nicht übergesetzt werden. Bis zur Dunkelheit standen die beiden Jäger-Bataillone 7 und 9 sowie die Mecklenburgische Brigade mit dem InfRgt 89 und dem Füsilier Regiment 90 noch auf dem linken Maas-Ufer.

Zwischen der 27. und der 11. Brigade rückte die 14. Brigade in Teilen bis Micheroux vor. Am Abend des 5. August 1914 hatten alle Brigaden ihre Ausgangsstellungen für den Durchbruch erreicht. Die feindliche Artillerie, insbesondere die vom Fort de Fléron, zwang mehrfach zum Verlegen der Rastplätze. Um 22.30 Uhr gab Generalmajor Wussow den Befehl an die Brigade-Kommandeure. Darin wurden die Aufgaben in militärischer Nüchternheit befohlen: „Unsere sämtlichen Kolonnen marschieren derart ab, dass sie 04.00 Uhr ihr Ziel, die auf dem rechten Maas-Ufer liegende Chartreuse, unmittelbar bei der Stadt Lüttich stürmen können“.(20) Führer der Sturmkolonne war General von Wussow selbst. Im Vortrupp eine Kompanie vom 2. Bataillon / InfRgt 27 sowie zwei Züge des Pionierbataillons 24. Mit 100 Metern Abstand folgte das Gros, bestehend aus dem InfRgt 27, dem 2. Bataillon des Feldartillerieregiments sowie ein Zug Pioniere mit Leitern und Handgranaten.

Die Abschnittsreserve, geführt von Oberst von Oven, bestand aus dem InfRgt 165 und dem Jägerbataillon 4 sowie einer Kompanie des Husarenregiments 10 und sollte der Sturmkolonne mit 200 Metern Abstand folgen.(21) Gegen Mitternacht war auch General von Emmich mit seinem Stab, begleitet von Generalmajor Ludendorff, am Gefechtsstand von General Wussow eingetroffen. Dieser lag etwa 3 km nordwestlich des Forts Fléron.

Gemäß Brigadebefehl trat gegen 23.00 Uhr die 6. und 8. Kompanie des 2. Bataillons / InfRgt 165 von La Maladrie auf der großen Straße Herve-Micheroux gegen das Fort Fléron an. Um 00.30 Uhr setzten sich die 1. und 4. Kompanie des 1. Bataillons / InfRgt 165 von Mélen gegen das Fortin d´Evegneé in Marsch; sie gelangen in kurzer Zeit nahe an das Fortin und eröffneten das Feuer.

Um Mitternacht traten die 6. und 8. Kompanie des 2. Bataillons /165 vom Biwak westlich Herve an, um gegen das Fort de Fléron vorzugehen. Um 01.00 Uhr trat der vom Großen Generalstab bestimmte wegführende Offizier den Marsch an. Im 100 Meter-Abstand folgte das 2. Bataillon / InfRgt 27. Hier ritt der Brigadekommandeur mit seinem Stab. Als der Vortrupp Micheroux erreichte, fielen aus den nahegelegenen Gebäuden einzelne Schüsse. Während der Vortrupp weitermarschierte, erwiderte das folgende 2. Bataillon / InfRgt 27 zunächst vereinzelt, dann heftiger das Feuer. Unter den in Micheroux aufmarschierten Kolonnen (Infanterie, Artillerie, Munitionskolonnen, Gefechtsbagagen) brach Verwirrung aus(22) und Reitpferde durchgingen und die Kolonnen rückwärts auszuweichen versuchten, wurde der Kampf aufgenommen, dessen Mündungsfeuer sich vielfach in den Fensterscheiben spiegelte. Schnell wurden die Häuser gestürmt, verdächtige Zivilpersonen verhaftet und – sofern mit einer Waffe angetroffen – auch sofort erschossen.

Das harte Vorgehen gegen Freischärler war prinzipiell durch die Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907 gestattet. Mit diesen drakonischen Strafmaßnahmen sollte der Krieg auf militärische Einheiten begrenzt werden. Leider ging in diesem Fall im wörtlichen Sinn der Schuss nach hinten los: Durch die Übergriffe wurde eine Welle von Hass und Rachsucht ausgelöst, die den Krieg erst richtig anfachte. Umsichtige Offiziere befahlen nun, das Feuer einzustellen und mit entladenen Gewehren den weiteren Vormarsch anzutreten. Viele trauten jedoch der Lage nicht und ließen die Waffen geladen. Die Verluste der am nächtlichen Häuserkampf beteiligten Kompanien waren gering. Sie gingen vielleicht sogar auf “friendly fire” zurück. Erstaunlicherweise blieb im Fort de Fléron alles ruhig, obwohl vom Fort aus die Straße nach Micheroux einzusehen war.

Als gegen 02.00 Uhr die Spitze der Sturmkolonne die ersten Häuser von Liéry erreichte, schlug den Angreifern von allen Seiten aus Häusern, Hecken und Gärten heftiges Gewehrfeuer entgegen. Dieses Feuer wurde noch durch zwei auf der Dorfstraße aufgefahrene belgische Geschütze verstärkt, die mit Kartätschenfeuer – von der Artillerie verschossene Schrotladungen – in die Marschkolonne schossen.  Die Verluste waren hoch. Tödlich getroffen sank General-major von Wussow vom Pferd, gleichzeitig fiel sein Ordonnanzoffizier und der neben ihm reitende Kommandeur des InfRgt 27, Oberst Krüger. Nun mussten Stoßtrupps die tapferen Verteidiger aus ihren Häusern vertreiben.

