Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von HIStory!
Mein Name ist Hermann Ploppa.
Heute setzen wir unsere Erzählung über das zentrale Gehirn und Nervenzentrum der US-amerikanischen Finanzkapitalismus, den Council on Foreign Relations, fort. Wir hatten in einer früheren Folge von HiStory diese Denkzentrale in New York seit den Anfängen im Jahre 1921 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges beschrieben.
Der Council on Foreign Relations, also der Rat für Auswärtige Beziehungen, wurde von mächtigen Bankiers, Konzernherren, Politikern, Wissenschaftlern und Medienleuten gegründet, um die Außenpolitik der USA professioneller und effektiver zu gestalten. Der Council on Foreign Relations hatte einerseits darauf geachtet, dass sein Personenkreis klein und handverlesen blieb. Andererseits hatten die Council-Leute auch immer der Öffentlichkeit und der Regierung ihre Vorstellungen von guter Politik durch eigene Veröffentlichungen mitgeteilt. Mit der Zeit klappte die Verzahnung dieser exklusiven Denkfabrik mit Regierung und Parlament immer besser. Im Zweiten Weltkrieg hat dann der Council on Foreign Relations die Weltordnung nach dem Krieg formuliert und die Nachkriegsordnung entscheidend geprägt. Nachdem im Council nicht klar war, ob man die Sowjetunion in die kapitalistische Weltordnung mit einbeziehen sollte, setzte sich dann doch die Meinung durch, dass man gegenüber dem einstigen Kriegsverbündeten Sowjetunion eine konfrontative Haltung einnehmen sollte. Mittlerweile war die Macht des Council on Foreign Relations so groß geworden, dass ein Nationaler Sicherheitsrat eingerichtet wurde, der an Regierung und Parlament vorbei die eigentliche Regierung darstellte.
Der Council on Foreign Relations drang nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg tief in den Regierungsapparat der USA ein. Die Vision des Council on Foreign Relations-Vordenkers Walter Lippmann war Wirklichkeit geworden: Eine diskret agierende neue Kaste von Politikberatern ignorierte weitgehend die Regeln der demokratischen Gewaltenteilung. Der Nationale Sicherheitsrat traf die Schlüsselentscheidungen, fernab jeder parlamentarischen Kontrolle.
Mit dem 1952 neu ins Amt gewählten US-Präsidenten Dwight David Eisenhower regierte es sich noch wesentlich einfacher als unter seinem Amtsvorgänger Harry Truman oder gar unter dessen Vorgänger Franklin Delano Roosevelt. Denn Eisenhower war ebenfalls Mitglied im Council on Foreign Relations.. Ihm zur Seite stand John Foster Dulles, seines Zeichens Council on Foreign Relations-Mitglied und nebenbei neuer Außenminister. Auf dem Fundament des Geheimkabinetts und der gigantischen Vervierfachung des Rüstungsetats im Jahre 1950 verschärfte Außenminister Dulles die Gangart gegenüber der Sowjetunion. An die Stelle des Containments, also der Einhegung der Sowjetunion in ihren eigenen Machtbereich, trat nun die Doktrin der „massiven Vergeltung“.
Bezeichnenderweise wählte John Foster Dulles ein Dinner des Council on Foreign Relations am 12. Januar 1954 in New York, um der durch Rundfunk und Fernsehen anwesenden Öffentlichkeit zu verkünden: „Regionale Verteidigung muss verstärkt werden durch die ergänzende Abschreckung der massiven Vergeltungskraft.“ „Massiv“ meint: nukleare Attacke. Wenn also die Rote Armee Westberlin einnehmen sollte, würde das durch einen atomaren Gegenschlag auf Moskau von den USA quittiert. Eine solche Zuspitzung spannte die gesamte Welt an den beiden Polen USA und Sowjetunion auf.
Doch zu den Kennzeichen des Council gehört die unermüdliche Überprüfung der eigenen Produkte. Auch das Produkt „massive retaliation“ des unendlich mächtigen Wall Street-Anwaltes Dulles wird von der Arbeitsgruppe Nuclear Weapons and Foreign Policy unter der Leitung des aufstrebenden Henry Kissinger unter die Lupe genommen – und dann publikumswirksam verworfen. Denn Kissinger stellt die Befunde in einem Buch vor, das 1957 in die Bestsellerlisten vorrückt <1>.
