Ein Kommentar von Rainer Rupp.
Am 27. Mai legte die politische Bewegung „Italia Libera“ dem Obersten Kassationsgerichtshof einen Verfassungsentwurf vor, in dem eine Volksabstimmung für den Austritt Italiens aus der EU gefordert wird. Der Gesetzentwurf trägt den Titel “Aufruf zu einem Referendum über den Austritt des Staates aus der Europäischen Union”.
Nach jahrelangen Diskussionen landauf, landab über das Für und Wider eines Verbleibs in der EU hat „Italia Libera“ mit diesem Schritt den Grundstein dafür gelegt, dass das italienische Volk endlich in geordneter und systematischer Manier über das Thema landesweit diskutieren kann, ob es weiter in der EU am Gängelband Brüssels und indirekt an dem von Berlin bleiben will oder ob es seine wirtschaftliche, politische und sozialpolitische Souveränität wieder zurückholen und dem Beispiel des Vereinigten Königreichs folgen will.
Aus historischen Gründen war der Zeitpunkt für den Antrag auf das Referendum von „Italia Libera“ gut gewählt, denn am 2. Juni 1946 hatte sich Italien in einer Volksabstimmung für die Republik und gegen die Monarchie entschieden. Deshalb ist der 2. Juni seither in Italien ein Nationalfeiertag. Zudem wurde am 3. Juni der Corona-Lockdown aufgehoben und man kann im ganzen Land wieder ungehindert reisen. Prompt folgten auch viele Demonstrationen, u.a. des mitte-rechts Wahlbündnis aus Lega (Salvini), Fratelli d’Italia und Forza Italia (Berlusconi) die mit der Parole „Italien ergibt sich nicht” brav mit Mundschutz und auf Abstand bedacht auf die Straße gingen. Damit wollten sich die „Recht und Ordnung“ Parteien von den „unverantwortlichen Demonstranten” der Linken während der letzten Wochen distanzieren.
Auch der Name „Italia Libra“ hat eine lange linke Tradition. So hieß die erste anti-faschistische Untergrundorganisation in Italien von 1923-1925. Fast 20 Jahre später, im Juli 1942 wurde die Untergrundzeitung „L’Italia Libera“ von der anti-faschistischen Aktionspartei gegründet. Durch Verrat flog ihr Versteck auf und sie wurde im November 1943 überfallen. Ihr Chefredakteur Leone Ginzburg wurde verhaftet und später ermordet.
Tatsächlich hat die neue „Italia Libera“ mit ihrer Initiative zum ItalExit gezeigt, dass es möglich ist, mit dem Weg durch die Institutionen die Dinge voranzutreiben, damit die Bürger selbst und nicht korrupte Parteipolitiker darüber entscheiden, ob sie in der EU bleiben wollen oder nicht. Und für all jene, die aus der EU aussteigen wollen, ist der aktuelle Zeitpunkt für das Referendum hervorragend gewählt, denn die EU hat infolge ihrer kaltblütigen Solidaritätsverweigerung während der Coronavirus-Pandemie einen massiven Popularitätsverlust in Italien erfahren. Die Art und Weise wie Brüssel aber auch vor allem Berlin die Italiener auf dem Höhepunkt der Krise haben im Regen stehen lassen, wird südlich der Alpen so schnell nicht vergessen werden.
Gian Luca Proietti Toppi, ein Jurist, der an dem ItalExit-Gesetzentwurf beteiligt war, erklärte (1), dass es notwendig ist, mit Aktionen die einfachen Italiener zu erreichen und „ihre Augen zu öffnen für die schädlichen Auswirkungen der Mitgliedschaft in einer Union ohne Seele, die nur auf der Grundlage von Finanzen besteht. Mit der Einreichung der 50.000 Unterschriften, die notwendig sind, um den parlamentarischen Prozess der Volksabstimmung einzuleiten, wird in der Bevölkerung eine breite Debatte eröffnet über die Möglichkeiten, aus dem Käfig der EU und des Euro auszusteigen.”