Um 04.00 Uhr, nach zwei blutigen Stunden, hatte sich die 14. InfBrig den Westrand von Liéry erkämpft. Nach Plan hätte sie schon im Besitz der Chartreuse sein müssen. Doch auch das nächste Zwischenziel, Queue du Bois, konnte nur mühsam erkämpft werden. Schnell wurden Geschütze am Westrand von Liéry in Stellung gebracht und das Feuer auf die Verteidiger von Queue du Bois eröffnet. Gleichzeitig gingen unter Führung von Major von Marcard die 3. und 4. Kompanie des Jägerbataillons 4, vermengt mit Teilen des InfRgt 27, südlich und nördlich der Straße nach Queue du Bois vor. Dicht hinter ihnen folgte Generalmajor Ludendorff. Der Widerstand wurde stärker. Kleine Kampfgruppen, unterstützt von Pionieren, erkämpften jedes Haus. Weitere Haubitzen mussten auffahren. Erst um 06.30 Uhr war der Westrand von Queue du Bois erreicht. Die Infanterie stieß den nach Westen ausweichenden Belgiern nach. Gegen 03.00 Uhr hat das Gros des InfRgt 165, unterstützt durch eine Maschinengewehrkompanie des Jägerbataillons 4, die nördlich von Sur Fosse gelegenen Gräben der Belgier genommen. Hier machte die MG-Kompanie Gefangene, 1 Offizier und etwa 85 Soldaten. Während in Queue du Bois heftig gekämpft wurde, sammelte Oberst von Oven sein stark gelichtetes Regiment in Liéry. Die Brigade war zu erschöpft und durch die nächtlichen Kämpfe zu sehr vermischt worden, um dem abziehenden Verteidiger zu folgen. So wurde am 6. August 1914 von 07.00 bis 09.00 Uhr beiderseits des Nordwestteils von Queue du Bois eine längere Rast befohlen.

Der Befehl, die Chartreuse um 04.00 Uhr von Norden und Süden anzugreifen, war hinfällig geworden. So marschierte die Brigade vorerst weiter und erreichte gegen 12.30 Uhr die Höhen bei Les Bruyères, 2,5 km südwestlich von Jupille. Vor und unter ihnen lag die Chartreuse, auf dem anderen Maas-Ufer, inmitten der Häuserschluchten von Lüttich, die Zitadelle.

Welche Gedanken gingen den Quedlinburgern Jägern durch den Kopf? War der Kampf um die Dörfer schon so heftig, wie sollte diese Stadt mit ihren vielen Befestigungen erobert werden?

Gegen 13.30 Uhr schoss die Artillerie sparsames Störfeuer auf die Stadt, vor allem auf die Chartreuse und die Zitadelle. Am späten Nachmittag stellte die Radfahrkompanie des Jägerbataillons 4 fest, dass die Chartreuse vom Feind frei war. Also wurde sie sofort von einer Kompanie des InfRgt 165 besetzt; man brachte alle bisher eingebrachten Gefangenen dort unter – über 1.000 an der Zahl. Alle Versuche, zu den eigenen Nachbarn, der 27. Brigade im Norden und der 11. Brigade im Süden, Verbindung aufzunehmen, scheiterten. Auch die Verbindung zu den Kräften in der Tiefe war abgebrochen. Die 14. Brigade stand im Festungsgürtel von Lüttich allein da! Im Halbkreis um Godet und Les Bruyères richtete sie sich mit Front nach Westen, Südwesten und Süden zur Verteidigung ein.

Nun ein Blick zur Entwicklung der 34. InfBrig mit dem unterstellten Jägerbataillon 7, die bei Lixhé die Maas überwunden hatte. Nach erfolgter Bereitstellung in Hermée marschierten die Infanterieregimenter 89 und 90 samt Jägerbataillon 9 auf Lüttich zu, ohne den Weg hinein zu erkunden, und wurden bei Rhées und Herstal in Kämpfe verwickelt. Schließlich mussten sie den Rückzug antreten. Nur das Jägerbataillon 7 aus Bückeburg, es bildete den westlichen Flügel, erreichte im Morgengrauen des 6. August 1914 bei Tribouillet den Nordrand von Lüttich. Durch den Nebel schimmernd, tief unter ihnen, öffnete sich den Jägern die Maas-Schleife. Aus ostwärtiger Richtung war nur schwacher Gefechtslärm zu hören.

Vorerst wurden Wachen aufgestellt und die Bewohner der nächsten Häuser aufgefordert, Kaffee zu kochen. Der Bataillonskommandeur, Major Donalies, entschied, die 1. Kompanie zur Aufklärung in die Stadt zu schicken. Die deutschen Jäger mit den grünen Uniformen und einem Tschako statt der Pickelhaube auf dem Kopf wurden von den Bewohnern für eine englische Hilfstruppe gehalten und mit großem Hurra begrüßt. Das machte auf die Kompanie einen guten Eindruck – sie fühlten sich sicher. Doch bald wurde aus der Komödie eine Tragödie, wie dem außergewöhnlichen Augenzeugenbericht des damaligen Oberjägers M. Strathmann zu entnehmen ist:

Wir marschieren als Paradetruppe nach Lüttich hinein. Voran ein Zivilist, dann vier Offiziere: Kommandeur und Adjutant der 9. Jäger, unser Hauptmann und Leutnant d.R. v. Alvensleben. Dann die entrollte Fahne, die Kompagnie in tadelloser Gruppenkolonne, genauso, als wenn wir in Bückeburg die Fahne vom Schloss geholt hätten. Menschen drängen sich um uns. Das Ungeheuerliche wird uns immer klarer: die Bevölkerung erkennt uns nicht, hält uns für Engländer, die gekommen sind, Lüttich zu entsetzen. Rufe: Vive La France! Vive L`Angleterre! Das Volk ist begeistert, schwenkt Tücher, alle Fenster voller Menschen. Schokolade und Zigaretten kommen in unsere Taschen. Unheimlich. Schweigsam marschieren wir immer weiter in die Stadt. Wir wissen nur: wir sollen in Lüttich Quartier machen; andere behaupten: wir sollen den Bürgermeister verhaften. Eine belgische Militärkapelle steht an der Straße – wir marschieren vorbei – bekümmern uns nicht – marschieren nur. Plötzlich: Halt, Gewehr ab! Wir stehen vor der Straßenabzweigung unter der Kirche. Halblinks war nur eine Fabrik (Waffenfabrik). Am Gitter stehen zwei Belgier in hohen Pelzmützen als Posten. Der Zivilist geht in das Gebäude neben der Fabrik, kommt mit zwei belgischen Offizieren ebenfalls in Pelzmützen aus dem Gebäude heraus – auf die Kompagnie zu. Einer der belgischen Offiziere soll unsere Herrn an der Spitze gefragt haben: ‘Sind Sie Deutsche oder Engländer?’ Alvensleben schreit ihn an: ‘Wir sind Deutsche!’ Sofort ziehen die Belgier ihre Pistolen, und die Offiziere der Spitze fallen bis auf den Adjutanten der 9. Jäger.