Kissingers Schlussfolgerung: Wenn die USA bei jedem kleinen Regionalkonflikt zwischen den Supermächten gleich mit der Apokalypse drohen, dann aber doch vor der letzten Konsequenz zurückschrecken, verliert die amerikanische Supermacht rasch an Glaubwürdigkeit. Das hatte sich kurz zuvor im Jahre 1956 gezeigt. In Ungarn gab es einen Volksaufstand, den sowjetische Panzer blutig niederschlugen. Die Amerikaner hatten vollmundig über Radio ihre Hilfe für die Aufständischen angekündigt. Es passierte aber rein gar nichts. Das war nicht gut für das Image der damaligen Supermacht USA. Das Konzept des „Alles oder Nichts“ wurde der Lächerlichkeit preis gegeben. Kissinger erarbeitete mit seiner Studiengruppe das Konzept der „Flexible Response“, also zu Deutsch: der flexiblen Antwort. Wenn jetzt die Sowjetunion den USA in die Quere kommen sollte, würde man erst mal Diplomaten vorschicken um zu fragen, was das soll. Falls das nicht fruchtete, würde man auch mal mit konventionellen Waffen winken. Wenn aber auch das nichts brachte, könnte man als letzte Antwort auch Atomwaffen einsetzen.
Doch ein weiteres Motiv dürfte beim Council on Foreign Relations ausschlaggebend für die flexible Wende gewesen sein. Council on Foreign Relations-Geschäftsleute wie Harriman oder Rockefeller hatten die Erfahrung gemacht, dass sich mit kommunistischen Staaten wunderbare Geschäfte abschließen ließen. War es nicht viel besser, hinter den ideologischen Äußerungen der kommunistischen Staaten jeweils nationalistische Interessen erkennen zu können?
Kissinger kam mit seiner Philosophie des „außenpolitischen Realismus“ wie gerufen. Und so interpretierte Kissinger die Weltlage um 1960 als ein Gleichgewicht der beiden Großmächte USA und Sowjetunion, zu denen sich jetzt die Volksrepublik China gesellte. Wenn die USA sich mit China anfreundet, wird die Sowjetunion gezwungen sein, einer amerikanisch-chinesischen Übermacht in vielen Punkten nachzugeben. Die Aussicht auf einen erweiterten kapitalistischen Weltmarkt sowohl mit der Sowjetunion als auch mit China gelangt erneut in den Mittelpunkt der Council-Planspiele.
Nun hätten sich die Strategen des Council on Foreign Relations auf ihren Lorbeeren ausruhen können: ausländische Staatsgäste besuchten, vor dem Stelldichein beim Präsidenten, zuerst die Council-Zentrale in New York, um „von Angesicht zu Angesicht mit den einflussreichsten Männern des Landes geredet“ zu haben. <2> Staatsmänner wie Chruschtschow oder Kwame Nkrumah publizierten in der Hauszeitung des Council, den Foreign Affairs. Und wer im Bereich Außen- oder Sicherheitspolitik in Washington was werden wollte, musste seine Karriere beim Council, „dieser Schule für Staatsmänner“, beginnen. Der Council on Foreign Relations stellte das Scharnier dar, durch das die Interessen der New Yorker Finanzwelt immer im Weißen Haus durchgesetzt wurden, egal ob Demokraten oder Republikaner regierten. Dazu wusste ein Insider zu berichten „So wird inoffiziell die Kontinuität gewahrt, wenn in Washington die Wache wechselt.“ <3>
Doch mit der Zeit machte sich sogar beim Council on Foreign Relations eine krisenhafte Verunsicherung breit. Der Aufstieg der Bürgerrechtsbewegung irritierte genauso wie die nicht zu übersehende Stagnation der US-Militärmacht in Vietnam und der damit einher gehende Volkszorn in den USA selber. Also raffte sich Anfang der 1970er Jahre der Council zu einer „drastischen Generalüberholung“ der Weltordnung von Bretton Woods auf. Die seit der Konferenz von Bretton Woods im Jahre 1944 für alle Länder der Welt gültige Deckung des Dollars durch Gold wurde 1973 offiziell aufgekündigt. Wie sollte es in der veränderten weltpolitischen Lage weitergehen? Die klugen Köpfe wurden zusammen gerufen, um im „Projekt 1980“ Wege aus der Sackgasse zu weisen. Das „Projekt 1980“ sollte in zahlreichen Arbeitsgruppen eine schonungslose Bestandsaufnahme anfertigen sowie als Zukunftswerkstatt die Welt von morgen entwerfen.
