von Laurent Stein.
Spätestens seit Pisa ist klar: Über wenige Themen regt sich der Deutsche so gerne auf wie über das Bildungssystem. Dabei wäre doch alles ganz einfach, würde man sich nur an der bayerischen Verfassung orientieren. In aller Klarheit steht dort geschrieben: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“
Bei der Einfachheit dieses Satzes verwundert es, wie weit wir uns inzwischen von dieser simplen Prämisse entfernt haben. Denn während wir fast erstarren, in völligem Entsetzen über das Abschneiden der deutschen Schüler im internationalen Vergleich, übersehen wir, dass insbesondere die so oft zitierte PISA-Studie sich lediglich auf die Lesekompetenz, mathematische Fertigkeiten sowie die naturwissenschaftliche Grundausbildung beschränkt. Da erscheint es nicht weiter verwunderlich, wenn aufgrund der kollektiven Versteifung auf PISA, eben jene nicht erfassten Werte, etwa die Ausbildung von Herz und Verstand, auf der Strecke bleiben.
Schule ist heutzutage vor allem eins: Wettbewerb. Dieser beginnt – vorausgesetzt die Eltern können dem Drang widerstehen den eigenen Nachwuchs nicht bereits im Vorschulalter bei einem „kindergerechten Englischkurs“ anzumelden (die Koreaner schlafen bekanntlich nicht) – spätestens mit dem Eintritt in die erste Klasse. Es läuft eine Tiefenindoktrination an, bei der die Kompasse der Sprösslinge auf lebenslanges Konkurrenzdenken neu kalibriert werden.
Eine der Ursachen allen Übels liegt in der Natur des Wettbewerbes: Er produziert Gewinner und Verlierer. In der Folge finden sich am unteren Ende der Verliererskala die knapp 50.000 Jugendlichen wieder, die hierzulande jedes Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Die Majorität dieser jungen Leute wird ein Leben lang keiner anspruchsvollen Arbeit nachgehen können und in einem ständigen Wechsel zwischen dem Bezug staatlicher Hilfsgelder, Berufsvorbereitungen und schlecht bezahlten Jobs verharren. Und während sich auf der anderen Seite die angehenden Akademiker auf der Sonnenseite wähnen, ignorieren sie schlicht die Tatsache, dass gerade sie es sind, die heute mehr denn je, aufgrund der demographischen Entwicklung, für diese Missstände finanziell aufkommen werden müssen. Bei näherer Betrachtung verlieren also alle.
Dieser Absurdität zum Trotz müssen die „Gewinner“ dennoch irgendwie ermittelt werden. Es erfolgt eine Unterteilung in sehr gut bis ungenügend anhand von Noten, wobei derjenige mit dem besten Notendurchschnitt als besonders gut gilt. Künstlerisch, musikalisch, sportlich oder einfach kreativ begabte Schüler schauen dabei allerdings besonders dumm aus der Wäsche, haben ihre Talente doch nur einen marginalen Einfluss auf die Endnote.
Mit Fixierung auf diese Bewertungsmuster zeigen sich viele Eltern enttäuscht, wenn ihre Kinder den eigenen Erwartungen nicht gerecht werden, sich also bei gewissen Themen schwerer tun als andere und demnach vom System als eher „mangelhaft“ abgestempelt werden.
Sie vergessen, dass jeder Mensch mit einem individuellen Bündel an Kompetenzen und Talenten zur Welt kommt und glücklicherweise nicht jeder alles gleich gut beherrschen kann.
Das Endprodukt dieser fortwährenden Klassifikation ist eine Armada an Heranwachsenden, mit äußerst geringer Selbstachtung. Und wie wir wissen hat eine Person, die sich selbst nicht liebt, nur wenig Liebe für Andere übrig. Diesen Zusammenhang zu erkennen, ist in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung (Stichwort: AFD, Pegida, Erdogan) essentiell, wenn derartigen Entwicklungen in Zukunft die Grundlage entzogen werden soll.
Ein weiterer struktureller Fehler im System liegt in der mangelnden Chancengleichheit. Sie macht sich bemerkbar, durch den Einfluss, den unter anderem das verfügbare Familieneinkommen oder die Herkunft auf die schulische Leistung hat. Natürlich bekommen alle Kinder denselben Unterricht und es ist falsch den Lehrkräften per se zu unterstellen, sie würden willkürlich bestimmte Schüler bevorzugen. Dennoch ist es völliger Nonsens nach lediglich vier Schuljahren, die Leistung eines Kindes aus einem Akademikerhaushalt, welches individuelle Hilfe durch die Eltern oder einen Nachhilfelehrer in Anspruch nehmen kann, mit der Leistung eines Flüchtlingskindes oder eines Kindes aus problematischen Verhältnissen zu vergleichen. Sicher, absolute Chancengleichheit wird es nie geben, schon gar nicht in Anbetracht der aktuellen Vermögensverteilung. Es ist jedoch keineswegs naiv zu behaupten, dass bei der Minimierung der Kluft zwischen ungleichen Startchancen, noch reichlich Luft nach oben ist.