Uns trifft dieser Überfall, als wir gerade die Gewehre zusammensetzen wollen. Grausame Lage: Gewehr in der Hand –  dann laden – jeder handelt selbständig. Inzwischen ist die Hölle über uns losgebrochen. Die Fabrik feuert aus allen Fenstern und Löchern …Wir können keinen Gegner sehen. Zivilisten stürzen aus den Häusern und knallen in unsere Reihen. Kein Kommando –  kein Befehl – wir zogen wieder die Straße rückwärts… Wer liegt, bleibt liegen; mitnehmen unmöglich. Völlig zerbrochen an Leib und Seele kommen wir wieder auf die Höhen am Fluss. Keine Truppe –  sondern eine Herde zerquälter Menschen.“(23)

Soweit die Schilderung des Oberjägers Strathmann, die sein subjektives Empfinden wiedergab. Dabei ist dem Oberjäger aber das wichtigste Detail entgangen. Vor der Fabrik befand sich das Hauptquartier des belgischen Befehlshabers Gouverneur General Léman. Hier erkannte man den Fehler schnell, reagierte aber falsch! Aus der Paradeordnung der auf der Rue St. Foy nach Süden aufmarschierenden Deutschen folgerten die belgischen Generalstabsoffiziere, dass die Deutschen die gesamte Nordfront aufgerollt hätten. Nach dem belgischen Generalstabsplan hätte alles passieren dürfen, nur nicht der Verlust der Nordfront. Auch hier Panik! Während Angehörige des belgischen Stabes fielen, sorgte der Chef des Generalstabs dafür, dass der 60jährige General Léman die Kommandantur über den Hintereingang verlässt und über eine an den Park grenzende Gartenmauer gehoben wird. Ziel war die nur wenige hundert Meter entfernte Zitadelle.

Auf den Höhen nördlich von Bois de Breux stand inzwischen deutsche Feldartillerie in Feuerstellung. Ein Leutnant schaute durch sein Glas auf die Zitadelle. Entfernung 4.200! Feuer! Wo bleibt der Schuss? Gerade in dem Moment, als Léman hier oben ankam, fielen drei Granaten ausgerechnet in die Mitte des Festungshofes! General Léman war überzeugt, dass diese Salve ihm und seinen Begleitern gegolten hat.(24) Er fasste mit seinem Chef des Generalstabs einen unheilvollen Entschluss. Das alte Gemäuer der Zitadelle wurde nicht mehr als sicher genug angesehen. Unverzüglich brach man in das 6 km nordwestlich gelegene Fort de Loncin auf.

Inzwischen wurde der deutsche Leutnant von seinem Batteriechef gerüffelt: „Wo sind die Feinde? – sind Sie verrückt?“ Der Leutnant wurde wegen Vergeudung von Munition fürchterlich zusammengestaucht. Gegen 08.00 Uhr traf Léman im Fort de Loncin ein. Unter dem Eindruck, dass die Front an mehreren Stellen durchbrochen ist und die übrigen Truppen nicht mehr voll kampffähig sind, erteilte er um 08.35 Uhr folgenden Befehl: „Unsere Truppen werden sich wieder in der Linie Fort Lantin – Amon Delbroucq Coq Fontaine – Grâce-Berleur – Fort de Hollogne, Front nach Lüttich, festsetzen. Es sind Schützengräben anzulegen und zunächst Verbände zu bilden aus den Einheiten, wie sie gerade zusammentreffen. Hauptquartier Fort de Loncin.(25)

Dabei waren die Angriffe der 27. InfBrig erfolgreich abgeschlagen worden. Von den 1.800 Mann des InfRgt 89 waren nur 600 übriggeblieben. Sie wurden über eine Behelfsbrücke auf das Ostufer der Maas zurückgenommen und biwakierten östlich von Mouland. Im Südabschnitt sah es für General Emmich auch nicht viel besser aus. Die getrennt vorgehenden Brigaden verloren in der Nacht die Verbindung, schätzten den Widerstand als zu stark ein und gingen zurück – in Unkenntnis der an anderer Stelle erkämpften Erfolge. Inzwischen waren alle zu den Nachbarbrigaden entsandten Patrouillen ergebnislos zurückgekehrt. Sie hatten nirgendwo deutsche Truppen finden können und waren bald auf den Widerstand von Resten der belgischen Abschnittsbesatzungen gestoßen. Um zumindest den Teilerfolg aller Angriffsbemühungen vom 6. August zu sichern und beste Ausgangsbedingungen für den kommenden Tag zu schaffen, befahl Emmich noch am späten Abend, die vor der 14. Brigade liegenden Maas-Brücken zu besetzen. Gegen 22.30 Uhr setzte die 3. Kompanie des Jägerbataillons 4 diesen Auftrag um. Die Nacht verlief ohne weitere Störung.

Warum unternahmen die Belgier, die noch im Besitz aller Panzerforts waren, keine Anstalten, die Maas-Brücken wiederzugewinnen und die 14. Brigade in ihrer – die Stadt bedrohenden – Stellung anzugreifen? Warteten sie darauf, dass diese Brigade ihre Stellungen verlassen muss, um von den Höhen des ostwärtigen Ufers zur Maas hinabzusteigen?

Mit einer geschwächten Infanteriebrigade in die Industriestadt Lüttich einzumarschieren, erschien riskant.  Um 06.30 Uhr befahl General Emmich den Einmarsch in die Stadt. Nur 30 min später rückten sechs Kompanien des InfRgt 165, ein Maschinengewehrzug, ein Geschützzug sowie Pioniere vor. Dicht hinter der Spitze der Kommandeur, Oberst von Oven, und der Chef des Korpsstabs, Oberst Graf von Lambsdorff. Gegen 07.00 Uhr rückte das InfRgt 165 über die Boverie-Brücke, ohne auf Widerstand zu stoßen, in die Innenstadt ein. Neun belgische Kompanien streckten die Waffen. Im Vorort Ans, an der Straße nach Brüssel, bezogen die 165er eine Verteidigungsstellung, während sich das InfRgt 27 in der Zitadelle festsetzte. Am Nordflügel bezogen die 27. und 34. Brigade Quartier südöstlich von Visé bis nach Neuchateau. Die beiden Brigaden des Südflügels hingen zurück. Sie biwakierten in der Gegend von Louveigne. Auch stand die Masse der Kavallerie im Norden wie im Süden noch ostwärts der Maas- und Ourthe-Linie. Das war General Emmich aber nicht bekannt. Noch fehlte die Verbindung zu diesen Brigaden. Nur die 14. Brigade stand mit Teilen in Lüttich, hatte die Zitadelle besetzt und viele deutsche Soldaten aus belgischer Gefangenschaft befreit – hier vornehmlich Angehörige der 34. Brigade. Alle Brücken, einschließlich der wichtigen Eisenbahnbrücke, waren in deutscher Hand. Nur die alte Straßenbrücke “Pont des Arches” konnte von den Belgiern teilweise gesprengt werden. Trotzdem war die Lage angespannt. Infanterie und Artillerie hatten sich bis auf schwache Restbestände verschossen und alle Panzerforts waren noch kampfbereit. Was für eine Konstellation! Der Angreifer saß mit nur einem Bruchteil seiner Kräfte im Kern der Festung Lüttich und die Verteidiger harrten in ihren Panzerforts, die Lüttich umschlossen, aus.