Als erstes wirft der Council on Foreign Relations mit seinem neuen „Projekt 1980“ Kissingers Theorie vom Gleichgewicht der Mächte über Bord. In einer Zeit, in der multinationale Konzerne bereits die Umsatzgröße mittlerer Nationalstaaten erreicht hatten und durch die Beschleunigung der internationalen Geldflüsse Konzerne manövrierfähiger waren als Staaten, da konnten nationale Regierungen nicht mehr das erstrangige Subjekt des Handelns darstellen. Internationale Akteure arbeiten quer durch die nationalen Grenzen. Die Rede ist jetzt von der „Interdependenz“. Das meint die gegenseitige Abhängigkeit unterschiedlichster Akteure über Grenzen hinweg. Eine solche Welt kann nur noch durch internationale Apparate wirkungsvoll gehandhabt werden.
Die erste Konsequenz aus der Interdependenztheorie ist, dass der Council sich als Trilaterale Kommission ausweitet. Trilateral steht für die drei Seiten, die man nun fest zusammenschweißen will: USA, Europa und Japan. Council on Foreign Relations und Trilateral Commission dehnen ihren Aufgabenbereich angesichts des Bedeutungsverlustes der Nationalstaaten auf die Bereiche Innenpolitik und nationale Wirtschaftsordnung aus.
In der stimulierten, synchronisierten Weltarena treten viele neue Akteure in Erscheinung. Sie alle fordern Teilhabe an der Macht. Miriam Camps entwickelt im Auftrag des Council on Foreign Relations Vorschläge, wie das befürchtete Chaos durch zu viele Mitspieler auf der Weltbühne vermieden werden kann. Dass z.B. Tonga in der UN-Vollversammlung dasselbe Stimmrecht hat wie die USA, führe nur zur Blockade. Man müsse sich aufraffen, einige Spieler auszuschließen und abgestufte Zugangsrechte zu globalen Entscheidungsprozessen einzurichten. Das Papier fordert „mehr exklusive Gruppen, ein gewichtetes Abstimmungsrecht, neue Techniken der Vertretung und möglicherweise verschiedene Kammern oder Ebenen in einigen Weltorganisationen.“ <4> Es sollte möglich sein, so das Denk-Papier, „die ‚Management’-Aufgaben von den partizipatorischen, legitimierenden Funktionen zu trennen.“ <5> So vornehm kann man die Forderung nach Abschaffung der Demokratie auch formulieren …
Die Akteure der wichtigen Weltregionen – das sind von jetzt ab laut Council on Foreign Relations: Nordamerika, Europa und Asien – sollen in einem solchen Netzwerk von Bündnissen und Institutionen das US-amerikanische Betriebssystem des Kapitalismus durchsetzen. Denn: „Die amerikanische Macht ist nicht ewig.“ <6> Der Anteil US-amerikanischer Wirtschaftstätigkeit betrug 1945 etwa fünfzig Prozent der Weltwirtschaft, und war seitdem kontinuierlich abgesunken. So wie dereinst das antike Rom implodierte, sich aber die römischen Regelwerke in der Vernetzung der katholischen Kirche bis heute erhalten konnten, so hoffen die Theoretiker der US-Hochfinanz im Council on Foreign Relations, die für sie so vorteilhafte US-Variante des Wirtschaftens für alle Zeiten durch ein trilaterales Netz bewahren zu können: „Und weil Amerikas beispiellose Machtfülle dazu verurteilt ist, mit der Zeit dahinzuschwinden, steht an erster Stelle, den Aufstieg anderer Regionalmächte in einer Weise zu bewerkstelligen, die nicht Amerikas Erstrangigkeit bedroht.“ <7>
Für die USA, so dekretiert der Direktor der Trilateral Commission, Zbigniew Brzezinski, ist die eurasische Kontinentalplatte „der wichtigste geopolitische Gewinn“, und dort besonders die zentralasiatische Region, die natürliche Gas- und Ölreserven von Kuwait, dem Golf von Mexiko und der Nordsee „winzig erscheinen lassen“. Brzezinski fordert, China, Russland, den Iran sowie die Türkei fest in das trilaterale Bündnis einzubinden.
