Und hinterher wird wieder einmal niemand verantwortlich gewesen sein
von Wolfgang Bittner.
Die Häufung von Vorfällen und Entwicklungen, die in letzter Zeit von der Demokratie noch übrig gebliebene Reste in Frage stellen, macht betroffen und erschüttert.
Polizisten brechen im Rahmen von bundesweiten Razzien gegen die „linke Szene“ Türen mit Rammböcken auf und stürmen Privatwohnungen, obwohl sich die Betroffenen kooperativ verhalten. Augenzeugen berichten von einem brutalen Vorgehen der Einsatzkräfte. Sollte der „Normalfall“ nicht sein, dass an der Wohnungstür geklingelt oder geklopft, nach dem Öffnen der Durchsuchungsbeschluss vorgezeigt und dann erst die Wohnung betreten wird? Das scheint den verantwortlichen Beamten schon seit Längerem entfallen zu sein.
Ebenso scheint in Polizeikreisen eine Strategie der Deeskalation bei Demonstrationen nicht mehr zu gelten – soweit sie jemals gegolten hat. Wie aus Filmaufnahmen hervorgeht, wurde bei den G20-Einsätzen in Hamburg von vornherein rücksichtslos geknüppelt, es wurden Pfefferspray und Wasserwerfer eingesetzt, bereits am Boden liegende Demonstranten wurden getreten und misshandelt.
Bei allem Verständnis für die nicht einfache Arbeit der Polizei: Was sind das für Beamte, die im Bewusstsein ihrer Macht keine Grenzen mehr kennen? Werden sie nicht hinsichtlich Deeskalation und Einhaltung der Gesetze geschult? Es drängt sich der Eindruck auf, dass viele dieser in ihrer Kampfmontur anonymisierten Polizisten zu oft die Fernsehkrimis sehen, in denen Ermittler ständig ihre Befugnisse übertreten, Gesetze brechen, prügeln und selbstherrlich Journalisten in ihrer Arbeit behindern.
Die Polizei kam im Morgengrauen
Ein Beispiel: Am 5. Dezember stürmen in Göttingen um sechs Uhr morgens etwa 25 schwer bewaffnete vermummte Polizisten die Privatwohnung eines Politikers (Kreistagsabgeordneter) der Piratenpartei; erst anschließend wird der Durchsuchungsbeschluss vorgezeigt. Der Vorwurf lautet: Landfriedensbruch anlässlich der Teilnahme an einer Demonstration gegen den G20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli 2017. Beschlagnahmt werden Festplatten, USB-Sticks, Mobiltelefone sowie sämtliche digitalen Unterlagen des Politikers, obwohl nicht er, sondern seine Frau, Mutter von sieben Kindern, an einer Demonstration in Hamburg – nach eigenem Bekunden friedlich – teilgenommen hat.
Zu diesem Vorfall und weiteren Durchsuchungsaktionen heißt es aus der Göttinger Ratsfraktion der Grünen: „Das legitime Interesse an der Aufklärung der Krawalle in Hamburg rechtfertigt in keiner Weise das brachiale Auftreten der Polizei …“ Die Grüne Jugend Göttingen hält den Polizeieinsatz gegen mehrere Verdächtige für eine „skandalöse politische Inszenierung“, bei der es nicht um die Aufklärung von Straftaten, sondern um die „nachträgliche Legitimierung des völlig aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatzes beim G20-Gipfel“ gegangen sei. Dass bei den Einsätzen in Göttingen Menschen verletzt wurden, mache deutlich, „mit welcher Intention vorgegangen wird“.
Die Göttinger Europaabgeordnete der LINKEN, Sabine Lösing, sprach von einer „Kriminalisierung von Protest“ und von einem unbegründeten Einsatz, bei dem frühmorgens Hunderte von „martialisch ausgerüsteten Polizeikräften“ Privatwohnungen durchsuchten. „Überzogen und unverhältnismäßig“ heißt es aus dem Vorstand der Göttinger Piratenpartei: „Gegen Ermittlungen ist prinzipiell nichts einzuwenden, aber jetzt fünf Monate später Durchsuchungen durchzuführen, ist Einschüchterung und keine Ermittlungstätigkeit mehr.“ Der gleichen Ansicht ist der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Jürgen Trittin. Auch er fragt, welche Erkenntnisse fünf Monate nach dem G20-Gipfel noch zu erwarten seien.
Zu bezweifeln ist, dass der Protest gegen die polizeilichen Übergriffe wirksame Konsequenzen nach sich zieht. Wie in Hamburg ,werden wohl auch in Göttingen die Verantwortlichen abwiegeln, nachdem der CDU-Bundestagsabgeordnete Fritz Güntzler bereits wohlwollendes Verständnis für den Polizeieinsatz geäußert hat (Göttinger Tageblatt v. 6.12.2017).