In dieser insgesamt unübersichtlichen Lage befahl General Emmich kurzerhand dem Oberleutnant von Nida, sich ein Taxi zu nehmen und den 100 km langen Frontabschnitt nach den Brigaden abzusuchen. Der belgische Taxifahrer ging auf das Geschäft ein und fuhr mit dem Oberleutnant und einem Jäger zunächst in Richtung Süden. Bald konnte Nida im Norden das belgische Fort de Fléron weit über die Talstraße hinweg im Kampf mit der deutschen Artillerie beobachten. Ungehindert passierten sie den belgischen Fortgürtel und stießen auf Soldaten der Regimenter 20 und 35 der 11. InfBrig, die beim Anblick des aus einem belgischen Taxi steigenden deutschen Offiziers einigermaßen verblüfft waren. Nach langem Suchen fand Nida den Kommandeur, Generalmajor von Wächter, auf einer Anhöhe. Er erzählte dem verdutzten Wächter vom Einmarsch der 14. Brigade nach Lüttich, die dort dringend durch die 11. Brigade verstärkt werden müsse. Dazu solle er mit seiner Brigade den Weg nehmen, den Nida soeben gekommen sei. Zunächst glaubte Nida, der General würde ihn wegen der Zumutung, durch eine intakte und feuernde Fortlinie zu marschieren, für verrückt halten. Doch der entschied sich anders. Er hielt Nida nun für einen Spion und ließ ihn verhaften – jeder Einwand war zwecklos. Feldgendarmen führten ihn weg. Doch Nida konnte die einfachen Soldaten trotz ihrer Furcht vor dem Kommandeur überreden, ihn noch einmal zum General zu bringen. Zum Beweis seiner Identität zählte Nida dem General dessen gesamten militärischen Werdegang unter Berücksichtigung der Rangliste aller Generäle auf. Das beeindruckt General von Wächter und er befahl sofort: Brigade marsch!

Vom Verbleib der 38. und 43. Brigade war der 11. Brigade nichts bekannt. Auf der weiteren Suche versagte der Wagen im bergigen Gelände öfters, sodass Nida sich gezwungen sah, nach Lüttich zurückzufahren. Vor dem Rathaus tauschte er das Taxi gegen einen schweren Wagen ein und ließ sich von seinem Taxifahrer über Ougrée nach Südwesten, Richtung Plainevaux fahren – von der erregten Bevölkerung lebhaft bestaunt.

Ein belgisches Auto überholte das Taxi und führte es in das nächste Dorf. Dort lag die Leiche des in der Nacht zuvor gefallenen Kommandeurs des InfRgt 74, Prinz zur Lippe.(26) Dann ging es ungehindert weiter. Plötzlich waren die Straßen verbarrikadiert, das Pflaster aufgerissen, Bäume gefällt und Drahthindernisse angelegt. Der Chauffeur begann sofort, lebhaft auf einen Mann einzureden, der eine Schärpe mit belgischer Flagge trug. Die Straße führte direkt auf das Fort de Boncelles zu. Nun schwang sich der Mann mit der Schärpe auf ein Motorrad und führte das Auto in weiten Bögen durch die Waldungen und um ein Netz von Sperren herum. Dann ging es ohne Führung stundenlang weiter, bis sie auf ein einsames Waldwirtshaus stießen. Die Wirtin berichtete, dass die Deutschen vor 24 Stunden hier auf dem Rückzug durchgekommen seien. Nach einer kleinen Stärkung ging es schnell weiter über Rotheux ostwärts an die Ourthe. Am späten Nachmittag traf Nida auf Verwundete vom Regiment 73, die aber über den Verbleib ihres Regiments nichts sagen konnten. Also weiter Richtung Südosten. Zerschossene Häuser zeugten von schweren Kämpfen – sonst nichts, nur unheimliche Ruhe. Die Dämmerung zog schon auf, als Nida südlich von Poulheur an der Brücke über die Ourthe Soldaten sah – deutsche oder belgische? Es waren Vorposten der 9. Kavalleriedivision! Auch hier rechnete Nida damit, als Spion festgenommen zu werden. Doch seine Schilderungen von der Einnahme Lüttichs rührten die Soldaten zu Tränen. Sie hatten unter den heftigen nächtlichen Angriffen schwer gelitten und waren deprimiert über das Fehlschlagen ihres Angriffs. Umso mehr freute sie der Erfolg der 14. Brigade. Als Nida den Stab der 9. Kavalleriedivision erreichte, war es Nacht. Hier wurde er mit großem Hurra empfangen. Nach der Lageeinweisung wurde Nida auf die Rückzugsstraße der 38. und 43. Brigade geführt. Um 01.00 Uhr erreichte er in Theux das Stabsquartier der beiden Brigaden. Sofort wurden die Befehle für einen erneuten Vormarsch auf Lüttich ausgegeben. Zur gleichen Zeit erreichte Oberst Bober, Kommandeur des InfRgt 16 die Kunde vom Durchbruch der 14. Brigade. Unverzüglich alarmierte er sein Regiment und führte es, während die Mörser den Marsch absicherten, zwischen de Barchon und d’Evegnée glücklich hindurch. Die benachbarten Regimenter 25 und 53 folgten. Nach 24 Stunden konnte Oberleutnant Nida General Emmich endlich Meldung machen. Der ließ eine Flasche Sekt kommen. Auf die Frage, warum er einen deutschen Offizier gefahren hat, soll der Taxifahrer geantwortet haben, dass so freundlich, so nett, so rührig und so vornehm nur ein Engländer sein könne. Er habe sich ihm in perfektem Französisch vorgestellt und ihn angelächelt. Da sei er dann ohne Bedenken mit ihm herumgefahren.