Es genügt nicht, die neuen Verbündeten mit Hard Power, also Militär- und Sicherheitstechnik sowie überlegener Wirtschaftsmacht einzuhegen. Genauso wichtig ist der Gewinn der kulturellen Hegemonie, der Soft Power. Council on Foreign Relations-Vordenker Joseph Nye, der sich auf Antonio Gramsci beruft, argumentiert zunächst ganz wirtschaftlich: „Wenn die USA Werte repräsentieren, denen andere folgen möchten, wird uns die Führung weniger kosten.“ Die USA agieren wie kluge Eltern, deren „Macht über die Kinder größer ist und länger dauert, wenn sie sie mit den richtigen Überzeugungen und Werten erzogen haben …“ <8>
So studieren pro Jahr 500.000 Studenten aus aller Welt in den USA, die dann als Eliten in ihren Heimatländern die Anbindung an den American Way of Life mit der größten Selbstverständlichkeit durchsetzen. Ganz geräuschlos vollzog sich so hinter den Kulissen in der europäischen Politik eine „transatlantische“ Wende, die jetzt unübersehbar Früchte trägt.
Denn im Laufe der letzten zwanzig Jahre wurde eine institutionelle Anbindung Europas an die USA durchgeführt, die nur noch schwer rückgängig zu machen ist. Der Council on Foreign Relations-Vordenker John Ikenberry sagt dazu: Das beste Mittel, „die Beziehungen unter den größten westlichen Staaten zu ‚domestizieren’“ <9>, besteht in der Einrichtung eines transatlantischen Freihandelsabkommens, das „das Risiko einer zunehmenden Wirtschaftsrivalität zwischen einer stärker vereinten EU und den USA abmildert“. <10> Unter der Regie von Council on Foreign Relations und Trilateral Commission hat ein ganzes Netz von Organisationen der Soft Power die europäischen Gesellschaften immer feinmaschiger durchdrungen.
Ganz oben befinden sich die Runden Tische, in denen Konzerndirektoren und Finanzgrößen mit Politikberatern in lockerer Runde die allgemeinen Richtlinien der Politik für die nächsten Jahre besprechen. Auf amerikanischer Seite existiert seit 1972 der Business Roundtable. Seine spiegelbildliche Entsprechung auf europäischer Seite stellt der 1983 gegründete European Round Table of Industrialists dar. Fünfundvierzig Top-Manager bilden den inneren Kreis. Für Deutschland dabei: Henning Kagermann vom Software-Konzern SAP, Wulf Bernotat vom Energiekonzern e.on, Gerhard Cromme von Thyssen-Krupp und Manfred Schneider vom Chemiekonzern Bayer.
Die Vorgaben der Runden Tische werden zum einen an die europäischen Politiker weitergereicht. Der Transatlantic Business Dialogue hat in seinem Gründungsjahr 1995 siebzig „Empfehlungen“ für den USA-EU-Gipfel im Dezember 1995 in Madrid ausgearbeitet, die „New Transatlantic Agenda“. Die anwesenden Regierungen übernahmen bereitwillig die Vorschläge aus USA. Während der Transatlantic Business Dialogue die EU-Administration in Brüssel betreut, kümmert sich das Transatlantic Policy Network um die Europa-Abgeordneten in Strasbourg.
