Im Namen scheinheiliger Werte mordet und brandschatzt der Westen weltweit. Exklusivabdruck aus „Die große Heuchelei“.
Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
von Fréderic Todenhöfer, Jürgen Todenhöfer
Die Politik eines George W. Bush oder Donald Trump erntete viel Kritik. Gern wiegen wir uns aber in der Illusion, dass es ursprüngliche westliche Werte gab, die lediglich in jüngerer Zeit verwässert wurden. Tatsächlich gab es eine derart glorreiche Vergangenheit nie. Der Fisch stinkt von seinem Kopf her — den USA, und der Keim des momentanen Übels ist schon in seinen Anfängen zu finden. Der amerikanische Kontinent wurde von christlichen Weißen mittels Völkermord „erschlossen“; der ökonomische Wohlstand des Nordens verdankt sich der Sklaverei und dem Imperialismus, und die einmal proklamierten, vielleicht gut gemeinten Werte galten ursprünglich nur für privilegierte, weiße Männer. Edle Motive waren und sind die Maske jeder Grausamkeit, die begangen wird. Zeit, sie den Tätern vom Gesicht zu reißen.
Der Kampf für unsere „Werte“
Immer wenn der „Westen“ in anderen Ländern mordet und plündert, behauptet er, er kämpfe für das Gute. Seit Jahrhunderten. Er tötete im Namen der Christianisierung, der Zivilisierung, im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, von Demokratie und Menschenrechten. Neuerdings in Wahrnehmung seiner angeblichen „Responsibility to Protect“, seiner angeblichen „Schutzverantwortung“ für die Welt. Inzwischen kürzen westliche Politiker ihre Begründungen für Mord und Totschlag mit den Worten ab, sie kämpften „für unsere Werte“. Warum die Werte auch einzeln aufzählen, wenn man sich ohnehin nicht an sie hält?
In der Unabhängigkeitserklärung der USA aus dem Jahr 1776 heißt es feierlich:
„Wir halten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind. Dass sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden. Darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ (1).
Doch diese großartigen Worte galten nur für weiße, wohlhabende und männliche Amerikaner. Frauen, Indianer, schwarze Sklaven und weiße Bedienstete waren ausgeschlossen. Thomas Jefferson, Vater der Unabhängigkeitserklärung und späterer US-Präsident, lehnte Sklaverei öffentlich ab. Privat besaß er bis zu seinem Lebensende Hunderte Sklaven. Zum Thema Frauen sagte Jefferson, Frauen seien viel zu schlau, um sich durch Politik Falten auf die Stirn zu holen.
Die Urmutter westlicher Heuchelei
Heuchelei war schon bei der Gründung der USA eine beliebte Strategie. Vielleicht war die Unabhängigkeitserklärung der USA mitsamt der Erklärung der Menschenrechte sogar die Urmutter der modernen westlichen Heuchelei. Noch heute hängt die Unabhängigkeitserklärung in den Schulen der USA aus. Doch in Wahrheit folgt die US-Außenpolitik Machiavelli und Clausewitz. Amerikanische Interessen, nicht Werte, waren und sind oberstes Gebot der USA. Wir kämen der Wahrheit amerikanischer und westlicher Außenpolitik ganz nahe, wenn wir das Wort „Werte“ einfach durch das Wort „Interessen“ ersetzen würden.
Ähnlich menschenfreundlich klang 1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution, auf die sich die heutige europäische Zivilisation so gern beruft. Doch im Namen von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ begann erst einmal ein gnadenloses Morden. „La terreur“, der Terror der Guillotine, wurde spätestens unter Robespierre zum wahren Symbol der Französischen Revolution. Selbst moderne Terroristen nehmen sich heute die Kopf abschneidende französische Guillotine zum Vorbild.
Auch die deutsche Verfassung liebt große Worte. In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (2). Alte, vereinsamte und verarmte Menschen, aber auch Migranten könnten diesen Satz als blanken Hohn empfinden.
Ähnlich heuchlerisch klingen moderne westliche Politiker. George W. Bush erklärte seinen Soldaten am 1. Mai 2003 zum angeblich erfolgreich beendeten Irak-Feldzug: „Wo auch immer Sie hingehen, bringen Sie eine Botschaft voller Hoffnung. Eine Botschaft, die (…) immer neu ist. Mit den Worten des Propheten Jesaja gesprochen: Zu sagen den Gefangenen: Geht heraus! Und zu denen in der Finsternis: Kommt her vor!“ (3). Ein US-Offizier war ehrlicher. Er sagte: „Es (war) wie Robbenbabys totschlagen“ (4).
Amerikanischer Exzeptionalismus
Viele US-Politiker sind von der Einzigartigkeit der USA, von ihrer Sonderstellung in der Welt, vom amerikanischen „Exzeptionalismus“, überzeugt. Expansion und Imperialismus seien ihre geschichtliche, messianische, göttliche Aufgabe. Der Kampf „Gut gegen Böse“ sei Amerikas offenkundige Mission, seine „manifest destiny“ (5). Für den Philosophen Allan Bloom erzählt „Amerika (…) eine einzige Geschichte: den ungebrochenen, unausweichlichen Fortschritt von Freiheit und Gleichheit“ (6). Für den Schriftsteller Herman Melville, den Autor des Klassikers Moby Dick, sind die USA das von Gott „auserwählte Volk — das Israel unserer Zeit“ (7).