Am Morgen des 8. August 1914 meldete die im Süden von Lüttich stehende 9. Kavalleriedivision, französische Truppen hätten am Tag zuvor die belgische Grenze überschritten und seien im Marsch von Dinant auf Lüttich. Eine Meldung, die General Emmich aufschreckte. In der Tat erfolgte der französische Aufmarsch gemäß “Plan XVII”. Mit einem Vorstoß nach Lothringen hinein wollten die Franzosen den rechten deutschen Flügel umfassen. Dazu hatten sie bereits am 6. August die Vogesenpässe besetzt und bereiteten einen ringförmigen Angriff auf das elsässische Mühlhausen (heute Mulhouse, Frankreich) vor. Mühlhausen konnte von den Franzosen weitgehend kampflos übernommen werden, da die schwache deutsche Besatzung die Stadt geräumt hatte. Gegen den ursprünglichen Schlieffen-Plan, sich im Süden zunächst nur defensiv zu verhalten, trat die noch in der Mobilisierung befindliche 7. Deutsche Armee zum Gegenangriff an.(27)

Während sich die französische Armee also gemäß Plan XVII entwickelte und somit für die deutschen Truppen um Lüttich keine Gefahr darstellte, erreichte die stark abgekämpfte belgische 3. Division und die belgische 15. Brigade den Aufmarschraum der belgischen Armee ca. 50 Kilometer westlich von Lüttich. Hier standen vier einsatzfähige Divisionen! Auf einen Vormarsch auf Lüttich – hier waren noch alle 12 Forts in belgischer Hand – wurde verzichtet, weil die deutschen Kräfte weit – nämlich auf 5 bis 6 Armeekorps – überschätzt wurden. Man wollte einer Einkesselung entgehen.(28)

Die zur Zerstörung der belgischen Panzerforts eingesetzten 21cm-Mörser-Bataillone vom Fußartillerie-Regiment 9 und vom Fußartillerie-Regiment 4 erwiesen sich als nicht ausreichend wirksam. Der deutsche Zeitplan kam ins Wanken. Da erinnerte sich ein subalterner Artillerieoffizier, dass die Waffenschmiede Krupp Haubitzen vom Kaliber 42 cm  entwickelt hat. Ihm wurde nun befohlen, dieses Geschütz von Krupp unverzüglich herbeizuschaffen. Krupp weigerte sich zunächst, die Haubitze herauszugeben, da für sie noch keine einsatz-tauglichen Schießtabellen vorlagen und es außerdem auch noch keine leistungsstarke Zugmaschine gab. Kurzerhand requirierte der Offizier geeignete Landmaschinenschlepper der Firma Krupp.(29) Dieses in Lüttich im August 1914 erstmalig von der deutschen Armee eingesetzte Geschütz wurde später unter dem Namen „Dicke Berta“ bekannt (ein Geschoss wog eine Tonne).

Am 12. August 1914 eröffnete die Fußartillerie mit einem Mörser-Bataillon das Feuer auf das Fort de Pontisse und mit einem anderen Mörser-Bataillon auf das Fort de Fléron. Während auf de Fléron noch das 1. Bataillon der Fußartillerie mit den schweren Feldhaubitzen des IX. Armeekorps trommelte, war vor dem Fort de Pontisse auch eine Batterie der 42cm-Mörser in Stellung gegangen. Um 18.40 Uhr rollte aus der Gegend von Mortier ein bisher noch nie vernommener Geschützdonner: Die “Dicke Bertha” schleuderte ihr erstes 16 Zentner schweres Geschoss in den Himmel. Mit Geheul und unbeschreiblicher Gewalt sauste es aus 4.000 m Höhe auf die Betondecke des Forts. Das Empfinden der Besatzung lässt sich kaum in Worte fassen.

Am 13. August 1914 fielen die Fortins d´Embourg und de Chaudfontaine sowie das Fort de Pontisse. Tags darauf das Fortin de Liers und das Fort de Fléron. Seit den frühen Morgenstunden des 15. August 1914 lagen die nördlichen Forts der Westfront, das Fortin de Lantin und das Fort de Loncin unter Artilleriebeschuss. Während Lantin schon vor 12.00 Uhr fiel, ergab sich Loncin um 17.15 Uhr. Eine 42cm-Granate hatte die Munitionskammer getroffen.(30)

Aus diesem Trümmerfeld kam General Gérard Leman mit seinem Adjutanten, Hauptmann Collard. Da ging der deutsche Hauptmann Ernst Gruson, Kommandeur des 3. Bataillons / InfRgt 165 zum belgischen Kommandanten, legte ihm die Hand auf die Schulter und machte ihn zum Gefangenen. Mit einem schnellen Griff zog Leman seinen Browning aus der Tasche und hielt ihn gegen seine Schläfe. Gruson konnte die Waffe entwenden und tröstete Leman: „Mehr könne man von einem Gouverneur nicht verlangen, als dass er sich mit seiner Festung in die Luft sprengen lasse; die Welt würde von der tapferen Verteidigung Lüttichs sprechen.“(31)

Ergriffen fasste Leman nach der Hand des deutschen Hauptmanns und hielt sie fest.(32)

Auch diese Situation war einigermaßen grotesk: Der zerschmetterte Panzerturm war einst von den Gruson-Werken von Magdeburg-Buckau auf Bestellung des belgischen Generals Brialmont geschmiedet und nach Loncin geliefert worden. Und nun steht ein Neffe des damaligen Inhabers vor den Trümmern der Panzerkuppeln und nimmt den Gouverneur gefangen! Dann reicht Gruson dem immer noch unter Erstickungsanfällen leidenden Leman einen Becher und lässt ihn auf einem mit Strohschütten beladenen Wagen nach Lüttich zum Kommandierenden General Emmich fahren.