Zum anderen erreichen die Vorgaben der Runden Tische wissenschaftliche Netzwerke. Die Gesellschaft für Auswärtige Politik ist die offizielle „Partner“organisation des Council on Foreign Relations für Deutschland. In Ansätzen bereits 1946 aktiv, wurde die DGAP 1955 zeitgleich mit dem Deutschlandvertrag offiziell aus der Taufe gehoben. Karl Kaiser und Erwin Scheuch sind zwei prominente Personen aus diesem Institut. Die Stiftung Wissenschaft und Politik ist offiziell der Ratgeber der Bundesregierung in Fragen der Außenpolitik. Dieses private Institut ergreift ebenfalls energisch Partei für eine unverrückbare Zusammenschweißung der Wirtschaftsräume der USA und Europas, wie wir den Verlautbarungen dieser Kreise entnehmen: „Auch innerhalb der EU ist Deutschland derzeit gut positioniert, um die widerstreitenden Interessen der Mitgliedstaaten in der Perspektive einer ambitionierten transatlantischen Integrationsagenda zusammenzuführen.“ <11> Das könnte „die Führungsrolle von EU und USA in der Welthandelsorganisation WHO stärken.“
Die Rekrutierung des transatlantischen Nachwuchses besorgt neben dem allseits bekannten Fulbright-Stipendium der weniger bekannte German Marshall Fund of the US. Dieser wurde 1972 von dem außergewöhnlich eifrigen Transatlantiker Willy Brandt quasi verordnet, und kostete die Steuerzahler in der ersten Rate 150 Millionen DM. Seitdem sind noch weitere erkleckliche Summen aus dem Steuerzahlertopf hinzugekommen.
Gleichermaßen verdiente wie verdienende Leistungsträger aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur treffen sich seit 1952 in der Atlantik-Brücke. In diesen Kreis wird man handverlesen. Der langjährige Präsident der Atlantik-Brücke, Arend Oetker, bekennt in dankenswerter Offenheit: „Die USA werden von 200 Familien kontrolliert. Wir möchten gerne mit diesen Familien gut Freund sein.“ Das spiegelbildliche Gegenstück auf USA-Seite stellt der vom Hamburger Bankier Erich Warburg und dem Council on Foreign Relations-Funktionär John McCloy 1952 gegründete American Council on Germany dar.
Es ist schöne Sitte, dass ein neu gekürter deutscher Regierungschef sich im ersten Vierteljahr seiner Amtszeit in New York beim ACG einfindet und den US-Unternehmern Bericht erstattet. So auch Angela Merkel am 12. und 13. Januar 2006. Beim American Council on Germany sagte sie ganz eilfertig: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns in einem Kampf um Boeing und Airbus verklammern, oder ob wir uns auf die weit bedeutendere Frage konzentrieren, wie wir alle zusammen … mit China umgehen sollen.“ Auf Kosten des deutschen Steuerzahlers darf schließlich noch das Aspen Institute in Berlin für die Irak-Invasion und gegen eine europäische Selbständigkeit agitieren.
Alle hier genannten Einrichtungen sind selbstverständlich pro forma absolut eigenständig. Jedoch findet sich in allen diesen Gruppen als harter Kern das immer gleiche Personal der „üblichen Verdächtigen“. Es hat sich nämlich in Deutschland mittlerweile jenes Modell der Herrschaft durch informelle Seilschaften – Walter Lippmann sprach etwas nobler vom „social set“ – etabliert, das für die angloamerikanischen Gesellschaftsformationen so kennzeichnend ist. Ob im Deutschlandfunk, ob in Talkshows, oder wo auch immer: das Personal von „Experten“, das zu jedem beliebigen Thema befragt wird, ist – gelinde gesagt – überschaubar. Und es gehört komplett zum „transatlantischen“ Netzwerk.
Wenden wir uns abschließend noch der Frage zu, ob der Council on Foreign Relations nicht mittlerweile von noch aggressiveren Neokonservativen und christlichen Fundamentalisten beiseite gedrückt worden sein könnte.
Viele Council on Foreign Relations-Größen raufen sich die Haare angesichts der Flurschäden, die das inkompetente und rücksichtslose Bush-Regime im fragilen internationalen Bündnisgewebe dereinst verursacht hatte. Joseph Nye geißelt den „Unilateralismus“ der Bushisten. Das meint: Die Bushisten lassen ihre „Verbündeten“ gar zu deutlich spüren, dass deren Meinung ihnen schnuppe ist. Das Project for a New American Century stellt sich energisch gegen die Vision des Council on Foreign Relations, die Nation USA schleichend in einer globalen Pax Americana aufgehen zu lassen.
Immer lauter wird der Groll der Council-Männer gegen die allgegenwärtige Israel-Lobby, angeführt von deren Frontgruppe, der AIPAC. Deshalb wagte Council on Foreign Relations-Mitglied John Mearsheimer zusammen mit Stephen Walt den Frontalangriff auf die AIPAC-Seilschaft. Ihr Buch zum Thema wetteiferte einst um den Spitzenplatz in der US-Bestsellerliste mit einem Buch von Norman Podhoretz, in dem dieser die Invasion in den Iran forderte. Ironie dabei: Auch Israel-Lobbyist Podhoretz ist Council-Mitglied.