Barack Obama bat an der Klagemauer von Jerusalem Gott, ihn „zu einem Instrument (s)eines Willens zu machen“ (8). Hat Obama sich wirklich als Instrument Gottes gesehen, wenn er im Weißen Haus persönlich die Opfer amerikanischer Drohnenschläge auswählte? Oder Bombenangriffe auf Afghanistan, den Irak und Libyen befahl?
Foltern im Namen westlicher Werte
Im Namen westlicher Werte wurde weltweit gefoltert und vergewaltigt. Guantánamo und Abu Ghraib sind nur die bekannteren Beispiele. In Bagram bei Kabul ließen GIs gefangene Taliban-Kämpfer von Hunden „vergewaltigen“. Nachdem man sie nackt, mit dem Bauch nach unten, auf einen Hocker gefesselt hatte (9). In Kandahar erstach und verbrannte ein GI sechzehn Zivilisten, darunter drei Frauen und neun Kinder (10). Amerikanische Kill-Teams töteten Afghanen zum Zeitvertreib und schnitten ihnen Finger als Trophäen ab (11). Wieder andere GIs urinierten auf gefallene Taliban.
Manche dieser Täter wurden verurteilt. Doch die öffentliche Empörung hielt sich in Grenzen. Was wäre geschehen, wenn Afghanen diese Taten an amerikanischen Bürgern, Frauen und Kindern begangen hätten? Oder an Deutschen?
Hunderttausende Unschuldige wurden im Irak im Namen unserer „Werte“ getötet. Zehntausende in Afghanistan. Es ging nie um Werte. Immer nur um Interessen. Der damalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler war so unvorsichtig, das 2010 offen auszusprechen. Es kostete ihn sein Amt. Auf dem Rückflug von einem Besuch der Bundeswehr in Afghanistan sagte er in einem Interview, ein Land wie Deutschland, „mit dieser Außenhandelsorientierung“, müsse wissen, dass „im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“ (12).
Er sprach aus, was andere westliche Politiker täglich denken und praktizieren. Doch er verstieß gegen das eiserne „Heuchelei-Gebot“, das seit Jahrhunderten Grundkonsens der westlichen Zivilisation ist: Stets an die eigenen Interessen denken, nie davon reden! Statt von „Interessen“ und „Außenhandelsorientierung“ hätte Köhler einfach von „Werten“ sprechen müssen. Er wäre Bundespräsident geblieben.
George W. Bush war da viel schlauer. Selbst härteste Aussagen verpackte er in erhabene Worte. Oder versuchte es zumindest. „Der beste Weg, das Böse zu Hause zu bekämpfen, ist, etwas Gutes zu tun“, sagte er. „Der beste Weg, es im Ausland zu bekämpfen, ist, das Militär von der Leine zu lassen“ (13). Jeder wusste, was es heißt, das Militär „von der Leine zu lassen“. Aber es geschah ja angeblich, um das Böse zu bekämpfen.
Macht, Märkte, Moneten
Egal, ob Amerikaner oder Europäer, stets ging es ihnen um Macht, Märkte und Geld. Um ihren Wohlstand, ihre sozialen Errungenschaften, ihre Freiheit. Nie um die Freiheit der anderen.
Die USA wollen ihre Position als Weltmacht Nummer 1 verteidigen und ausbauen. Wie einst die Weltmacht Rom. „Verteidigung ihrer Werte“ nennen sie das. Wer sie dabei unterstützt, ist Freund, wer sie behindert, Feind. Das ist das A und O amerikanischer Außenpolitik. Die USA werden immer versuchen, den Aufstieg amerikafeindlicher oder amerikakritischer Mächte und Machtblöcke zu verhindern. Schon deshalb werden sie Russland stets als Störenfried betrachten, der sich ihrem Hegemonialanspruch entgegenstellt. Man muss schon sehr naiv sein, um zu glauben, den USA gehe es im Konflikt mit Russland oder mit anderen Ländern um Menschenrechte.
Die kapitalistische Weltmacht USA war stets auf der Suche nach neuen Märkten. Angetrieben von großen landwirtschaftlichen und industriellen Interessenverbänden, die amerikanische Politiker bis heute zur Finanzierung ihrer Wahlkämpfe dringend benötigen. Um der Suche nach neuen Märkten Nachdruck zu verleihen, errichteten die USA weltweit Hunderte Militärstützpunkte. Um Demokratie ging es dabei nie. Doch die Behauptung, man kämpfe für den weltweiten Sieg der Demokratie, stützte die Legende vom Kampf des Guten gegen das Böse (14). Sie legitimierte fast jede Brutalität.