Am Westufer der Maas bedrohten jetzt nur noch das Fortin Hollogne und das Fort de Flemalle den deutschen Durchmarsch. Um nicht weiter unnötig Blut zu vergießen, schlug General Emmich vor, die beiden Kommandanten zur Übergabe zu überreden. Man sagte ihnen, dass alle anderen Forts gefallen seien und ihr Gouverneur in Gefangenschaft sei. Das wollten sie nicht glauben. So wurden die beiden Kommandeure in die Zitadelle zu ihrem gefangenen Gouverneur gebracht. Ihn fragten sie, ob sie ihre Forts übergeben sollten.

Leman, die eiserne Exzellenz, klärte die beiden belgischen Hauptleute auf: „Ein Fort oder eine Festung, welche nicht beschossen wurde, kann sich nicht ergeben!“ Sie bedankten sich und wurden wieder in ihre Forts gefahren. Am nächsten Morgen ergaben sie sich nach kurzer Beschießung.

Gedanken zum “Handstreich” und zum Scheitern der kontinentalen Kriegspläne

Der “Handstreich von Lüttich”, Auftakt zum Ersten Weltkrieg, zeigt exemplarisch den automatisierten Irrsinn moderner Kriege und macht betroffen. Hier wird deutlich, wie dieser Kriegsplan, von nur wenigen Berufsoffizieren in jahrelanger Arbeit akribisch entwickelt, an den meisten politischen Entscheidungsträgern vorbeiging. Der Kriegsplan zog eine Mobilisierungsdynamik nach sich, deren Räderwerk – einmal in Bewegung gebracht – nicht mehr ohne größte Friktionen zu stoppen war. Die Abhängigkeit von derartigen Kriegsplänen ließ die Akteure nur noch in Trance handeln – ob in Berlin, Paris oder Moskau – und wirkte sich im kontinentalen Europa fatal aus.

Den “Schlieffen-Plan” auf dem Handstreich gegen die Festung Lüttich aufzubauen, erscheint aus heutiger Sicht verwegen, wenn nicht sogar verantwortungslos. Als Entschuldigung kann man nur gelten lassen, dass nach den Verwüstungen durch den 30-jährigen Krieg, den Einfällen Ludwigs XIV. und den Verheerungen Napoleons künftige Kriege außerhalb der deutschen Landesgrenzen geführt werden sollten. Doch allzu selbstgerecht sollte man aus heutiger Sicht dieses Vorgehen nicht beurteilen: denn dem “General Defense Plan” (GDP) der NATO (1955-1990) lag eine ebenso irrationale Planung zugrunde, die jedoch weitaus größere Dimensionen hatte. Die Kriegs- bzw. “Verteidigungsplanungen” der NATO im Kalten Krieg hätten in eine unvorstellbare und bis dahin kaum gekannte Zerstörung geführt.  Zwischen Weser und Weichsel hatte die “Nukleare Planungsgruppe der NATO” die Ziele von über 2.000 Atomsprengkörpern festgelegt. Von Verteidigung konnte hier nicht mehr die Rede sein. Welche deutschen Politiker kannten eigentlich diese Planungen, die letztlich in die totale Vernichtung geführt hätten? Und wo wird heute noch an den verantwortungslosen Ritt auf dem atomaren Pulverfass erinnert? Der atomaren Katastrophe ist Europa nicht durch ein rationales Handeln der westlichen Politiker und Strategen entgangen, sondern durch glückliche Fügungen – und nicht zuletzt durch Gorbatschow!

Allein das Zahlenverhältnis zu Kriegsbeginn(33) macht deutlich, dass die Mittelmächte nur dann eine Chance gehabt hätten, wenn es gelungen wäre, die Anfangserfolge entsprechend den Kriegsplänen schnell auszunutzen und nachhaltig auszubauen.

Zwei Tage nach dem Fall des letzten Forts in Lüttich begann am 18. August 1914 die eigentliche Großoffensive des rechten deutschen Flügels zur Umfassung der alliierten Armeen. Schnell stießen die deutschen Truppen nach Brüssel und Namur vor, während sich der Hauptteil der belgischen Armee in die Festung Antwerpen zurückzog. Am 20. August 1914 begann die französische Großoffensive in Richtung Deutsch-Lothringen und Saar-Ruhr-Gebiet.

General Joffre hielt an dem Aufmarsch gemäß Plan XVII fest, ohne sich vom deutschen Angriff auf Belgien auch nur eine Spur irritieren zu lassen. Dazu konzentrierte er 1,7 Millionen französische Soldaten in 5 Armeen für den Angriff. Dann überfielen auch ihn Zweifel. Zur vermeintlichen Absicherung der Nordflanke verlegte er die V. Armee unter Charles Lanrezac entsprechend weiter nordwestlich. Das gerade erst in Frankreich gelandete Britische Expeditionskorps unter General John French schloss sich nördlich bei Maubeuge an. Am 14. August 1914 überschritten die französische I. Armee unter General Auguste Dubail und die II. Armee unter General Noėl de Castelneau die Grenze und rückten mit Schwerpunkt auf Saarburg (Lothringen) vor.

Die von Kronprinz Rupprecht von Bayern befehligten deutschen Großverbände(34) wichen zunächst kämpfend zurück, um dann Vorbereitungen zum Gegenangriff zu treffen.

Österreich-Ungarn hatte seinen Mobilmachungsplan in den letzten Julitagen 1914 dahingehend geändert, um starke Kräfte gegen Serbien zu mobilisieren. Durch das schnelle Erscheinen der russischen Armeen an der galizischen Front musste die II. Armee zum nördlichen Kriegsschauplatz umdirigiert werden. Infolgedessen stieß sie nach dem von Conrad von Hötzendorf ausgearbeiteten Kriegsplan mit unzulänglichen Kräften aus dem galizischen Aufmarschraum nach Norden vor.

Am 5. September 1914 stellten sich Franzosen und Engländer den vorstürmenden Deutschen längs der Linie Ourcq – Petit Morin – Marne – Vitry-le-Francois zur entscheidenden Schlacht, die als “Marne-Schlacht” in die Geschichte einging. Die vom Deutschen Reich angestrebte Umfassung und Vernichtung der französischen Armee endete in einem verhängnisvollen, kriegsentscheidenden Rückschlag.(35) Was waren die Gründe hierfür?

