Ein Standpunkt von Roland Rottenfußer.
In einem Vortrag erklärt der Künstler und Buchautor Raymond Unger, wie eingebildete Handlungsoptionen in der Klimafrage zu Hypermoralismus führen.
Sich schuldig fühlen — das ist eigentlich eine unangenehme Sache. Man sollte annehmen, dass Menschen versuchen, dieses Gefühl möglichst zu vermeiden. Manchmal hat man jedoch den Eindruck, dass viele Zeitgenossen sich geradezu darum reißen, Schuld zu übernehmen. Ob es die mit Corona-Patienten überfüllte Intensivstation ist, der hilflos auf einer Eisscholle treibende Eisbär, ob es das Leid der ukrainischen Bevölkerung ist oder das der Opfer lange zurückliegender Taten der Nazis — immer bin „ich“ es, der sich dafür verantwortlich zu fühlen hat. Wo ich nicht selbst der Täter war, habe ich die Tat vielleicht zugelassen — oder ich gehöre einem Täterkollektiv an. Speziell innerhalb des Lagers, das sich grün, links oder woke nennt, ist geradezu eine Art Schuldhabsucht festzustellen. Zu tun hat dies auch mit der speziellen seelischen Prägung der Babyboomer-Generation. In unserer Kindheit lernen wir leider eine Menge nutzloser und schädlicher Dinge: sich minderwertig fühlen, übermäßige Identifikation mit Autoritäten oder angemaßte Handlungsoptionen, die wir in Wahrheit gar nicht haben. Mit der jetzt dominierenden Generation wurde ein kollektives psychisches Störungsmuster nun auch politisch zum Problem. Denn natürlich wollen Nachkriegskinder jene Schuldgefühle, die sie ohne wirkliche Notwendigkeit auf sich genommen haben, irgendwann auch wieder loswerden. So werden sie zu Hypermoralisten, zu Chefanklägern ihrer Mitmenschen. In einem öffentlichen Vortrag legte Raymond Unger diese destruktive Psychodynamik bloß. Wer sie versteht, wird künftig nicht mehr so leicht zu manipulieren sein.
„Ganz ehrlich, so’n richtiger Mutmacher bin ich eigentlich nicht“, sagte Raymond Unger aus Anlass seiner Einladung zu einer Vortragsreihe unter dem Titel „Narrative der Mutmacher in Kloster Zinn“ am 1. Oktober 2023. Allerdings ist Unger einer, der die dunklen Flecken der kollektiven Psyche so einleuchtend darstellt, dass allein diese Erkenntnishelle uns Zuhörern das Gefühl gibt, dass die Menschheit noch nicht verloren ist. Unger gehört wahrscheinlich zu den besten Sachbuchautoren der letzten, der dunklen Jahre, und er lief infolge der sich überlagernden Krisen — Flüchtlinge, Corona, Klima … — erst zu seiner vollen Form auf. Immer verstand er es glänzend, Persönlich-Biografisches mit Sachinformationen, Politik mit Psychologie sowie Elementen der Philosophie, der Kulturgeschichte sowie der Wissenschaft zu vermischen. „Nebenbei“ ist Raymond Unger ein erfolgreicher Maler, der in der Berliner Kulturszene auch durch vermischte Events — Ausstellungen mit musikalischen Darbietungen anderer Künstler — von sich reden machte. Damit aktivierte Unger natürlich auch die Diffamierungsmaschinerie politischer Glaubenskrieger gegen sich.
Auch bei seinem Auftritt in Kloster Zinn beginnt Raymond Unger mit einem persönlichen Statement. Er sei ein „klassischer Babyboomer“ und hätte daher mit transgenerationalen Kriegstraumata zu kämpfen gehabt. Bald aber kommt der Autor der Sachbücher „Der Verlust der Freiheit“ und „Die Heldenreise des Künstlers“ auf die politische Situation zu sprechen: „Diese Gesellschaft wird aktiv manipuliert und vorsätzlich angegriffen im Sinne des Freiheitsabbaus.“ Dieser Angriff erfolge vorsätzlich. Wichtig sei es dabei aber, den Fokus auf jene zu lenken, die diesen Freiheitsabbau mit sich geschehen lassen, also auf fast alle von uns. Zu fragen sei also: „Wer wird angegriffen? Wie reif ist diese Gesellschaft? Warum funktionieren bestimmte Angstnarrative im Westen so gut und speziell in Deutschland?“ Hierzu zitiert Unter eine Studie der Universität Oxford. Demnach habe Deutschland die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemiebekämpfung von allen Staaten, die untersucht wurden, am mustergültigsten erfüllt. Ungers Schlussfolgerung: „Sobald ein Narrativ moralisch geframt wird, ist Deutschland immer die Nummer eins in der Erfüllung oder Übererfüllung.“ Beispiele seien Fukushima, die Flüchtlingskrise und Corona.
Abmoderierte Sinngewissheiten
Eine entscheidende Rolle spielen in dieser Dynamik die Medien. Dazu schrieb der Journalist Milosz Matuschek: „Wer die Information kontrolliert, bestimmt die Realität.“ Dies ist wichtig, weil gemeinhin angenommen wird, Information bilde die Realität nur ab. Es geht also nicht nur um das Beschreiben, das Ordnen, die Schwerpunktsetzung innerhalb einer objektiv gegebenen Realität — es geht um deren Konstruktion oder noch drastischer: Erschaffung. Umso gefährlicher ist die Bündelung von Medienmacht, denn dann wird die Realität, in der wir leben, ja nur von einem kleinen Kreis mächtiger Menschen bestimmt. In den letzten Jahren nutzten reichweitenstarke Medien und Medienverbände ihre Kontrolle über die von den Menschen wahrgenommene Realität, so Raymond Unger, zum „Abmoderieren ehemaliger Sinngewissheiten“. Obsolet wurden zum Beispiel die Geschlechteridentität sowie nationale Identitäten — alles, was Menschen bisher in ihrem Selbstgefühl stützen und ihnen Wurzeln geben konnte. Die Folge: „Der Mensch steht atomisiert und nackt in einer schönen neuen Welt.“
Ein wesentlicher Hebel, um die Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken, ist die Angst. Die größte Angst ist jene vor dem Tod, weshalb diese während der letzten Krise auch besonders fleißig geschürt wurde. Eine tödliche Viruserkrankung oder der Hitzetod wurden an die Wand gemalt. Warum ist Angst der Schlüssel zur Beherrschung von Menschenmassen? „Im Angstzustand kommt es zur Lähmung des logischen Denkens. Alle möglichen Absurditäten werden ‚gekauft‘.“ Dies kann den öffentlichen Diskurs auch ethisch in eine fragwürdige Richtung bewegen. Der Theologe und Pazifist Eugen Drewermann fragte pointiert: „Kann ein Mensch gut sein, der Angst hat?“ Mit Drewermann antwortet Unger: Das kann er nicht. Menschen, die Angst haben, tun böse Dinge. Dieses Böse erzeugt bei anderen neue Angst — eine Spirale, die sich immer weiterdreht.