Um Missverständnissen vorzubeugen: Was im Hamburger Schanzenviertel von Randalierern angerichtet worden ist, sollte nicht bemäntelt werden. Aber im Nachhinein gehen die Staatsorgane, anstatt sich zu besinnen, noch einen Schritt weiter und machen dafür in leichtfertiger Weise die gesamte „linke Szene“ verantwortlich, also auch die vielen friedlichen Demonstranten, die berechtigte Anliegen vertraten. Zum einen gehören Gewalttäter nicht zwingend zur linken Szene – wie unterstellt wird –, zum anderen ist bekannt, dass wiederholt Lockspitzel (agent provocateurs) der Polizei und des Verfassungsschutzes zum Einsatz gekommen sind. Da sich der Fokus der Medien auf die Randalierer gerichtet hat, wurde die inhaltliche Kritik an dem G20-Gipfel kaum noch wahrgenommen.
Grundlegende Veränderungen staatlicher Strukturen
Rechtswidriges, aggressives Vorgehen der Staatsgewalt und schwerwiegende Eingriffe in die Privatsphäre von Bürgern, die in Polizeidateien als Demonstranten registriert sind, nehmen wieder einmal zu und zeugen von einem rapiden Abbau von Bürgerrechten. Die Indizien für eine grundlegende gefährliche Veränderung staatlicher Strukturen und der Wahrnehmung des staatlichen Gewaltmonopols häufen sich. Und wieder einmal wird hinterher – wie gehabt – niemand verantwortlich gewesen sein, und viele nicht unmittelbar Betroffene werden wieder einmal von nichts gewusst haben.
In Hamburg wird ein Demonstrant, der während einer G20-Demonstration zwei leere Flaschen auf Polizisten geworfen hat, von einem besonders „staatstragenden“ Richter zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt (eine Strafe zur Bewährung auszusetzen, ist nur bis zu zwei Jahren möglich); die Staatsanwaltschaft hatte ein Jahr und neun Monate gefordert. Ein neuer Paragraf 114 des Strafgesetzbuches sieht seit Kurzem zur angeblichen Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten („Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr“) auch für Bagatelldelikte eine Strafe bis zu fünf Jahren Haft vor. Dem stehen nicht selten Strafen von drei Jahren wegen Raub, schwerem Betrug, Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch gegenüber.
Es spitzt sich zu. Die Verfolgung politisch motivierter Straftaten von links wird offensichtlich ungleich intensiver betrieben, als die von rechts. So wurde bekannt, dass der Kommunalpolitiker der Piratenpartei stundenlang auf die Polizei warten musste, als ihn Rechtsradikale vor seinem Haus bedrohten. Auch bei Brandanschlägen auf Ausländerheime verhielt sich die Polizei eher zögerlich. Und die Aufklärung der Straftaten des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) spottet jeder Beschreibung.
Hinzu kommen Vorfälle wie in Berlin, wo der Kultursenator Lederer (Partei DIE LINKE) die Geschäftsführung des mit öffentlichen Mitteln geförderten Kino Babylon veranlasste, die Anmietung des Saals für eine Preisverleihung an den systemkritischen Journalisten Ken Jebsen rückgängig zu machen. Dazu fiel der Mehrheit des Parteivorstandes der LINKEN nichts anderes ein, als „Klare Kante gegen Querfront und Jebsen“ (Neues Deutschland) zu beschließen, während der Kultursenator den längst widerlegten Antisemitismusvorwurf gegen den Journalisten erneuerte und entsprechend der CIA- und NATO-Propaganda gegen „Verschwörungsgläubige und Aluhüte“ polemisierte. (Dem Antrag auf einstweilige Verfügung wurde stattgegeben.)
Legalisierung „humanitärer Interventionen“
So weit sind wir inzwischen. Aber es geht schließlich noch viel weiter. Ein US-Präsident, der völkerrechtswidrige Kriege geführt und tagtäglich Drohnenmorde befohlen hat, wird auf den Kirchentag eingeladen und darf mit seiner „Freundin“, der deutschen Bundeskanzlerin, über Frieden und Humanität schwadronieren. Völkerrechtswidrige Kriege werden als „humanitäre Interventionen“, „Nothilfe“ oder „präventive Selbstverteidigung“ deklariert, politisch genehme Terroristen und Mörder als „Freiheitskämpfer“ unterstützt.
Passend dazu ist soeben der § 80 des Strafgesetzbuches abgeschafft worden, mit dem die nach Artikel 26 des Grundgesetzes verbotene Vorbereitung der Führung eines Angriffskrieges sanktioniert wurde. Stattdessen wurde ein § 80a in das StGB eingefügt, der so breit auslegbar ist, dass „humanitäre Interventionen“ nunmehr legalisiert sind. Übrigens kam der § 80 StGB nie zur Anwendung. Denn der Generalbundesanwalt vertrat die Auffassung: „Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar …“. Dazu gab es weder in der Wissenschaft noch in den Medien nennenswerte Diskussionen. Die Medien in Deutschland haben sich bekanntlich als „Vierte Gewalt“ im Staat schon vor Jahren verabschiedet.