Zugleich räumte er ein, dass “die Auswirkungen der Befreiung des alten europäischen Kontinents aus den Klauen des bürokratischen und repressiven Überbaus in Brüssel bei ihrer Bewältigung sicherlich komplexe Anforderungen stellen werden. Italia Libera, die erste ItalExit-Befürworterin in Italien, die sich eindeutig für einen Austritt aus der EU ausspricht hat bereits die für das Referendum erforderlichen Unterschriften gesammelt, und inzwischen auch Experten und Wissenschaftler damit betraut, die einen Plan auszuarbeiten, der die Ersparnisse der italienischen Bürger vor den (Staats)schulden sichert.” Die Tatsache, dass die kleine „Italia Libera“ Bewegung in kurzer Zeit 50.000 Unterschriften sammeln konnte, deutet darauf hin, dass sie einen blank liegenden Nerv in der Bevölkerung getroffen hat.
Obwohl der Jurist Toppi in seiner Rede die Tatsache nicht erwähnte, dass die EU Italien auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie im Stich gelassen hatte, betonte er dennoch, wie der (nordische) EU-Block nicht nur Italien finanziell ausbeutet, sondern den gesamten EU-Mittelmeerraum mit Ausnahme Frankreichs.
Zwar gäbe es auch viele positive Aspekte der EU, vor allem die Freizügigkeit und koordinierte Anstrengungen zur Verbrechensbekämpfung durch Europol, aber diese multilateralen Abkommen könnten auch ohne ein Europäisches Parlament und die dominierende Institutionen mit Sitz in Brüssel und Straßburg bestehen. Laut Toppi hatten sich die Italiener die EU als “eine Gemeinschaft von Völkern und nicht von Bankern” vorgestellt. Aus diesem Grund habe man den ItalExit Gesetzentwurf am selben Tag beim Kassationsgericht eingereicht, an dem der beispiellose EU-Hilfsfond (European Union Recovery Fund) zum Wideraufbau nach der Corona-Krise offiziell wurde. Dieser Fonds sei laut Toppi nur deshalb in die Wege geleitet worden, um der Entrüstung in Italien und anderen Ländern den Wind aus den Segeln zu nehmen, nachdem offenkundig geworden war, dass der EU-Block anfangs kein Interesse daran hatte, die bereits angeschlagenen Volkswirtschaften der Südländer, die durch die Pandemie finanziell nur noch weiter verwüstet wurden, zu unterstützen.
Angesichts der weit verbreiteten Unzufriedenheit in den südeuropäischen Ländern darüber, wie die EU, insbesondere Deutschland, ihre angeblich weltoffenen, liberalen Ideale aufgegeben haben, um im Inneren den Eigeninteressen zu dienen, versuchen die EU-Führungsfiguren jetzt den Schaden zu begrenzen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission und Angela Merkels rechte Hand in früheren deutschen Regierungen, Ursula von der Leyen, und die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, die auch ehemaliges Mitglied der Bankentroika war, die u.a. Griechenland ausgeplündert hat, kündigten die beispiellosen Finanzmaßnahmen an, um Europa aus der Krise zu führen.
Im Unterschied zur letzten Krise versprachen sie diesmal jedoch echte Hilfen. Die Hilfen während der letzten Krise waren vergiftet und dienten nur der Rettung der Großbanken in den Nordstaaten der EU. Zugleich wurden die staatlichen Strukturen und die ganze Volkswirtschaft von Griechenland, Spanien, Portugal und in geringerem Maße auch in Italien während des gesamten letzten Jahrzehnts durch die mit den EU-Hilfen verbundenen, neoliberalen Auflagen verwüstet.
In diesem Zusammenhang erwähnte Toppi die jüngste Einschätzung des italienischen Zentralbankchefs, wonach Italien für 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) um 13 %, erwartet. Aus diesem Grund brauche Italien keine weitere Verschuldung, die das Land nur noch stärker in die Hände internationaler Spekulanten treiben würde, betonte Toppi.
Dennoch – so führte Toppi weiter aus – würden sich die Italiener gut daran erinnern, was die EZB-Chefin Lagarde am 13. März dieses Jahres gesagt hatte. Das war zu der Zeit, als in Italien das Coronavirus begonnen hatte, die Krankenhäuser zu überwältigen. Damals hatte Frau Lagarde auf italienische Hilfegesuche kühl erklärt: dass die Pandemie ausschließlich ein italienisches Problem und kein EU-Problem sei. Dies war dann das auslösende Moment, wo ganz gewöhnliche Italiener begannen, EU-Flaggen aus der öffentlichen Ausstellung zu entfernen und sie durch russische und chinesische Flaggen zu ersetzen, als Dank für die bedeutende Hilfe, die diese beiden Länder Italien gewährten, als es von Brüssel und Berlin im Stich gelassen wurde.