Versäumte Reifungsschritte
Wieder sollten wir uns aber nicht nur mit den Angstmachern aus Politik und Medien befassen, sondern auch mit jenen, die sich diese Angst immer wieder einreden lassen. Wem kann man am leichtesten Angst machen? Die Antwort ist: Kindern. Umgekehrt gilt: „Um Angst abwehren zu können, müssen Menschen einen bestimmten Grad von Bewusstsein und Ausreifung erreicht haben.“ Wie wird man also so erwachsen, dass man nicht jedes Angstnarrativ sofort kauft? Die Erfahrung zeigt: 80 Prozent der Menschen „lassen sich über die Angstnarrative in die Massenbildung hineinziehen“. Das klingt zunächst einmal entmutigend. Aber da sind ja noch die anderen 20 Prozent. Warum erweisen sie sich als resilient, trotzen einer ausgefeilten, auf allen Kanälen ausgestrahlten Manipulationsmaschinerie wie auch dem Gruppendruck, der auf sie ausgeübt wird?
Wie so oft bei psychologischen Themen liegt die Ursache in der Kindheit. In den ersten fünf bis sechs Lebensjahren entsteht in Kindern das Urvertrauen. Es entsteht durch „authentische Spiegelung“, durch die Zuwendung der Eltern, die dem Kind ein Gefühl von Gesehenwerden, Geliebtwerden, Selbstwirksamkeit vermitteln und es somit überhaupt erst als sozial verbundenes Wesen in der Welt verankern. Der psychologische Sachbuchautor Burkhard Hoffmann spricht speziell vom „Glanz im Auge der Mutter und des Vaters“. Sie vermitteln einem Kind das Gefühl „Ich bin o. k.“.
Der Glanz in den Augen der Eltern
An dieser Stelle wird Raymond Ungers Vortrag für das Verständnis kollektiver gesellschaftlicher Vorgänge eminent interessant. Was geschieht nämlich, wenn eine ganze Generation ohne diesen Glanz in den Augen der Eltern aufwachsen muss — oder mit einer sehr reduzierten „Dosis“ davon? Dies ist das Problem der Babyboomer, die oft auch als Kriegsenkel bezeichnet werden. Gemeint sind hier nicht die klassischen 68er, die mittlerweile schon teilweise über 75 Jahre alt sind, sondern die etwas Jüngeren, geboren überwiegend in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie hatten überwiegend nicht mit Eltern zu kämpfen, die Nazi-Täter waren, wohl aber mit Vätern und Müttern, die durch ihre Erfahrungen von Krieg und Vertreibung schwer traumatisiert waren. Dies bedeutetet — und ich ziehe hier Informationen aus anderen Bücher Raymond Ungers sowie aus der „Kriegsenkelliteratur“ heran —, dass Menschen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit Eltern wurden, so stark mit ihren Verarbeitungsprozessen eigener traumatischer Erfahrungen beschäftigt waren, dass sie auf ihre Kinder emotional nicht adäquat eingehen konnten. Bemüht, ihnen ein „behütetes“, materiell abgesichertes Leben zu ermöglichen, was unter den Bedingungen des Wirtschaftswunders meist gelang, vermochten sie für die innere Welt ihrer Kinder kein Verständnis aufzubringen.
Babyboomer waren Kinder, die — materiell gut versorgt — dennoch auf subtile Weise litten, sich aber von ihren Eltern vorwerfen lassen mussten, dafür keinen zureichenden „objektiven“ Grund zu haben, also nur aufgrund weichlicher Überempfindlichkeit im Leben oft nicht richtig in die Gänge zu kommen. „Unter bestimmten Bedingungen“, sagt Raymond Unger in seinem Vortrag, „können Eltern diesen Glanz nicht haben.“ Er verweist als Beispiel auf seine eigenen Eltern. Diese wurden in ihrer Kindheit selbst so traumatisiert, „dass sie die Erziehung versachlichen mussten.“ Die Kinder wurden formal gut versorgt, aber auf Abstand gehalten. Warum diese Unfähigkeit, sich auf die Innenwelt des eigenen Kindes einzulassen? „Dies hätte bedeutet, sich mit den eigenen Gefühlen aus der Kindheit auseinanderzusetzen. Bestimmte Ereignisse können Erwachsene so stressen, dass sie den Glanz in den Augen nicht aufbringen können.“
Drei verhängnisvolle Wirkmechanismen
Raymond Unger leitet aus diesen Überlegungen in einem faszinierenden Abschnitt seines Vortrags drei Muster der Entstehung von Schuldgefühlen und Scham ab.
Als Erstes ein Gefühl einer tiefen Wertlosigkeit. Kinder beziehen alles auf sich und besitzen somit — wertneutral gesprochen — eine natürliche Form von Egozentrik. Das hat oft tragische Folgen, denn selbst wenn ein Elternteil stirbt, können Kinder unbewusst annehmen, dies sei ihre Schuld. Auch wenn Kinder überwiegend nicht in einer Atmosphäre liebender Aufmerksamkeit seitens ihrer Eltern aufwachsen, sehen sie die Schuld dafür mitunter bei sich selbst. „Wen wir lieben, dem schenken wir Zeit. Der Schock, dass Eltern uns keine Zeit schenken, erzeugt Wertlosigkeitsgefühle.“
Die zweite, besonders tragische Dynamik ist die Übernahme elterlicher Schuld. Eltern, die ihren Kindern, wie unter Punkt 1 dargelegt, nicht genügend Aufmerksamkeit schenken, empfinden durchaus etwas wie Schuldgefühle. Auch diese übernehmen Kinder mitunter. Dies wird auch als Täteridentifizierung bezeichnet. Warum tun Kinder dies? Aufschluss hat unter anderem die systemische Familientherapie gegeben, wie sie von Bert Hellinger und anderen geschaffen wurde: „Kinder wollen das System immer maximal stabilisieren, weil sie von diesem abhängig sind.“ Vereinfacht also: Kinder leiden nicht nur unter dem Entzug von Aufmerksamkeit durch vielfach kriegstraumatisierte Eltern, sie nehmen auch noch die Schuldgefühle für „Taten“ beziehungsweise Versäumnisse auf sich, deren Opfer sie geworden sind. Denn Kinder wollen, dass sich Eltern, von denen sie existenziell abhängig sind, wohl fühlen und stabil sind. Sie sorgen für die psychische Entlastung ihrer Eltern sogar um den Preis, selbst dadurch über Gebühr belastet zu werden.