Doch die Mehrheitsmeinung im Council on Foreign Relations lautet, durch zahlreiche Denkschriften bekundet, dass die Bush-Regierung sich im Irak und Afghanistan verzettelte, und dass der alleinige Einsatz der Hard Power dem Iran und anderen Anrainerstaaten langfristig in die Hände spielen würde. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren, in denen die US-Streitkräfte immer tiefer im irakischen Sand versanken, ein erstarkendes Gegenbündnis in der Region formiert: die Shanghai Cooperation Organization. Die SCO stellt strukturell eine Kopie der westlichen Bündnissysteme dar. Der SCO gehören China, Russland, die zentralasiatischen Republiken, und als Beobachter, Indien, Afghanistan und der Iran an. Und je länger die Hardliner in Washington in jener Region Porzellan zerschlugen, um so deutlicher wird die SCO zu einem Abwehrinstrument gegen die US-amerikanischen Anmaßungen. Dabei hätte Brzezinski die SCO gerne als Teil der trilateralen Ordnung eingebunden.
Und so redete der Altmeister der verfeinerten Pax Americana, Brzezinski, im Jahre 2007 Tacheles: der War on Terror sei eine „bedeutungslose Phrase“. Die USA seien auf dem Weg in eine selbstverschuldete Lähmung. Es herrsche Demoralisierung und eine „Kultur der Furcht“ durch „fortgesetzte Gehirnwäsche“ im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, angestiftet durch eine aufgeblähte Sicherheitsindustrie. Eine paranoide Stimmung greife um sich, in der gegen Araber gehetzt werde wie im Nazireich gegen Juden. <12>
Solche Töne veranlassten europäische Kongressveranstalter, Council on Foreign Relations-Leute als Kronzeugen gegen den Bush-Terror mit offenen Armen zu empfangen. Unstreitig gibt es eine große Meinungsvielfalt im Council on Foreign Relations. Council-Mitglied Paul Krugman z.B., ein hochrangiger Ökonom, fordert mehr soziale Gerechtigkeit und erinnert nachdrücklich an Roosevelts New Deal, der dem Wildwuchs der Finanzspekulanten Einhalt gebot. Council on Foreign Relations-Vordenker Robert Putnam fordert einen Administrationsstil, der den Bürgern dient, sie ernst nimmt und die Zivilgesellschaft fördert – und auf diese Weise das von ihm so genannte „Soziale Kapital“ anwachsen lässt.
Doch die Grundlagen der Council on Foreign Relations-„Philosophie“ sind unantastbar. Nach wie vor schwört der Council auf unbeschränkte Herrschaft der Technokraten und hält nichts von einer Regierung durch das Volk. Das paternalistische Bevormundungs-Paradigma steht über allen anderen Überlegungen. Es ist immer noch gültig, was ein Denkpapier in den 1970er Jahren festgeklopft hatte: „Die Arenen, wo demokratische Prozeduren angemessen erscheinen, sind … begrenzt.“ <13> Am Betriebssystem „Pax Americana“ wird nicht gerüttelt. Die Council on Foreign Relations-Vordenker werden immer hartnäckig ignorieren, dass der Verlust an Stabilität und Ordnung gerade durch die privatisierte Variante des Bretton-Woods-Systems und der nachfolgenden Entstaatlichung und Deregulierung verursacht worden ist.
Die Vordenker des Council on Foreign Relations können und dürfen keine ehrliche Tiefenanalyse der globalisierten Misere vornehmen. Denn die Geldgeber aus den Kreisen der Investmentbranche, wie z.B. Goldman Sachs oder Morgan, werden sich wohl kaum von ihren Council on Foreign Relations-Theoretikern ans Zaumgeschirr legen lassen. Und so steuern die USA immer schneller und unerbittlicher auf ihren Niedergang zu. Es gibt heute keine Instanzen in den USA mehr, die den Mächtigen den Spiegel vorhalten könnten.
