Ein Kommentar von Dirk C. Fleck.
Der Frühling hat sichtlich Spaß daran, dem flüchtenden Winter auf die dreckige Scherpe zu springen. In drei Wochen ist die Fassade des Jugendstilhauses gegenüber hinter dem Blätterwerk der erblühenden Kastanien verschwunden, die sich zur Siegesfeier dann hunderte von weißen Kandelabern aufsetzen, welche bald darauf dichten Blütenschnee auf den Asphalt rieseln lassen. Was für ein Schauspiel, das wir jedoch nur in Bruchstücken wahrnehmen, da wir in einer anderen Zeit lagern. In der Menschenzeit. Und die verläuft anders als zum Beispiel die Pflanzenzeit.
Zweieinhalb Meter ist meine Yucca in den letzten acht Jahren gewachsen. Der Wachstumsprozess war mir zu keiner Zeit bewusst geworden. Die Palme war immer so groß, wie ich sie gerade vorfand. Angenommen, man hätte sie über acht Jahre hinweg gefilmt, dann stünden jetzt 70.000 Stunden Material zur Verfügung. Aufschluss über ihr Wachstum aber gäbe der Film nicht. Eine Menge anderer Dinge würde man in der Wiederholung sehen. Mich zum Beispiel, ich wohne ja hier. Ich würde ständig durchs Bild laufen, man würde mich essen, arbeiten und lieben sehen, man würde Tage und Nächte vorbei streichen sehen, ganze Jahre, immer schön synchron, aber die Palme würde man nicht wachsen sehen. Dazu müsste man den Film durch den Zeitraffer jagen. Erst wenn man die acht Jahre auf eine Stunde verdichtete, könnte man die Yucca sich erheben sehen. Das wäre dann immer noch ein bedächtiges Aufbäumen. Zentimeter für Zentimeter würde die Pflanze ihre Größe entfalten, während die reale Zeit zu einem nervösen Lichtgeflacker verkäme. Von mir, der ich mit der Palme gelebt hatte, fehlte gar jede Spur. Meine Bewegungen wären nicht registriert. Ich wäre allenfalls ein dubioser Nebel, der sich kreisend über das Bild bewegte, ich wäre ausgelöscht in der Welt des behutsamen Wachstums. Obwohl doch beide, die Pflanze und ich, zwei körperliche Wesen waren, obwohl wir beide in derselben Zeit am selben Ort existierten, wäre ich im Zeitraffer unsichtbar. Für die Yucca war ich eine Ahnung, ein Hauch, mehr nicht. Sicher gibt es auch für uns Menschen handfeste Wesen, die wir auf Grund ihrer anders gearteten Bewegungen, nicht zu erkennen vermögen, während sie ihrerseits ganz praktisch mit uns umgehen. Wir nennen sie Geister…
Übrigens warte ich seit Wochen darauf, dass meine Palme gegen die Zimmerdecke stößt. Obwohl ich von Pflanzenpflege keine Ahnung habe, gedieh sie zu jenem Prachtexemplar, das meine Besucher immer wieder in Erstaunen versetzt. Niemand mag glauben, dass dies ausschließlich mit verkalktem Leitungswasser möglich war. Ganze zwei Mal habe ich bisher die Erde gewechselt und die Lichtverhältnisse in einer Hamburger Mietwohnung dürften auch nicht nach dem Geschmack einer Tropenpflanze sein. Oft werde ich gefragt, wie häufig ich die Palme gieße. Ich antworte: je nach Gefühl. Es ist in der Tat so, dass ich keinen Gießplan für meine Pflanzen habe, die unter der Schirmherrschaft der Yucca prächtig gedeihen. Ich mache mir noch nicht einmal Gedanken über die Pflege. Ich weiß, wann sie Wasser brauchen, ich folge einfach ihrem Ruf. Unsere Kommunikation ist aber nicht aufs „Essenfassen“ beschränkt. Wenn ich mit einer Idee schwanger gehe, die es zu formulieren gilt, wenn ich dabei bis in die letzten Winkel der Wohnung tigere, um meinen Kopf zu kühlen, dann ertappe ich mich gelegentlich dabei, wie ich eine Pflanze berühre, ihre Blätter auf Schadstellen untersuche, ihr den Staub abwische, sie ins rechte Licht rücke. Die Pflege meiner Pflanzen geschieht unbewusst, ohne dass ich dabei nachlässig wäre. Im Gegenteil: in diesen meditativen Augenblicken bin ich ihnen sehr nah. Ich erkenne ihre Bedürfnisse und gehe auf sie ein. Als Dank saugen sie jeden gedanklichen Ballast aus mir, sodass ich mit einem klaren Ergebnis an den Laptop zurückkehre. Ich benutze keine Worte, wenn ich mit ihnen spreche, ich richte nicht einmal formulierte Gedanken an sie. Unser Verständnis funktioniert auf einer anderen Ebene, es liegt jenseits aller Missverständnisse. Ich vertraue den Pflanzen. Sie richten sich ausschließlich nach dem Licht, dem inneren wie dem äußeren. Ich spüre ihre Seele. Nur die Steine wissen mehr als sie. Seit Wochen warte ich darauf, dass meine Palme an die Zimmerdecke stößt. Sie tut es nicht, sie hat aufgehört zu wachsen. Einen Zentimeter vor der Schmerzgrenze.