Das dritte psychologische Muster, das hier greift, nennt Raymond Unger den „Benefit einer eingebildeten Handlungsoption“. Dies ist ein sehr interessanter Punkt. Denn worin besteht die offenbar vorhandene Anziehungskraft, die Schuldgefühle auf Kinder ausübt? Es handelt sich doch um eher unangenehme Gefühle, von denen man meinen könnte, jeder würde ihnen möglichst aus dem Weg gehen. Tatsächlich aber liegt der „Reiz“ bei der Akquise einer Schuld, die eigentlich nicht zu uns gehört, in der Illusion der eigenen Wirkmächtigkeit, die damit zusammenhängt. Ist der andere schuld, kann ich nichts tun; bin sich selbst schuld, kann ich etwas ändern.
Ich bin nicht o. k., du bist nicht o. k.
Unger sagt hierzu: „Wenn ich als Kind ursächlich für Probleme bin, kann ich diese ändern. Ich bin wirkmächtig.“ Sofern aber die von Unger beschriebenen Schuldkomplexe über viele Jahre bestehen bleiben, erzeugen die drei psychologischen Wirkmechanismen im Individuum „toxische Scham“. Der vom amerikanischen Psychologen John Bradshaw geprägte Begriff bedeutet, dass die Schuldgefühle auf der Identitätsebene verinnerlicht werden. Schließlich glaubt der Betreffende: „Ich bin nicht o. k. Ich bin nicht mächtig.“ Mit dieser Scham können jedoch nicht alle leben. Ein „neurotischer Charakter hilft sich, indem er Schuld und Scham nach außen projiziert. (…) Die anderen sind nicht o. k. Die innere Stimme, die kritisiert und niedermacht, wird gegen andere gerichtet.“ Der auf andere gerichtete Zeigefinger hat für den Projizierenden weitere positive Effekte. So gehört es zu den verbreiteten Machttechniken, bei anderen Schuldgefühle zu erzeugen. Und das kann — speziell in einem Umfeld, das durch Hypermoral gekennzeichnet ist — karrierefördernd sein. Dazu Raymond Unger: „Ein narzisstischer Charakter entdeckt: Wenn er sich in die erste Reihe der Moralisten stellt, wird er erstens nicht angegriffen, zweitens macht er Karriere.“
Besonders aufschlussreich ist nun die Anwendung dieser Psychodynamik auf kollektive, also vor allem politische und gesellschaftliche Themen. Um das Gefühl grundlegender Wertlosigkeit zu bewältigen, greifen Menschen zu Methoden psychischer Entlastung, die Raymond Unger so benennt: „Überkompensation, Konformismus, Autoritätshörigkeit, Hypermoral, Schuldstolz, Hexenjagden, Blockwart-Mentalität“. Wir werden auf einige davon noch zurückkommen.
Analog zur Übernahme elterlicher Schuld kommt es beim Kind-Bürger zu Formen der Überidentifizierung mit Autoritäten. In der Coronakrise konnte man beobachten, wie manche einen Angriff Dritter auf „ihre“ Regierung sehr persönlich nahmen, als gelte diese Kritik ihnen selbst. Auf das Übertreten einer Regel, die ein Normalbürger gar nicht selbst aufgestellt hat und die nicht einmal sinnvoll sein muss, reagierten die neuen „Blockwarte“ sehr empfindlich. Versäumtes Persönlichkeitswachstum und das Verharren in kindlichen Verhaltensmustern zeigten sich unter anderem in Formulierungen wie „Mutti Merkel“. In seinem Vortrag sagte Unger dazu: „Diese Charaktere ertragen die Wahrheit über die Autoritäten nicht. Man will das alles nicht hören.“ Würde man sich eingestehen, dass Autoritäten korrupt sind oder destruktive Absichten verfolgten, „müsste man sich diese Fragen auch bezüglich der eigenen Eltern stellen“.
Lieber schuldig als machtlos
Bezüglich der „eingebildeten Handlungsoption“ sind die gesellschaftlichen Folgen besonders fatal. Für Menschen, die gern für möglichst viel verantwortlich sind und sich deshalb lieber schuldig als völlig machtlos fühlen, gibt es „nichts Schlimmere als die Annahme, dass es andere Ursachen geben könnte als das eigene Verhalten“. Eine gewaltige Welle vorher nicht vorhandener Schuldgefühle löste die Annahme aus, alle Umwelt- und Klimaprobleme seien auf vom Einzelnen verschuldeten übermäßigen CO2-Ausstoß zurückzuführen. Wie Raymond Unger berichtet, gab es zur Klimaerwärmung früher einmal eine ganze Reihe unterschiedlichster Hypothesen. Im Laufe von Jahren verengte sich das Feld der als akzeptabel geltenden Erklärungsversuche jedoch extrem, bis nur noch die These vom menschengemachten, durch CO2 verursachten Klimawandel übrigblieb.
Interessanterweise setzte sich also gerade jene Variante durch, die dem Menschen am meisten Handlungsoptionen und in der Folge am meisten Schuld zuweist. Der Hinweis auf in der Erdgeschichte zyklisch vorkommende Wärme- und Kälteperioden, die es lange vor der Industrialisierung und Massentierhaltung, ja sogar lange vor der Entstehung des Menschen gab, wurde von der vereinten Macht von Wissenschaft, Politik und Medien zurückgewiesen. Wer so denkt, gilt heut als „Leugner“. Es wirkt fast, als seien die meisten Menschen verliebt in das Sich-schuldig-Fühlen und reagierten verärgert auf alle, die ihnen die Last dieser Schuld ein wenig leichter machen wollen, weil dies natürlich auch ihre Gestaltungsmacht schmälern würde. „Eigene Wirkmächtigkeit befriedet Ohnmachtsgefühle“, schreibt Unger.
Die Ersatzreligion
Das Szenario eines globalen Klimakollapses, der durch die Taten einer verschworenen Heldengemeinschaft in letzter Minute abgewendet werden könnte, ist zu reizvoll, um es durch allzu viel Nüchternheit zu verwässern. Der Themenkomplex ist, so Unger, die „perfekte Voraussetzung für Ersatzreligion“. Denn: „Menschen können nicht nicht religiös sein.“ Bröckeln die traditionellen Glaubensbindungen, so wird etwas eigentlich ganz Weltliches zur Religion erhoben. In einer Welt, die ohne den Trost metaphysischen Aufgehobenseins auskommen muss, wird die Erlösungshoffnung, zu der die menschliche Seele neigt, auf die Technik übertragen. Letztlich steht hinter allem die Hoffnung auf Unsterblichkeit.