Die zunehmende Unzufriedenheit der Italiener hat längst auch die konservativen Wählerschichten erfasst. Allerdings hoffen die Führer der konservativen Parteien, vor allem in Forza Italia, auf eine schnelle Einigung mit der EU mit entsprechenden Geldhilfen. Zugleich aber mehren sich auch bei ihren Anhängern die Stimmen, die neben der politischen auch eine geld-politische und wirtschaftliche Souveränität des Landes fordern, um unabhängig von Entscheidungen in Brüssel auf den eigenen Füssen stehen zu können.
Im Allgemeinen scheint infolge der italienischen EU-Ernüchterung während der Corona-Krise die bereits beendet geglaubte Diskussion über Sinn oder Unsinn eines Verbleibs in der Europäischen Union und im Euro erneut aufgeflammt zu sein.
So berichtete aktuell der in Palermo und Berlin als Kunsthistoriker und Publizist lebende Dr. Wulf Wagner in einem Lagebericht aus Palermo in der „Preußische Allgemeine Zeitung (2), dass auf dem italienischen Büchermarkt inzwischen wieder vermehrt Titel zum Thema „nationale Souveränität“ erschienen sind, wie z.B. „Il Primato Nazionale” (oder „Terremoto Italexit” („Erdbeben ItalExit”). Auch der erneut sich in die Politik einmischende Kunsthistoriker Vittorio Sgarbi habe sich für das Referendum der kleinen „Italia Libera” Bewegung ausgesprochen. Auch würden sich seit Wochen bei wachsenden Demonstrationen die parteiunabhängigen „Mascherine Tricolori” zu Wort melden, die anfänglich mit Corona-Masken in den Farben der Landesfahne für die Rückgewinnung der Souveränität warben.
Für die EU wäre ein “ItalExit” ein weitaus größerer Schlag als der Brexit, denn im Gegensatz zu Großbritannien ist Italien auch im Europäischen Währungssystem Euro ein wichtiges Mitglied, während das Vereinigte Königreich seine Währungssouveränität bewahrt hatte und sein Pfund unabhängig weiterhin als geldpolitisches Instrument einsetzten konnte.
Wenn die EU-Politiker in Brüssel, Berlin und Paris die durchaus realistische Möglichkeit eines ItalExit vermeiden wollen, dann müssen sie in den kommenden Jahren ihr eigenes politisches Versagen und die Unzulänglichkeiten der EU-Struktur zur Kenntnis nehmen und daran arbeiten, eine neue Gemeinschaft zu entwerfen, die die nationale Souveränität und Identität der Mitgliedsländer respektiert, und das auf der Grundlage der Gegenseitigkeit. Dafür aber müsste Deutschlands dominierende Rolle in der EU und effektiv auch in der EU-Kommission und in der Europäischen Zentralbank beendet werden. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass Deutschlands herrschende Klasse ihre Privilegien in Form von wirtschaftlichen und politischen Vorteilen als europäische Führungsmacht freiwillig aufgibt.
Daher wird Herr Toppis Hoffnung von einer reformierten EU ohne skrupellose Banker, ohne von sich selbst überzeugten Bürokraten und ohne inkompetente Politiker nur ein schöner Traum bleiben. Irgendwie scheint sich dessen auch Herr Toppi bewusst zu sein. Damit die von ihm angestrebten EU-Reformen wenigsten ein bisschen Aussicht auf Erfolg hätten, müsste – so Toppi – ein „wichtiger Staat die Führung“ im Kreis der Reformatoren übernehmen und diese Rolle scheint Italien als Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft auf den Leib geschneidert. Wenn dann aber drastische Reformen der EU ausbleiben, dann nimmt die Wahrscheinlichkeit eines ItalExit umgekehrt proportional zu, wobei ein italienischer Austritt in ganz Europa einen spürbaren Dominoeffekt haben würde.
Quellen:
- http://infobrics.org/post/31031/
- https://paz.de/artikel/maske-auf-maske-ab-corona-ist-nun-auch-in-italien-vorbei-a972.html
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Bildquelle: / shutterstock
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