Leistungsdruck und Zukunftsangst haben in den letzten Jahren massiv zugenommen. Woran liegt das? Eine Antwort hierauf liefert das Phänomen der Zeitkompression. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in den letzten Dekaden kontinuierlich angestiegen. Alleine zwischen 2000 und 2010 stieg die Lebenserwartung der Deutschen von 77,9 auf 80,9 Jahre. Im Kultusministerium reagierte man auf diese Entwicklung mit dem G8, also achtjährigem Gymnasium. Während uns im Zeitalter von Burn-Out und Depression bewusst wird, wie wichtig periodische Entschleunigung sein kann, beschleunigen wir die ersten Lebensjahre unserer Kinder in einer Art und Weise, die sie mit vollem Karacho in Richtung frühzeitiger Burn-Out-Erfahrungen rasen lässt. Berufsvorbereitung eben. Und obschon bekannt ist, dass die Erzeugung von Druck dem Wecken von Interesse diametral gegenüber steht, wird den Lehrern mit dem G8 ein Großteil ihres individuellen Gestaltungsraumes genommen, da die Lehrpläne sie dazu zwingen die Gehirne der Kinder in möglichst wenig Zeit mit möglichst vielen Informationen zu überfluten. Aus „für mich ist es auch die sechste Stunde“ wurde so „für mich ist es auch die zehnte Stunde“, was den Anteil der zwar physisch anwesenden jedoch geistig vollkommen abwesenden Schüler nicht gerade verringert hat.
Wo also sollte man ansetzen, um den aktuellen Trend umzukehren?
Die zentralen Figuren an den Schulen sind und bleiben die Lehrer. Wenn wir die Bildung unserer Kinder verbessern möchten, müssen im Umkehrschluss auch die Ausbilder besser werden. Dies kann erreicht werden, indem eine Umwelt kreiert wird, in der die begabtesten Studenten weniger in die Chefetagen von Investmentbanken und Großkonzernen abwandern, sondern vermehrt eine Laufbahn als Lehrer einschlagen. Es geht also um die gesellschaftliche Aufwertung des Lehrerberufes. Dafür muss das Studium einen neuen Fokus setzen, soll heißen vor allem praxisorientierter werden. So wie ein naturwissenschaftlich Minderbegabter aus dem Studium der Elektrotechnik rausfliegt, kann auch derjenige, der mit Kindern nicht klarkommt, kein Lehrer werden. Der natürliche Filterungsprozess, der bei den meisten Studiengängen stattfindet, ist bei Lehramtsstudiengängen quasi inexistent. Nicht die zumeist aus purem Aktionismus entstehenden Anpassungen der Lehrpläne, sondern eine größere Anzahl an besser ausgebildeten und für den Beruf geeigneten Lehrkräfte stellen das Fundament für positive Veränderungen an unseren Schulen.
Darüber hinaus müssen wir den Phänomenen der Neuzeit endlich ins Auge blicken.
Der Schlafrhythmus der heutigen Generation ist ein anderer als der ihrer Eltern. Bedingt durch das Aufkommen neuer Technologien geht heute kaum ein Jugendlicher vor 23:00 Uhr ins Bett. Dementsprechend unausgeruht, missmutig und konzentrationsunfähig starten die Schüler in den Tag. Sie greifen schon in jungen Jahren zu Aufputschmitteln wie Energy Drinks und Kaffee, um auf der Schulbank nicht wegzudösen. Warum also nicht den Schulstart um eine halbe oder gar eine ganze Stunde nach hinten verschieben? Das gefährdet zwar Arbeitsplätze in der Energy-Drink-Industrie, wäre aber eine Win-Win-Situation für Schüler und Lehrer.
Auch für ein weiteres Novum sind die neuen Technologien – Smartphones im besonderen – hauptverantwortlich: Infolge der permanenten Reizüberflutung, der unsere Gehirne ausgesetzt sind (Facebook Notifications, Whatsapp Nachrichten, …) hat sich die Konzentrationsfähigkeit des Durchschnittsbürgers dramatisch verschlechtert. Laut einer Studie von Microsoft haben Goldfische inzwischen eine längere Aufmerksamkeitsspanne als Menschen. Dies stellt die Lehrer vor eine neue Herausforderung: Wie schafft man es, angesichts dessen, dass die Schüler nach einer gewissen Zeit sowieso abschalten, sie nicht für die gesamte Stunde zu verlieren, sondern immer wieder ins Boot zu holen? Die von jugendlichen massenhaft konsumierten Netflix Serien, bei der eine neue Folge mit „was bisher geschah“ eingeleitet wird, können hierbei als Vorbild dienen.
Alles in allem wird der Unterricht sich wandeln müssen. Vor allem in puncto Praxis gibt es Nachholbedarf, denn Theorie alleine ist ein zweischneidiges Schwert. Sie ist zweifelsohne sehr wichtig, aber zumeist auch unglaublich öde. Vor allem naturwissenschaftlicher Unterricht könnte durch zeitweise Verlagerung des Unterrichts aus einem muffigen Klassenzimmer in eben jene Natur aufgelockert werden. Schnell würde den Schülern klar werden, dass eine strikte Trennung in Physik, Chemie und Biologie der Natur komplett zuwider läuft und genau genommen alles miteinander zusammenhängt. Die Schüler würden aus ihrer Passivität gerissen und demzufolge wäre es für die Lehrer einfacher ein lebendiges Unterrichtsklima zu generieren.
Der Unterricht muss sich heute schlicht und ergreifend mehr an der „echten Welt“ orientieren, die Schüler auf das „echte Leben“ vorbereiten, damit diese in Zukunft „echte Lösungen“ für die Probleme unserer Zeit entwickeln.
Volker Pispers hat völlig recht wenn er sagt: „Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt, sondern in der Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschule!“ Das Gymnasium hat er in dieser Aufzählung vergessen zu nennen.
Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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