Gleichzeitig steht hinter dem gerade bei „grünen“ Themen beobachtbaren Hypermoralismus ein „tiefes Gefühl der Illegitimität“. Denn jedes grundlegende Bedürfnis des Menschen — wie Essen, Trinken, eine warme Wohnung oder Fortbewegung — wird Klimagläubigen durch das Bewusstsein vergällt, dass damit CO2-Ausstoß verbunden ist. Das Lebensgefühl des Klimabewussten besagt also: „Die Welt wäre ohne mich besser dran.“ Es wäre besser, wenn es weniger Menschen oder annähernd gar keine gäbe. Der Unglücksfall meiner Existenz kann nur aufgewogen werden durch ein rigides Kompensationsprogramm. Dazu gehört mitunter auch der Wunsch nach Kinderlosigkeit. Lebenssinn gibt dem qua Geburt in Schuld gefallenen CO2-Ausstoßer auch der erbitterte Kampf gegen all jene, die sich der Nichtswürdigkeit ihrer Existenz nicht mit der gebotenen Schärfe bewusst sind.
Durch moralischen Stolz versüßtes Opfer
Auch wenn Raymond Unger dies in seinem rund 45-minütigen Vortrag nicht mehr genau ausführen kann: Diese Mentalität erinnert auch an das Verhalten von „Linientreuen“ in der Coronakrise. Das Außer-Haus-Gehen, das Menschen-Treffen, ja selbst das Atmen — all dies entpuppte sich als schuldhaftes Handeln. „Gelöst“ wurde dieses Dilemma vielfach durch unbedingte unterwürfige Solidarisierung mit denjenigen, die die Coronaregeln verhängen, durch das mit moralischem Stolz versüßte Opfer all dessen, was bisher ein wirklich lebendiges Leben ausgemacht hat, und nicht zuletzt durch erbitterte Abwertung und Sanktionierung all derer, die „nicht verstanden haben“. Für Machthaber erweisen sich solche Menschen indes als ideale Untertanen: Loyal bis zum Äußersten, lassen sie sich widerstandslos quälen, weil sie unbewusst glauben, nichts Besseres verdient zu haben.
Eine Psychodynamik, die ihre Ursache in den toxischen Familiensituationen vieler Angehöriger der heute dominierenden Generation hatte, wird so zur Quelle zeitlich unbegrenzten Leidens. Der Radius dessen, was ich beeinflussen kann, ist notgedrungen klein, also auch meine Gestaltungsmacht. Damit unzufrieden, erweitere ich sie zunächst auf das eigene Umfeld, auf Verwandtschaft, Freunde und Arbeitsplatz, in der Hoffnung, meine Ausstrahlung und mein Handeln würden zur Schaffung gesunder sozialer Systeme beitragen. Sodann erweitere ich den Radius meiner vermeintlichen Handlungsoptionen auf das eigene Land oder auf die Weltregion, in der ich lebe — Europa, „der Westen“. Hier gilt: Auch wenn ich es nicht getan habe — schon dass ich es nicht verhindert habe, macht mich mitschuldig. Meine möglichst weitgreifende Schuldakquise erstreckt sich dann weiter auf die Taten meiner Vorfahren (Nazizeit, Kolonialismus).
Schuldlos schuldig
Ich beginne mich für immer mehr verantwortlich zu fühlen, auch wo definitiv keine reale Handlungsoption besteht. Wo ich zum Beispiel nicht aktiv an der Diskriminierung von Migranten beteiligt bin oder diese stets freundlich und fair behandle, bin ich dennoch nicht aus dem Schneider, denn ich mache ich mich des Privilegien-Genusses schuldig. Wie komme ich aus der Schuldfalle heraus? Gar nicht. Denn selbst wenn ich in jeder Hinsicht den Opferkollektiven angehörte, wenn ich also zum Beispiel ein lesbischer Transmann „of Color“ wäre, wohnhaft weit im Osten und zigmal geimpft, wäre ich deshalb keinesfalls unschuldig. Noch immer wäre ich mit einem nicht wiedergutzumachenden Makel behaftet: ein Mensch zu sein und somit CO2-Ausstoßer.
Schuldtilgung also gibt es nie; Schuldentlastung immerhin ist möglich: zunächst durch andauernde Selbstbezichtigung, mit der ich „Sensitivity“, Schuldeinsicht und ein gewisses, zumindest theoretisches Potenzial zur Umkehr dokumentiere. Weiter auch durch Sühneopfer, also besonders schmerzhafte Einschränkungen meiner Lebensqualität: Einhaltung von Coronaregeln, Konsumverzicht, eine kalte Wohnung als Fanal des tapferen Widerstands „gegen Putin“… Kurz: Nur wenn ich — fast — nicht mehr lebe, lebe ich richtig. Ich kann mich jedoch dem schuldbehafteten Kollektiv zumindest teilweise durch zur Schau gestellte Bußfertigkeit entziehen und dadurch, dass ich vom Angeklagten zum Kläger werde. Mein natürlicher Aufenthaltsort ist die Anklagebank, bis in alle Ewigkeit. Es sei denn, ich schaffe es, auf den Stuhl des Anklägers zu wechseln. Dann werden andere die Last tragen, die mich drückt, obwohl ich sie eigentlich nie hätte auf meine Schultern nehmen müssen.
Wir zahlen und zahlen — mit Geld oder mit reduziertem Lebensglück, ohne dass die Schuld jemals auf null schrumpfen könnte. Dieses Konzept erinnert klar an die religiöse Idee der Erbsünde. Der Unterschied zu ökologisch-moralischer Schuldbewirtschaftung ist jedoch: Religionen liefern zum Ausgleich und als Trost auch Narrative der Schuldentlastung gleich mit. Diese gibt es im Kontext von Umwelt, Gesundheit und anderen Correctness-Themen nicht unbedingt. Gott kennt Gnade, woke Moralisten nicht.