Einschüchterung der Bevölkerung
Der Kreis schließt sich: Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen, Waffenexporte in Krisengebiete, Finanzleistungen an Terrorregime (z.B. Ukraine), Mitwirkung bei Regimewechseln, die von der CIA organisiert wurden, Unterwanderung demokratischer Organisationen, Existenzentziehung bei kritischer Berichterstattung – die Liste lässt sich verlängern. Wer das kritisiert, wird als Verschwörungstheoretiker, Antiamerikaner oder Putinversteher diffamiert, mit zum Teil weitreichenden Folgen. Und wie die vielen Kriege Terrorismus hervorrufen, führen Übergriffe der Staatsorgane oft zu einer Radikalisierung von Betroffenen. Die Frage stellt sich, ob das billigend in Kauf genommen wird oder ob das sogar gewollt ist, um Chaos zu schüren, die Bevölkerung einzuschüchtern und Widerstand gegen die praktizierte Aggressionspolitik zu verhindern beziehungsweise auszuschalten.
So auch den Widerstand gegen Aufrüstung und zunehmende Militarisierung. Die Militärausgaben in Deutschland, die 2016 mit 41,1 Milliarden Dollar bei 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts lagen, sollen auf Wunsch der US-Regierung auf zwei Prozent erhöht werden – Milliarden, die anderweitig fehlen. Deutsche Soldaten stehen in Estland 120 Kilometer vor der Stadtgrenze von St. Petersburg; Panzer, Artillerie, Raketen und Tausende Kampftruppen der USA und der NATO sind in den Anrainerstaaten Russlands an dessen Grenzen stationiert. Weil uns die Russen angeblich angreifen könnten, so die Feindpropaganda, die von deutschen Politikern und Medien willfährig übernommen wird.
Offenbar vorausschauend wurde bereits 2008 eine Neufassung des BKA-Gesetzes verabschiedet, wonach das Bundeskriminalamt private Computer durchsuchen, Telefone anzapfen, Daten speichern, präventive Ermittlungen ohne konkreten Tatverdacht durchführen sowie Wohnungen „verwanzen“ und ausspionieren darf. Auch wenn diese weitgehenden, in die Intimsphäre eingreifenden Maßnahmen nur unter bestimmten Voraussetzungen, zum Beispiel bei Gefahr im Verzug oder bei einer Bedrohung der „Grundlagen des Staates“ erlaubt sein sollen, bieten diese Einschränkungen kaum Schutz vor Übergriffen. Denn die Voraussetzungen für solche Maßnahmen können schon im Verdachtsfall vorliegen, und „Gefahr im Verzug“ ist ein dehnbarer Begriff, wie auch die „Grundlagen des Staates“ bereits bei Demonstrationen bedroht sein könnten. Inzwischen ist sogar die Installierung eines sogenannten Staatstrojaner in private Computer und Vorbeugehaft für verdächtigte Personen – in Bayern auf unbestimmte Zeit – legalisiert. Alles unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung.
Kriegsvorbereitungen?
Kürzlich wurde nun in einigen Medien berichtet: „Europa bricht auf in Richtung Verteidigungsunion.“ Unter dem Nebelschleier der Berliner Sondierungen für eine neue Regierung wurde ein europäisches Militärbündnis für „permanente strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO) gegründet. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini sagte dazu: „Nur zusammen können wir die Sicherheitsherausforderungen bewältigen.“ Und Verteidigungsministerin von der Leyen erklärte, „ein großer Tag …, Europa muss handlungsfähiger und effizienter werden.“ Unter anderem ist geplant, eine bessere Infrastruktur für die schnelle Verlegung von schwerem militärischem Gerät und Soldaten zu schaffen, „Schritte auf dem Weg zu einer Armee Europa“. Mit anderen Worten: Die NATO braucht neue Straßen, Brücken und Infrastrukturen, um Europa kriegsbereit zu machen. Keine Entspannungspolitik, sondern Abschreckung und Konfrontation. Fast zeitgleich wurde die Bevölkerung aufgerufen, Lebensmittel und Wasservorräte für „Notfälle“ zu horten.
Was ist da los, sind das nicht unverhohlene Kriegsvorbereitungen? Und ist das alles noch bei klarem Verstand zu begreifen? Oder umgibt uns bereits die reale Idiotie? Was kommt da auf uns zu? Und wie verhält sich die Bevölkerung? Ich kann mich nur wiederholen: Hinterher wird wieder einmal niemand verantwortlich gewesen sein, und viele Mitbürger werden wieder einmal von nichts gewusst haben.
Der Schriftsteller und Jurist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Im Juni 2017 erschien von ihm im Westend Verlag eine überarbeitete und um 111 Seiten erweiterte Neuausgabe seines Buches „Die Eroberung Europas durch die USA“.
Siehe auch KenFM im Gespräch mit Wolfgang Bittner
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