Aufgrund schlechter Verbindungen zu den Armeeführern konnte Moltke den Angriff seiner Armeen nicht planmäßig koordinieren. So ließ er den Armeeführern freie Hand. Das führte dazu, dass die deutschen Truppen Paris nicht umfassten, sondern nur östlich von Paris standen. Also ordnete Moltke im Verlauf der Marne-Schlacht den Rückzug an und meldete am 9. September 1914 dem Deutschen Kaiser: „Majestät, wir haben den Krieg verloren!“ Am 8. Dezember 1912 hatte der Kaiser bei den “militärpolitischen Besprechungen” noch einen ganz anderen Moltke erlebt. Der soll damals den Kaiser mit den Worten „je eher, desto besser“ zu einem baldigen Kriegsbeginn gedrängt haben.(36) Und in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli 1914 hatte Moltke dem österreich-ungarischen Generalstabschef Franz Graf Conrad von Hötzendorf ein Telegramm gesandt, in dem er die sofortige Mobilmachung gegen Russland verlangte.

Während die französische Armee streng hierarchisch geführt wurde, musste die deutsche Führung auf den föderativen Aufbau des Deutschen Reiches Rücksicht nehmen. Durch die Neutralität Italiens konnte Frankreich Truppen von der Alpenfront abziehen. Dagegen verführte der “Russeneinbruch” in Ostpreußen den deutschen Generalstab dazu, Truppen dem rechten Flügel in Belgien zum Abtransport nach Ostpreußen zu entnehmen. Dabei hatte man ohnehin schon den rechten Flügel auf Kosten des linken Flügels geschwächt. Durch den bis dahin schnellen Vormarsch hatten sich Versorgungsprobleme aufgetan. Die deutschen Armeen hatten mit Munitionsmangel und Personalengpässen zu kämpfen. Nun mussten sich diese Armeen auch noch auf eine lange Verteidigungsschlacht in den behaupteten Linien einrichten.

Der gemäß dem Kriegsplan XVII in Elsass und Lothringen durchgeführte französische Angriff scheiterte ebenfalls. Die I. Armee war überraschend bis auf Mülhausen vorgestoßen, wurde aber hier am 9. August 1914 von der deutschen VII. Armee unter Generaloberst Josias von Heeringen zurückgeschlagen. Nach erneutem Vorstoß konnte Mülhausen am 17. August 1914 eingenommen werden. Am Ende aber stand der Rückzug auf Belfort, da die “Elsässer Armee” am Nordflügel eingesetzt wurde. Die linke Angriffsgruppe begann am 15. August 1914 den Vormarsch nach Lothringen. Die deutsche VI. Armee unter dem Befehl des Kronprinzen Rupprecht von Bayern warf sie in der “Schlacht in Lothringen” (20. bis 22. August 1914) frontal zurück. Infolge beiderseitiger Erschöpfung mündeten die dynamisch angelegten Kriegspläne in einen statischen Stellungskrieg.

Dieser Ausgang entschied auch über das Schicksal im Osten. Hier waren die österreich-ungarischen Angriffsarmeen dem russischen Massenangriff unter dem Oberkommandierenden Großfürst Nikolai Nikolajewitsch zuvorgekommen und der linke Flügel tief in wolhynisches Gebiet eingebrochen.

Dagegen musste der rechte Flügel bei Lemberg und Przemyŝlany herbe Verluste einstecken und war nicht mehr angriffsfähig. Nun erwartete man sich Hilfe von den Deutschen, die aber nach der Vernichtung der Njemen- und Narew-Armee bei Tannenberg auch nicht möglich war.

Am serbischen Kriegsschauplatz waren die Österreicher nicht glücklicher als auf dem galizischen. Ein erster Angriff der V. und VI. Armee unter Potiorek über die Drina endete nach achttägigem Kampf mit dem Sieg der Serben.

In Deutschland trug derweil die völkerrechtswidrige englische Blockade dazu bei, die wirtschaftliche Lage empfindlich zu verschärfen. Nach dem Tod des rumänischen Königs Karl am 10. Oktober 1914 drohte der Abfall des heimlich Verbündeten. Die undurchsichtige Haltung der Vereinigten Staaten machte die Lage für die Mittelmächte auch nicht einfacher. Die zunehmenden Munitionslieferungen an die Entente verdichteten die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Banken um J.P. Morgan und den Rüstungsfirmen noch mehr, während die Medien Sympathie für Großbritannien weckten.

Die politische Propaganda der Entente, verbunden mit einer beispiellosen Gräuelhetze, sollte sich als sehr effektiv erweisen. Letzten Endes standen alle beteiligten Kriegsparteien als Verlierer da – selbst Großbritannien. Es hatte auf dem Kontinent alle potentiellen Rivalen ausbluten lassen und sah sich 1918 noch als die “einzige Weltmacht”. Aber diese “Weltmacht” war Schuldner der USA und durfte von nun an nur noch den Juniorpartner spielen. Das scheint bei manchen Briten noch immer nicht ganz angekommen zu sein, denn auch im Jahr der Jahrhundertfeier bestehen sie auf dem Mythos, dass der Erste Weltkrieg ein gerechter Krieg war, aus dem Großbritannien siegreich hervorgegangen ist.

Teil 6: Kritische Stimmen aus Großbritannien

Hier die Links zu:

Teil 1: https://staging.apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-1-von-wolfgang-effenberger/

Teil 2: https://staging.apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-2-von-wolfgang-effenberger/

Teil 3: https://staging.apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-3-von-wolfgang-effenberger/

Teil 4: https://staging.apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-4-von-wolfgang-effenberger/

Anmerkungen und Quellen

 

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete “atomare Gefechtsfeld” in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Hier die Bücher zum Ersten Weltkrieg:



1) Luttwak, Edward N.: The Grand Strategy of the Byzantine Empire, Cambridge, Massachusetts: Belknap Press 2009, S. 299.

2) Der Handstreich gegen Lüttich vom 3. bis 7. August 1914, hrsg. vom Generalstab des Heeres, 7.(kriegswissenschaftliche Abteilung), Berlin 1939, S. 1

3) 11./14./27./34./38. und 43. Brigade

4) 2./4. und 9. Kavalleriedivision

5) Der Handstreich gegen Lüttich vom 3. bis 7. August 1914, hrsg. vom Generalstab des Heeres, 7.(kriegswissenschaftliche Abteilung), Berlin 1939, S. 2 und 3

6) von Nord nach Süd: Fort de Barchon, Fortin d´Evegnée, Fort de Fléron, Fort de Chaudfontaine, Fortin d´Embourg, Fort Boncelles

7) Karl Helferich: Reden und Aufsätze aus dem Krieg, Berlin 1917, S. 62

8) nach aufsteigender Hierachie geordnet: Inf.Regt.165/14.Inf.Brig./Bel.Trp.v.Lüttich/Gkdo.X.Armeek./AOK.2/OHL.