Quellen und Anmerkungen
Raymond Unger gibt in seinem hörenswerten Vortrag noch weitere Anregungen, die ich hier unerwähnt gelassen haben. Es lohnt sich, reinzuschauen:
Impulsvortrag Raymond Unger: “Psychologie der Angst – Warum Schuld- und Angstnarrative wirken”
Literatur:
Raymond Unger: Die Heldenreise des Bürgers, Europa Verlag
Raymond Unger: Der Verlust der Freiheit, Europa Verlag
Raymond Unger: Die Wiedergutmacher, Europa Verlag
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 28. Oktober 2023 bei manova.news
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Bildquelle: Lensw0rId / shutterstock
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Ein sehr interessantes Thema, aber die Bearbeitung ist zu sehr orientiert an den gängigen Erklärmustern der bürgerlichen Psychologie. Das gilt besonders für die Rückführung auf die Kindheit als anscheinend allein prägenden Lebensabschnitt. Kindheit ist der Lebensabschnitt des Menschen, in dem die meisten Muster für den Umgang mit sich selbst und mit der Umwelt gelegt werden. Das ist unbestreitbar. Denn Kindheit ist der schwierigsten Abschnitt im menschlichen Leben. Das Kind versteht die Eltern noch nicht, und auch die Eltern verstehen die Vorgänge im Kind nicht – zumindest in der Phase der Sprachlosigkeit des Kindes. Es selbst kann sich nicht ausdrücken außer durch Schreien. Die Eltern können das Schreien nicht eindeutig deuten, sie müssen versuchen herauszufinden, was das Schreien des Kindes ausdrücken will. Hier ist ein weites Feld für Missverständnisse, aus denen das Kind Rückschlüsse für sich zieht, deren Wahrheitsgehalt es aus Mangel an Kommunikationsfähigkeiten nicht überprüfen kann. Gleiches gilt aber auch für die Eltern. Insofern entstehen in der Kindheit Muster, die vom Kind selbst nicht hinterfragt werden können, aber trotzdem Verhaltensweisen ausbilden, die es sich später in vielen Bereichen nicht mehr erklären kann. All das aber kann in späteren Jahren korrigiert werden, wenn der heranwachsende und erwachsene Mensch die Möglichkeiten der Intelligenz, d.h. der Einsichtsfähigkeit, entwickelt hat. Er kann dann Einstellungen und Verhaltensweisen bei sich selbst hinterfragen, und er kann sich auch diese Einstellungen und Verhaltensweisen bewusst machen und verändern, mehr oder weniger. Der Mensch ist seiner Kindheit nicht hilflos und ohnmächtig ausgeliefert. Diese Vorstellung kommt mir in dem Beitrag des sehr geschätzten Kollegen Rottenfußer zu kurz, so wie sie auch in weiten Teilen der bürgerlichen Psychologie und vor allem der Hobbypsychologie sehr wenig als hoffnungsgebender Gedankengang vorkommt.
Dieses Bild der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins drückt sich auch in anderen Sichtweisen aus wie zum Beispiel der Behauptung: „Wer die Information kontrolliert, bestimmt die Realität.“
Das ist nur teilweise richtig. Die Realität ist weitgehend unabhängig von der Information. Die Erde war nie eine Scheibe, auch wenn sie es nach den damals vorhandenen Informationen hätte sein müssen. Sie war auch entgegen allen Informationen nie der Mittelpunkt des Universums. Aber die damaligen Informationen legten das nahe. Die Realität jedoch bestand in ihrer vorliegenden Form – unabhängig vom Weltbild der Menschen. Diese vermittelte Wirklichkeit war das Ergebnis nicht der Realität sondern der Deutung der damals vorliegenden Informationen. Und so ist es auch mit dem, was uns heute gelegentlich als Realität angeboten wird. Es ist eine Deutung der Information, die es auf dem jetzigen Stand der Wissenschaft gibt. Diese Deutung ist nicht unabhängig von Interessen, indem weggelassen wird, was mit der Deutung in Widerspruch steht, in den Vordergrund gestellt wird, was eigentlich für das Erkennen der Wirklichkeit nicht so wichtig ist. Und doch sind wir diesen Manipulationen nicht so wehrlos ausgeliefert, wie obiger Satz den Eindruck erweckt. Wäre das der Fall, wie könnten dann Zweifel entstehen an der vorgegebenen Realität. Es muss also auch noch etwas anderes geben, das unser Bild von der Realität bestimmt außer den Informationen. Dieses andere ist die Realität selbst, die unabhängig von den Informationen uns jeden Tag begegnet und sehr oft in Widerspruch zu dem steht, was uns als Realität vorgemacht wird. Diese Widersprüche sind im Moment sehr wirksam. Die aktuellen Vorgänge in der Welt stehen in immer krasseren Widerspruch zu dem Bild von der Welt, das man uns vermitteln möchte. Die Welt, die uns gezeigt werden soll, ist eine andere als die, die wir tagtäglich erleben. Das betrifft im Moment besonders die sogenannten westlichen Werte, die denen, die sie ständig wie eine Monstranz vor sich hertragen, immer mehr um die Ohren fliegen.
"Warum ist Angst der Schlüssel zur Beherrschung von Menschenmassen?" Angst ist EIN Schlüssel zur Beherrschung von Menschenmassen. Ein anderer ist die Begeisterung. Die Anhänger Hitlers hatten keine Angst, sie waren vielmehr begeistert. Aber das trifft nicht nur für Hitler zu, sondern auch für viele andere Führungspersönlichkeiten, die die Menschen begeistern konnten, ihnen Ausblick geben konnten in neue Welten und bessere Zeiten und nicht nur das. Sie waren auch in der Lage, ihnen den Weg dahin zu zeigen. Bei Hitler führte dieser WEg nicht in bessere Welten und Zeiten sondern in eine Katastrophe. DAs änderte aber nichts an der Begeisterung als Triebkraft bei jenen, die ihm zu glauben und zu folgen bereit waren.
Dass der Autor Raymond Unger seine Sicht allein auf die Angst als Mittel der Beeinflussung der Menschen verengt, wirft ein bezeichnendes Bild auf unsere Gesellschaft. Denn sie ist in unserem Kulturkreis offensichtlich so sehr verödet, dass sie als Antriebskraft nicht mehr wahrgenommen wird und noch weniger versucht wird, bei den Menschen zu entfachen. Es ist auch im Moment niemand zu sehen, der Begeisterung auslösen könnte und noch weniger, was eigentlich das Entscheidende ist, ist eine Idee vorhanden, die diese Begeisterung in der Gesellschaft oder zumindest in Teilen von ihr hervorrufen könnte. Die westlchen Gesellschaften sind ideenlos, ohne BEgeisterung, ohne einen Geist, der sie bewegt und entflammt. BEgeisterung überwindet die Angst. Aber wo keine Begeisterung herrscht, ist eigentlich nur Platz für die Angst.
Was ich immer noch gar nicht verstehe, woher kommen die, die mitten drin im Angstzustand plötzlich sagen können "Moment mal!", innehalten und dann systematisch ein Narrativ zu zerpflücken beginnen? Man mag vielleicht noch lange nicht fertig sein damit, auch sehe ich viele, die sich dann doch wieder in einem neuen Narrativ verfangen, dagegen darf man sich nie gefeit fühlen.
Trotzdem sah ich, um Extreme zu nennen, Menschen, deren Urvertrauen biografisch gesehen garantiert Defizite haben müsste, etwa ein Junkie, auch andere sog. "Psycho-Fälle", die den Corona-Nonsense keine Woche lang ernstnahmen. Und ich musste andererseits mitansehen, wie erfahrene, eigentlich authentisch selbstbewusst eingeschätzte, bisher bewundernswert kritische Menschen auf ein mal zu tragischen Figuren eingeknickt sind, als ob man ihnen die Luft ausgelassen hätte.