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Hier der Link zum 1. Teil: https://staging.apolut.net/history-der-council-on-foreign-relations-teil-1/
Quellen und Anmerkungen:
<1> Henry A. Kissinger: Nuclear Weapons and Foreign Policy. New York 1957
<2> Robert D. Schulzinger: The Wise Men of Foreign Affairs – The History of the Council on Foreign Relations. New York 1984. S.146
<3> Beide Zitate von Joseph Kraft, Harper’s, Juli 1958, in Schulzinger, S.146
<4> Miriam Camps: The Management of Interdependence – A Preliminary View. CFR New York 1974. S.59
<5> a.a.O. S.94
<6> Joseph S. Nye: Das Paradox der amerikanischen Macht – warum die einzige Supermacht Verbündete braucht. Hamburg 2003. S.17
<7> Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard – American Politics and its Geostrategic Imperatives. New York 1997. S.198
<8> Nye a.a.O. S.30
<9> John Ikenberry, zitiert in Brzezinski, a.a.O. S.29
<10> RAND-Studie, zitiert nach Brezezinski, a.a.O. S.199
<11> Volker Perthes/Stefan Mair (Hg.): Europäische Außen- und Sicherheitspolitik – Aufgaben und Chancen der deutschen Ratspräsidentschaft. Berlin September 2006. S.50
<12> Zbigniew Brzezinski: How a Three-Word Mantra Has Undermined America” Washington Post, 25.3.2007
<13> Samuel Huntington in: Crozier/Huntington/Watanuki: The Crisis of Democracy. New York 1975. S.114
Bildquellen: https://commons.wikimedia.org
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hervorragende Vorträge!
Danke, Herr Ploppa!
Offensichtlich war man bei der Bildung des CFR und seiner Ableger der Auffassung, das Regieren sei zu wichtig, um es den Politikern zu überlassen, die ja auch noch alle paar Jahre wechseln, denn längerfristige Entwicklungen und eine realistische Sicht auf die Dinge sind mit denen nicht zu machen.
Leute wie Brzeziński oder Kissinger nehmen sich neben den üblichen Präsidentendartellern wie einem Trump oder erst recht einem Biden ja schon fast wie Halbgötter aus und so war die Politik, die vom CFR generiert wurde, in den letzten Jahrzehnten aus deren Sicht sehr erfolgreich.
Die Ansicht, das Denken und auch das Handeln in allen wichtigen Situationen besser nicht den Politikern und schon gar nicht der Herde zu überlassen, hatte also durchaus etwas für sich. Aber auch diese Form des Regierens scheint gerade an ihre Grenzen zu stoßen. Man neigt dazu, das Denken den Maschinen zu überlassen.
Der Ungarn-Aufstand dürfte weniger in den Bereich der "massiven Vergeltung" durch die USA fallen, als vielmehr in den Bereich dessen, was man ab den 2000ern Farbrevolution nannte. Es läßt sich wohl kaum ein Grund zur massiven Vergeltung konstruieren, wenn man sich anschickt innerhalb der Hegemonie des Konkurrenten eine Erhebung zu befördern. Dazu lohnt es sich etwas näher auf die Umstände in Ungarn vor und während dem Ereignis einzugehen, denn auch hier ging es um eine Zeitenwende geopolitischen Ausmaßes:
16. Vom »Stalingrad-Syndrom« zum Ungarn-Aufstand
Auf dem europäischen Schlachtfeld beginnt sich in eben diesen Tagen eine Volksbewegung zu bilden, für die die Vorfälle von Posen ein wichtiges Vorgefecht waren.
Hier ist nun eine mehr allgemeine Reflexion angebracht, denn wir sind im Begriff, jenen dramatischsten Teil der Geschichte von 1956 wiederzugeben, der in der ungarischen Revolution vom 23. Oktober bis zum 4. November gipfelte, seinen Vorboten aber in den polnischen Vorgängen von Posen hat. Es geht um die Rolle der Sowjetunion in Osteuropa, den fundamentalen Widerspruch zwischen ihrer Außenpolitik im Weltmaßstab und der alles andere als friedlichen und schmerzfreien Verbindung zwischen der Großmacht und ihren Trabanten.