9) “Journal de Liège” vom 5. August 1914, zitiert in Kabisch, S. 55

10) Auszug des belgischen Graubuchs. Eintrag No. 27 vom 4. August 1914.

11) Generalstab des Heeres (Hrsg.): Handstreich gegen Lüttich, Berlin 1939, S. 3

12) Kabisch , S. 72

13) Es meldeten sich bei ihrem Kommandeur Generalmajor von Wussow: Oberst Krüger (Inf.Rgt 27), Oberst von Oven (Inf.Rgt 165), Major v. Marquard (Jäger Bataillon 4), Major de Greiff (II. Feldartillerieabteilung), Rittmeister von Etzdorff (1./Husarenregiment 10) sowie Hauptmann Thorner (4. Pionierbataillon 24).

14) Thomas Müller: Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ im völkischen Diskurs zwischen politischer Romantik und Nationalsozialismus. transcript Verlag, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1112-0, S. 25; Gottfried Niedhart (Hrsg.): Gustav Mayer: Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution, 1914–1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 65), Oldenbourg, München 2009, ISBN 978-3-486-59155-2, S. 49.

15) Dieter Schäfer (Hrsg.): Der Krieg 1914/16, Leipzig/Wien 1916, S. 131

16) Imanuel Geiss (Hrsg.): Juli 1914. 3. Auflage. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1986, ISBN 3-423-02921-8, S. 344 ff., 371

17) Zitiert aus Dietrich Schäfer, 1916, S. 147

18) Kabisch, S. 76

19) Auskunft des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (14471 Potsdam, Zeppelinstr. 127/128) auf Anfrage vom 19.02.2011, Tgb.-Nr.: 11-0231.

20) Generalstab des Heeres (Hrsg.): Der Handstreich gegen Lüttich vom 3. Bis 7. August 1914, Berlin 1939, S. 15

21) Unter der Rubrik “besondere Aufträge” hieß es:

„Zwei Komp. I./Inf.Rgt 165 gehen 0 Uhr 30 von Mélen auf Fortin d´Evegneé vor. Zwei Komp. II./Inf.Rgt 165 gehen 0 Uhr 30 auf großer Straße nach Lüttich aus ihrem Biwak gegen Fort de Fléron vor. Ihre Aufgabe ist es, durch Vorgehen an das Werk auf wirksame Schussweite die Aufmerksamkeit der Besatzung auf sich zu ziehen und die vorgeschobenen Beobachtungsposten und Scheinwerfer unschädlich zu machen. (Generalstab des Heeres, S. 15)

22) Kabisch, Ernst: Lüttich. Deutschlands Schicksalsschritt in den Weltkrieg. Berlin 1934, S.115

23) Aus dem Brief des damaligen Oberjägers M. Strathmann der I. Kompanie Jäg.Btl 4 und späteren Reserveoffiziers im 7. Jägerbataillon und Pfarrers in Klein-Bremen bei Bückeburg vom 28. August 1934. Zitiert aus Kabisch, Seiten 92 und 93.

24) Aus der Mitschrift einer Vorlesung von Oberstleutnant Paul Krug, Militärgeschichtslehrer an der Heeresoffizierschule Hamburg, im Februar 1967

25) Zitiert aus Generalstab des Heeres 1939, S. 54

26)  Kabisch, S. 131

27) Er wurde geführt vom Generaloberst Kronprinz Rupprecht von Bayern, Kommandeur der 6. Armee.[1] Die Unterstellung der 7. Armee unter das Kommando der 6. Armee war nötig, da das Oberkommando der 7. Armee noch in Karlsruhe in der Aufstellung begriffen war. Diese weisungsgebundene Unterstellung der 7. Armee blieb in den nächsten Wochen erhalten, um ein einheitliches Vorgehen der Nachbararmeen in der Schlacht um Lothringen (21./22. August 1914) zu gewährleisten.

28) Die Belgier gingen hinter das Flüsschen kleine Gete zurück. 5

29) Zugleich wurde die weniger bekannte, mobilere schlanken Emma von Škoda herangeschafft.

30) Wolfdieter Bihl: Der Erste Weltkrieg. 1914–1918. Böhlau, Wien 2010, S. 90; Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz in Verbindung mit Markus Pöhlmann (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2009, S. 45, S. 686 ff.

31) Kabisch, S. 158-159

32) Paul Krug: Vortrag im Februar 1967, persönliche Mitschrift

33) Übersicht der Heeresstärken

Land                                 bei Kriegsbeginn                     bei Kriegsende

Deutsches Reich                3.900.000                                      8.000.000

Frankreich                          3.800.000                                       5.192.000

Großbritannien

in Frankreich                      118.000                                          3.500.000

in Übersee                                                                                     1.800.000

USA

in Frankreich                                                                               1.956.000

in den USA                                                                                    1.830.194

Serbien                                300.000                                             150.000

Belgien                                300.000

Griechenland                                                                                  353.000

Bulgarien                                                                                         857.000

Italien                                                                                             1.956.213

Österreich-Ungarn         2.300.000                                  2.500.000 (?)

Rußland                           5.000.000

34) VI. Armee und VII. Armee

35) Meyers Lexikon, Siebente Auflage, Zwölfter Band, Leipzig 1930, Sp. 1230

36) A. von Müller: Aufzeichnungen über die Aera Wilhelms II. Hrsg. von W. Görlitz (Göttingen, 1965), S. 124 f.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Andreas Wolochow / Shutterstock.com

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Kommentare (2)

2 Kommentare zu: “Die langen Schatten des Ersten Weltkriegs – Teil 5 | Von Wolfgang Effenberger

  1. Mondzebra sagt:

    Die gibt es im Verlauf des 6. Teil: Die langen Schatten des Ersten Weltkriegs – Teil 6 | Von Wolfgang Effenberger
    https://staging.apolut.net/die-langen-schatten-des-ersten-weltkriegs-teil-6-von-wolfgang-effenberger

  2. paul1 sagt:

    Alles interessant. Mir fehlt ein wenig die Zusammenfassung, die Analyse.

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