Da reibt man sich die Augen. Nein, ich komme da, jedenfalls bei manchen Personen, überhaupt nicht mit. Es wäre doch wichtig zu verstehen, was eigentlich die Gründe sind, die zu einer recht wirksamen "Manipulations-Resistenz" führen, und zwar gerade dann, wenn es drauf ankommt. Man kann ja dann versuchen, eben dies zu fördern, in Zukunft. Zum Beispiel bei sich selbst.
Bei denen , an die ich denke, ist mir bisher wenig an Gemeinsamkeiten aufgefallen, "Selbstvertrauen", "Bildung", "Status", "kritische Haltung" kommen vor, passen aber als Grund nicht zusammen. Da gibt's die selbstbewusste, vernetzte Universitätsdozentin, die eben schon was zu verlieren hat und vielleicht auch bisschen aufpasst, aber im Grunde geht sie dann bald erstaunliche Risiken ein. Da gibt's den schüchternen, depressiven Einzelgänger, der sich plötzlich traut, wildfremde Leute anzusprechen. Oder eben gar den Junkie, der sich eigentlich wirklich für ganz andere Dinge und Baustellen interessiert.
Wie war das möglich in der Situation???
Woher die kommen? Die kommen nirgendwoher, die waren schon da, bevor sie »Moment mal« gesagt haben. Sie wissen sicher, was Lippenbekenntnisse sind. Und ganz sicher wissen Sie auch, daß vorgespielte Selbstsicherheit durchaus überzeugen kann, sich im Ernstfall dann aber doch sehr häufig selbst entlarvt. Ganz ohne Zweifel wissen Sie auch, daß der menschliche Charakter kein auf Hochglanz polierter Spiegel der menschlichen Psychostruktur ist, sondern vielmehr ein Kuddelmuddel von nebeneinander existierenden Ambivalenzen, ein Patchwork verschiedenster Antagonismen, das einmal diese, einmal jene Eigenschaft hervorhebt und zur Wirksamkeit bringt.
Die allermeisten Menschen machen sich selbst und ihrem sozialen Umfeld vor, innerlich gefestigt und weitgehend frei von Zweifeln zu sein. Doch allzu häufig sind es dann genau jene angeblich starken Charaktere, die angesichts großer Herausforderungen zusammenbrechen. Von den wirklich starken Charakteren hört und sieht man gewöhnlich nichts, denn diese Leute sind nicht daran interessiert, Aufsehen zu erregen. Der Scheincharakter dagegen schon, denn er ist darauf angewiesen, entgegen der wahrgenommenen eigenen inneren Realität von ALLEN als stark und unerschütterlich wahrgenommen zu werden.
Lesen Sie z.B. WIR ALLE SPIELEN THEATER – Die Selbstdarstellung im Alltag von Erving Goffman, wenn Sie mehr über Ihr eigenes Rollenverhalten wie auch über das Ihres sozialen Umfeldes erfahren wollen:
http://www.irwish.de/PDF/_Soziologie/Goffman_Erving/Goffman_Erving-Wir_alle_spielen_Theater-Die_Selbstdarstellung_im_Alltag.pdf
Im dem von Herrn Rottenfußer empfohlenen Vortrag von Unger betont der Vortragende, daß es einen Vorsatz gäbe, die Gesellschaft als ganze anzugreifen, zu zersetzen und sich bis zum Totalitarismus untertan zu machen. Und entgegen der allgemein üblichen Frage an dieser Stelle, wer oder welche Leute das seien, die diesen Vorsatz in die Tat umsetzen, fragt Unger danach, wie die Menschen beschaffen sind, die so anfällig für Propaganda sind, daß der Angriff bei ihnen auffallend gut funktioniert (ab ca. Minute 3).
In unserer Gesellschaft gibt es kaum authentische Menschen, die genau oder nahezu so sind, wie sie sich darstellen. Das hängt damit zusammen, daß die allermeisten heute lebenden Menschen in ihrer Kindheit schwer traumatisiert wurden und als Folge davon ständig von Angst begleitet werden. Auch und gerade weil sie sich das nicht eingestehen können – das Resultat wäre so schmerzhaft, daß sie es nicht ertragen könnten –, leben sie in der irrationalen Überzeugung, stark und unerschütterlich zu sein. Die Macht, die sie über andere erringen, fördert diese Illusion.
Doch ist das eine Scheinstärke, die auf Anpassung und Gehorsam basiert. Wie oben bereits ausgeführt, brechen sie dann bei wirklichen Herausforderungen zusammen bzw. lenken ihre eigenen, unbewußten Ängste nach außen, wo sie moralisierend Menschen in ihrem Umfeld gewisser Defizite beschuldigen. Mit dieser moralisierenden Haltung macht man Karriere, mit einer authentischen Darstellung eher nicht, weil man damit gegen herrschende Narrative, gegen Normen und ungeschriebene gesellschaftliche Regeln verstößt und als »Andersdenkender« gewöhnlich vermeidet, allzu sehr aufzufallen.
Schon klar. Ich habe diese Erläuterung schon verstanden, aber doch immer noch Zweifel, ob es tatsächlich so ist.
Ich selbst habe jedenfalls viele Ängste und halte mich nicht für mutig. Echt nicht, ich habe ganz andere Qualitäten. Ich habe mir auch Angst machen lassen. Das hat bei mir super funktioniert. Einige Wochen.
Trotzdem, und keineswegs umgeben von lauter "Querdenkern", im Gegenteil, hat es dann nicht lange gedauert, bis mir in groben Zügen klar gewesen ist, was läuft.
Die genannten Beispiele sind real. Dann kann ich also davon ausgehen, dass der Junkie (diese Person hat mich besonders überascht) in seiner inneren Orientierung viel gefestigter ist, jedenfalls viel "echter", als der bis dahin sehr gefestigt, authentisch und in sich ruhend, kritisch und selbstreflektierend erscheinende Therapeut, zu dem ich den Junkie früher guten Mutes geschickt hätte, wenn das angefragt gewesen wäre.
Ich denke, Sie haben Recht, es muss so sein.
Es fällt wirklich nicht leicht, gesellschaftlich antrainierte, aber falsche Zuordnungen, Maßstäbe und Vorurteile abzulegen.
Der Süchtige, den ich meine, hat auch, abgesehen von der speziellen Schwäche, die offensichtlich ist, wenig an sich, dass irgendwie "gegen ihn spricht". Das Vorurteil gegen solche Menschen ist massiv. Mag öfters wohl auch zutreffen, aber jeder Mensch ist eben ein Individuum…
Aus meiner Sicht sollte man den menschlichen Charakter nicht aufgrund seiner Konsumgewohnheiten und -abhängigkeiten beurteilen, denn schließlich gibt es Süchtige bzw. Suchtverhalten auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen nur denkbaren Formen und Farben. Somit ist ein Junkie nicht nur ein Heroinsüchtiger, er könnte auch von anderen Stoffen und Handlungsweisen abhängig sein. Insbesondere die Sucht nach Macht betrifft fast alle Menschen, und je mehr Macht sie über andere erringen, desto süchtiger werden sie, desto stärker festigt sich ihre Sucht.