US-Präsident Woodrow Wilson erklärte vor dem Ersten Weltkrieg offen: „Diplomatie und, wenn es sein muss, Gewalt müssen den Weg zu den (ausländischen Märkten) erschließen.“ Sein zentrales Argument lautete: Die US-Industrien haben sich „bis zu dem Punkt ausgebreitet, wo sie aus den Nähten platzen werden, wenn sie keinen freien Zugang zu den Märkten der Welt finden“ (15). Manche Historiker meinen sogar, dies sei einer der Hauptgründe für den Kriegseintritt der USA in den Ersten und Zweiten Weltkrieg gewesen.
Die Selbstermächtigung der USA
Laut dem früheren Präsidenten Bill Clinton sind die USA jederzeit zum „unilateralen Einsatz militärischer Gewalt“ ermächtigt, um sich den „ungehinderten Zugang zu Schlüsselmärkten, Energiequellen und strategischen Ressourcen zu sichern“ (16). Selbst Jimmy Carter sah das so (17). Die USA sind der Überzeugung, dass sie selbstverständlich auch Regierungen beseitigen dürfen, die sich ihnen in den Weg stellen (18).
Im Völkerrecht findet diese Selbstermächtigung, weltweit zu intervenieren, keine Grundlage. Auch deshalb wurde sie stets in edle Motive verpackt. Andere Großmächte vor ihnen sahen das ähnlich. Was die USA nach Auffassung des amerikanischen Publizisten Stephen Kinzer jedoch von allen anderen Großmächten der Geschichte unterscheidet, ist „ihr Eifer, sich selbst zu überzeugen, dass sie aus humanitären Gründen handeln“ (19).
Quellen und Anmerkungen:
(1) www.constitutionfacts.com/us-declaration-of-independence/read-the-declaration/
(2) www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01/245122
(3) de.usembassy.gov/de/kampfhandlungen-im-irak-weitgehendbeendet
(4) Todenhöfer, Jürgen: Andy und Marwa. Zwei Kinder und der Krieg. München 2005, S. 179
(5) Kinzer, Stephen: Overthrow. America’s Century of Regime Change from Hawaii to Iraq. New York 2006, S.104 und 319
(6) Zit. n. Zinn Howard: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes. Berlin 2007, S. 617
(7) Melville, Herman: Weissjacke oder Die Welt auf einem Kriegsschiff. Leipzig 21971, S. 218
(8) content.time.com/time/world/article/0,8599,1826734,00.html
(9) Todenhöfer, Jürgen: Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden. München 2013, S. 126
(10) www.theguardian.com/world/2012/mar/11/us-soldier-kills-afghancivilians
(11) www.rollingstone.com/politics/politics-news/the-kill-team-howu-s-soldiers-in-afghanistan-murdered-innocent-civilians-169793/
(12) www.sueddeutsche.de/politik/ruecktritt-von-koehler-dasumstrittene-interview-im-wortlaut-1.952332
(13) transcripts.cnn.com/TRANSCRIPTS/0204/08/se.02.html
(14) Vgl. Kinzer 2006, S. 34 und 302
(15) Zit. n. Kennedy, Paul: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000. Frankfurt am Main 21989, S. 374
(16) www.presidency.ucsb.edu/documents/the-state-the-union-addressdelivered-before-joint-session-the-congress
(17) Appleman Williams, William: Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie. Frankfurt am Main 1973, S. 79
(18) Siehe Junker, Detlef: Von der Weltmacht zur Supermacht. Amerikanische Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Mannheim, Leipzig 1995
(19) Kinzer 2006, S. 316
Frédéric Todenhöfer, Jahrgang 1983, arbeitete nach dem Abitur ein halbes Jahr ehrenamtlich in Afghanistan und war gleichzeitig als Kolumnist für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung tätig. Frédéric Todenhöfer studierte Wirtschaftswissenschaften in New York, ist Musikproduzent und seit 6 Jahren der engste politische Berater seines Vaters. Er verantwortet außerdem dessen Social Media Kanäle auf Facebook und Instagram und begleitet ihn auf Recherche-Reisen in Kriegsgebiete, bei denen er filmt, fotografiert sowie Ereignisse und Gespräche minutiös protokolliert und dokumentiert.
Jürgen Todenhöfer, Jahrgang 1940, war von 1972 bis 1990 CDU-Bundestagsabgeordneter, ab 1973 entwicklungspolitischer, dann rüstungskontrollpolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion. Von 1987 bis 2008 war er Stellvertretender Vorsitzender des Burda-Medienkonzerns, von 2017 bis 2018 Herausgeber der Wochenzeitschrift „Der Freitag“. Seit 2001 ist er als Publizist tätig und zählt zu den schärfsten, konsequentesten, aber auch sachkundigsten Kritikern der westlichen Interventionen im Mittleren Osten. Die Zahl seiner Kritiker stieg und stieg, die Zahl seiner Anhänger auch. Seine in zahllose Sprachen übersetzten Bücher sind allesamt Bestseller.
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Dieser Beitrag erschien am 14.03.2019 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.
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Danke an die Autoren für das Recht zur Veröffentlichung.
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