Sie merken vielleicht, dass ich mich in Gedanken und Betrachtungen verliere, die, wenn man sie mit einem Datum versehen würde, für nachfolgende Generationen keinerlei Rückschlüsse auf die Umstände zuließen, unter denen sie notiert wurden. Angenommen sie wären ein noch lesbarer Bestandteil eines verkohlten Tagebuchs, von dem man sich Aufschlüsse über den Wahnsinn erhoffte, der zu jener Zeit in Europa tobte, diese letzten Texte wären wenig hilfreich. Da hätte man schon meine früheren Arbeiten und Bücher aus den Trümmern klauben müssen, da stand alles geschrieben. Aber jetzt, wo die Motorik der Dummheit so richtig ins Laufen gekommen ist, lasse ich ab. Mein Empörungspotential ist erschöpft.
Das Böse ist schrecklich, aber es hat keine Tiefe, formulierte Hannah Arendt im Jahr 1963 in einem Brief an Gershom Scholem, in dem sie von der „Monotonie des Bösen“ sprach. „Dieses Böse ist verdammt, sich ewig zu wiederholen, mehr kann es nicht. Tief und radikal ist immer nur das Gute,“ schlussfolgerte sie.
Ich empfange ja den Newsletter der von mir sehr verehrten Schriftstellerin Liane Dirks („Sich ins Leben schreiben“), über den ich an anderer Stelle hier schon geschrieben habe. Der vom April dieses Jahres trägt den Titel „Weiter leuchten!“. Das nämlich war ihre Antwort auf die Frage „Was sollen wir denn jetzt machen, bei dieser Weltlage?“, die man in ihrem letzten Schreibseminar gestellt hatte. Liane Dirks verweist auf Goethe, der im fortgeschrittenen Alter vom Menschen als „kollektives Wesen“ sprach. Und dieses Wesen spürt das Leid und Glück der Anderen in sich, er muss inmitten dieser Spannbreite von Macht und Ohnmacht seine eigene Mitte finden. „Die ist im Herzen“, schreibt Liane Dirks, „dort, wo sich Verstand und Mitgefühl paaren, um immer wieder neu zu feiern, um was es hier geht: die Größe und die gewaltige, geheimnisvolle Schönheit des Lebens selbst, dessen Teil wir sind.“
Bei allem Irrsinn da draußen, bei aller Plandemie und Kriegslüsternheit einer durch geknallten Machtelite und bei aller Gehirnwäsche, die diese mit ihrer gleichgeschalteten Medienmaschine den Massen verpassen, gilt es mehr denn je, die Gestaltungshoheit über unser Leben zurück zu erobern. Immer wieder, Tag für Tag. Dabei sollten wir eines nicht vergessen: es besteht kein Zweifel daran, dass wir trotz aller Ängste und Unsicherheiten immer zuhause sind, wo denn auch sonst. Wir müssen nur ein Gefühl dafür entwickeln.
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Nomad90 / shutterstock.com
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Beim Lesen von Texten Flecks koennen mir manchmal Traenen kommen, mal neue Gedanken, die da gar nicht stehen, mal nix. Beim Lesen anderer Autoren koennen mir auch mal die Augen zufallen, ich mich wie elektrifiziert fuehlen oder angewidert sein.
Texte sind halt Botschaften aus der moeglichen Fuelle von Leben. Wie Bilder, Skulpturen, Tonstuecke.