Selbst bin ich z.B. süchtig nach Kaffee und muß mich daher stark kontrollieren, nicht zuviel davon zu trinken. Etwa vor 35 Jahren begann ich eine Alkoholsucht zu entwickeln, gepaart mit dem Drang, abends einen Joint zu rauchen. Soweit ich das heute überblicke, waren das Versuche, mein Anderssein, also meine Abweichung vom gesellschaftlichen Konsens, von gültigen Narrativen und streng überwachter Konformität zu kompensieren, indem ich einfach abzuschalten versuchte (was nicht wirklich gelang). Eigentlich bin ich erst davon losgekommen, als ich mich, in die Zukunft projizierend, einerseits mit Leuten verglich, die wirklich auffällig alkoholkrank waren, andererseits mit den Menschen in meinem Umfeld, die sich durch täglichen Haschischkonsum nicht weiterentwickelt haben. Das erzeugte in mir große Angst, selbst einst so zu enden, und ich unterbrach den Drogenkonsum für längere Zeit. Das Kiffen kann ich mir heute nicht mehr leisten, weil ich zum einen in Armut lebe und zum anderen meinen scharfen Verstand nicht einbüßen möchte. Texte, wie ich sie hier und andernorts schreibe, könnte ich unter Alkohol- oder THC-Einfluß nicht fabrizieren, und auch das Lesen anspruchsvoller Sachliteratur wäre damit nicht möglich.
Gegen Ende letzten Jahres begann ich, Anne Wilson-Schaef zu lesen, eine amerikanische Psychotherapeutin, die sich auf Suchtverhalten spezialisiert hat. In ihrem Buch IM ZEITALTER DER SUCHT (1) behauptet sie, daß wir in einem regelrechten Suchtsystem leben. Dabei definiert sie das Suchtproblem sehr viel weiter über substanzgebundene Abhängigkeiten hinaus.
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… ein zwanghaftes Verhältnis zum Glücksspiel, zur Sexualität, zur Angst, zur Arbeit oder zur Religion. Fernsehen kann genauso zur Sucht werden wie Jogging oder Bücher-Sammeln. All diese Fähigkeiten sind nur dann begreifbar, wenn neben der einzelnen betroffenen Person auch das gesamtgesellschaftliche System betrachtet wird, denn: »Das Individuum trägt das System in sich.« Suchtbeziehungen sind nicht abweichendes Verhalten in unserer Gesellschaft, sondern ein Spiegel unserer zerstörerischen und krankmachenden Normen. »Die Gesellschaft verkörpert ein System, und zwar ein Suchtsystem. Es trägt alle Merkmale und vollzieht alle Prozesse, die für den Alkoholiker oder Süchtigen typisch sind. Es funktioniert aufgrund genau derselben Mechanismen.« Wer also in einem Suchtsystem lebt, braucht selber keinen Drogenmißbrauch zu betreiben, um die Verhaltensweisen eines Drogenabhängigen zu zeigen. Schaef weist in einem ganzheitlichem Modell anhand zahlreicher Beispiele Wege aus der Abhängigkeit; zwar bezieht sie immer wieder auch den einzelnen Süchtigen und das Problem der Co-Abhängigkeit mit ein, doch geht es ihr hauptsächlich darum, daß die destruktiven Strukturen der »Suchtgesellschaft« abgelöst werden von einem lebensbejahenden Bewußtsein, denn »das Suchtsystem ist in seiner Orientierung lebensfeindlich und unlebendig«.
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In ihrem Buch DIE FLUCHT VOR DER NÄHE (2) schreibt sie darüber, daß Liebe, die süchtig macht, keine Liebe sei, und begründet das ausführlich.
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Schon vor Jahren schrieb der berühmte jüdische Theologe Martin Buber ein Buch über Beziehungen mit dem Titel ICH UND DU. Er beschrieb die allgemein übliche Art von Beziehungen als Ich-Es-Beziehung, in der wir den anderen als lebloses, zu kontrollierendes und manipulierendes Objekt behandeln, damit »unsere Bedürfnisse befriedigt« werden. Ich glaube, er redete von Suchtbeziehungen und deren Funktionsweise. (Obwohl diese in seiner Terminologie etwas genauer als Es-Es-Beziehungen bezeichnet werden könnten.) Die Ich-Du-Beziehung ist eine bindende Beziehung; sie läßt sich am ehesten durch die Bindung veranschaulichen, die wir mit unserem Gottesprozeß haben. In dieser Beziehung haben die beiden oder alle in sie verstrickten Personen eine sich ständig erweiternde, im Prozeß befindliche Beziehung; sie wird mit Respekt behandelt, einem Prozeß, der die Spiritualität fördert und lebend und lebendig ist. Niemand wird mehr wie ein Objekt behandelt, weder das Selbst noch der andere. Tatsächlich erlebt man ein Gefühl der Einheit.
Das Selbst und andere Menschen werden wie ein zu ehrendes und respektierendes »Du« behandelt. Meiner Ansicht nach ist dieses Ich-Du-Konzept eine Umschreibung für Nüchternheit. Sobald wir aus unserer Nüchternheit heraus agieren (Prozeß der Spiritualität), wird jedes Leben – unser eigenes eingeschlossen – wie ein Du behandelt, und Beziehungen sind eine Widerspiegelung des Heiligen. Jedem von uns steht diese Möglichkeit offen, wenn wir nur bereit sind, unseren Süchten ins Gesicht zu sehen und zu genesen. Paradoxerweise hat uns unsere Flucht vor der Nähe vielleicht in dieses Du-Verhältnis mit uns selbst und dem gesamten Universum geführt. Wir brauchen nur unserem Genesungsprozeß zu folgen, dann ist alles ganz einfach – auch wenn es nicht immer leicht ist.
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Wie hat Erich Fromm sich ausgedrückt? »Die Normalsten sind die Kränkesten. Und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt, aber es ist mir ganz ernst damit … Der Mensch, der krank ist, der zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, daß sie in Konflikt kommen mit dem Muskeln der Kultur und daß sie durch diese Friktion Symptome erzeugen.« (3)
Fromm will damit sagen, daß all jene, die durch Überanpassung und Kompensation ihrer wahren Bedürfnisse mittels Ausagieren an anderen quasi davon befreit sind, Symptome zu erleiden. Anders ausgedrückt bleiben jene, die sich nicht so stark anpassen und nicht ihre inneren Konflikte nach außen tragen, um sie an anderen abzureagieren, in Kontakt mit sich selbst und haben dadurch die Chance auf Heilung.
(1) http://irwish.de/PDF/Psychologie/Wilson_Schaef_Anne/Wilson_Schaef_Anne-Im_Zeitalter_der_Sucht.pdf
(2) http://irwish.de/PDF/Psychologie/Wilson_Schaef_Anne/Wilson_Schaef_Anne-Die_Flucht_vor_der_Naehe.pdf
(3) https://www.youtube.com/watch?v=VPceEuVpII4
Sie wollen uns Schuldgefühle einreden.
Das ist klar. Wir sollen brav sein. Elektroautos, Solareinrichtungen, Wärmepumpen….kaufen. Funktioniert nicht, kann nicht bei jedem funktionieren
Eine Methode der Eliten von vielen.
Erziehung, Eltern spiel eine Rolle. Aber das ist doch kein Automatismus. Ist nicht für die zukünftige Entwicklung fest, unabänderlich.
Man kann eine gewisse Anregung von diesem Artikel bekommen. Mehr nicht.
I
Anekdoten, das heutige Leben der Jugend hat andre Maßstäbe ……."cool sein"
1. "Generation Schuldgefühl?" 2. "Gott kennt Gnade, woke Moralisten nicht." Müsste es nicht heißen: "Schuldig – bis in alle Ewigkeit?" Auch bei meiner Großnichte frage ich mich, wo diese Selbstgeißelung, diese Selbstaufgabe hinführen soll. Gibt es gar keine Handhabe gegen dieses Narrativ?
Die herrschenden Gedanken sind meist die Gedanken der Herrschenden und diese haben keinesfalls ein Interesse daran die Steuerung über Schuldgefühle aus der Hand zu geben. Vielseitige Information kann der erste Schritt dazu sein auch andere Ansichten erst einmal zuzulassen.
"Auch bei meiner Großnichte frage ich mich, wo diese Selbstgeißelung, diese Selbstaufgabe hinführen soll."
Werter Norbert, erlauben Sie mir, die Frage anders zu stellen, denn wo sie hinführen soll, kann keiner wissen. Das würde ja bedeuten zu wissen, was die Zukunft bringt, und das weiß keiner von uns.
Die Frage ist eher: "Wo kommt das HER, diese Selbstaufgabe, mehr noch die Selbstaufopferung". Die Menschen, die sich erniedrigen, die Scheiße ihres Hundes, für den sie alles tun würden, mit den Händen zu entsorgen. Die Eltern, die sich von ihren Kindern tyrannisieren lassen und sich und ihr eigenes Leben für sie aufopfern, was ich aus dem eigenen Umfeld kenne. Die jungen Leute, die sich an den Straßen festkleben, weil sie glauben, sie könnten Vorbild sein für andere und damit den Planeten retten. Oder auch jene, die auf der Seite der Ukraine sich als freiwillige Kämpfer gemeldet haben, weil sie glauben für eine gerechte Sache zu kämpfen. Es gäbe noch mehr Beispiele.
Der innere Antrieb ist bei den meisten ein zutiefst menschlicher. Die Menschen wollen gut sein, sie wollen menschlich sein. Denn das macht das Menschsein aus. Und sie tun das in den Formen, wie Gutsein von der Gesellschaft gesehen und vermittelt wird. Es kommt hinzu, sie wollen auch allen anderen zeigen, dass sie gut sind. Denn wer alles tut, was von der Gesellschaft als gut angesehen und gefördert wird, der ist unangreifbar. Das darf dabei nicht vergessen werden. Man will sich nicht für sein Verhalten angreifbar machen. DAs macht den Erfolg der Grünen aus. Sie haben es geschafft, mit ihren Moralvorstellungen Standards in der Gesellschaft zu setzen, gegen die man nicht verstoßen kann, weil man sonst Gefahr läuft, als Rassist, als Rechter, als Sexist, als Umweltsau oder homophob an den Pranger gestellt zu werden.
Kommt hinzu, dass die Hintergründe dieser Moralgebote im Grunde vernünftig sind. Es ist vernünftig, den eigenen Kindern einen guten Start ins Leben zu geben. Es ist vernünftig, Umwelt und Tiere zu beschützen und zu schonen. Es ist vernünftig, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen und sie nicht absichtlich zu verletzen.
Das sehen die meisten Menschen ein und deshalb ist es schwierig, den Unterschied zu erkennen zwischen vernünftigem und angemessenem Verhalten und der moralisierenden Vermittlung von Schuldgefühlen. Denn das ist die Kehrseite des Wunsches, menschlich und gut zu sein. Wie geht die veröffentlichte Meinung mit jenen um, die Zweifel haben und andere Vorstellungen von dem, was menschlich und gut ist? Es ist menschlich und gut, Kriegsopfer zu beklagen und die Einstellung von Kampfhandlungen zu fordern. Aber das gilt dann für ALLE, nicht nur für die eigenen Favoriten. Das aber ist, was bei diesem zur Schau getragenen Gutmenschentum so sauer aufstößt. Diejenigen, die das verlogene Gutmenschentum wie eine Monstranz vor sich hertragen, messen mit zweierlei Maß. Sie beklagen die Opfer der Hamas, sind aber sehr zurückhaltend bei dem Opfern des israelischen Einmarsches im Gazastreifen. Sie beklagen die ukrainischen Oper des russischen Einmarsches, machen sich aber – wie Olaf Scholz – lustig über die Tausenden von Toten im Donbass vor Beginn dieses Einmarsches.
Das macht es so schwierig, sich den Schuldgefühlen zu entziehen. Da hilft eigentlich nur eins: Bewusstmachung. Das ist der Kampf von Vernunft und Besonnenheit gegen die Emotionalisierung und Verwirrung. Der WEg dahin führt über das Erkennen der Wirklichkeit. Dieser Weg ist der schwierigste und er ist erbarmungslos. Denn er verlangt auch das Aufräumen mit seinen eigenen Einbildungen. Geht es mir wirklich nur um die Rettung des Planeten, wenn ich mich auf die Straße klebe, ober gehts mir nicht auch darum, den anderen zu zeigen: Hey, Leute, seht ich tue was – und IHR? Also geht es nicht auch ein wenig darum, den anderen zu zeigen, dass ich besser bin als sie? Und geht es mir wirklich um die Rettung des Planeten, wenn ich die Ansichten der Zweifler und die Erkenntnisse anderer Wissenschaftler vom Tisch wische und als rechts ablehne? Geht es mir wirklich darum, Vorbild zu sein, aber andererseits nicht wahrhaben zu wollen, dass die überwiegende Mehrheit dieses Vorbild ablehnt, es gar nicht von mir verlangt, noch nicht einmal wünscht? Da wird sich auf das Selbstbild eines manchen Gutmenschen sehr schnell der Schatten des Eingebildetsein legen, wenn also die Wirklichkeit durchdringt durch die Mauer, mit der man sich bisher von ihr abgeschottet hat, um eines zu nähren: Die Vorstellung, nicht nur gut sondern besser zu sein.