Man könnte sagen, dass der Hauptwiderspruch der sowjetischen Außenpolitik zu jener Zeit, und im Jahre 1956 wird dies besonders deutlich, darin besteht, auf der einen Seite die nationalen Kämpfe um Freiheit und Unabhängigkeit in der früheren kolonialen Welt zu unterstützen und im selben Sinn ebenso die Bewegung der Blockfreien zu fördern, und auf der anderen Seite den Nationalismus in den Satellitenstaaten, den Volksdemokratien zu unterdrücken. Dieser Widerspruch äußert sich in zahlreichen Symptomen.
Natürlich wird aus dem Blickwinkel der sowjetischen Führung auch eine Erklärung für all das geliefert. Es ist klar, dass jede politische Herrschaft versucht, dem, was sie tut, einen Sinn und Kohärenz zu geben, und deshalb ist es interessant, den Widerspruch nicht nur festzuhalten, sondern auch zu verstehen versuchen, wie er von den Protagonisten erläutert und gerechtfertigt wird. Die Erklärung die gegeben wurde, war, dass die Länder des Ostens, die sozialistischen Länder, die sich gerade erst als solche konstituiert hatten, ein fortgeschritteneres Stadium auf dem Weg in die Gesellschaft der Zukunft, also den Sozialismus, verkörperten, während die frühere Kolonialwelt dagegen als erstes vor der Aufgabe stehe, die volle Unabhängigkeit von den direkt politischen und ökonomischen Fesseln zu erlangen. So schien die Doppelgleisigkeit oder der Doppelstandard, den Nationalismus einerseits in der Dritten Welt zu unterstützen und ihn andererseits in den Satellitenstaaten zu unterdrücken, der sowjetischen Führung kohärent und sinnhaltig.
Der Widerspruch der ebenfalls weltweiten Außenpolitik der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten England und Frankreich ist in gewissem Sinn das Spiegelbild des sowjetischen. Die westlichen Großmächte nämlich stacheln die nationalen Aufstände in den sowjetischen Satelliten in Europa an, während sie direkt oder indirekt die nationalen Bewegungen der Dritten Welt, des eigenen ehemaligen Kolonialreichs, unterdrücken. Dieselben Ingredienzien, gleichsam ineinander gespiegelt.
(…)
In Budapest bildete sich, wie auch sonst in quasi allen vom Nazifaschismus befreiten Ländern, eine Regierung der nationalen Einheit. Das große Problem, vor dem sie steht, ist die Agrarreform. In Ungarn ist der riesige Großgrundbesitz die Hochburg der Konservativen, und der größte Grundbesitzer ist die katholische Kirche, der 570.000 Hektar Land gehören. Am 31. August 1947 verabschiedet eine Regierung der Nationalen Einheit, in der die Kommunisten dank der Hilfe und Unterstützung der Sowjets ein gewisses Gewicht haben, aber doch nur eine Fraktion sind, eine Agrarreform, die vom Landbesitz der Kirche an die 450.000 Hektar enteigent und den Kirchengemeinden die Möglichkeit belässt, jeweils nicht mehr als 57 Hektar an garantiertem Eigentum zu unterhalten. In Person des Primas von Ungarn, Joseg Kardinal Mindszenty, widersetzt sich die katholische Kirche frontal dem neuen politischen Regime, das sich gerade entwickelt, und denunziert die Agrarreform als »Enteignung der Kirche durch ihre Feinde«.
Der andere Kampfplatz ist das Bildungs- und Erziehungswesen: Die nach dem Krieg gebildete Regierung möchte zum ersten Mal Schulen und Universitäten der direkten Kontrolle der katholischen Kirche entziehen. Von der Kanzel wettert Kardinal Mindszenty gegen die Enteignung der Ländereien und die Austreibung des Christentums aus der Erziehung. Das führt zu einem direkten Zusammenstoß mit der politischen Macht, der Primas wird verhaftet, vor Gericht gestellt und in Hausarrest genommen. Eine neue Regierung wird gebildet, diese Mal unter Führung der KP, die, gemäß den brutalen Richtlinien Rákosis, die Vereinheitlichung aller Kräfte nach der berüchtigten »Salamimethode« anstrebt. Parallel zur Entwicklung dieser Krise wird Mátyás Rákosi der wahre Lenker des nunmehr sowjetischen Ungarn.
Das Ungarn von 1956 ist also der Schauplatz einer Auseinandersetzung, die besonders bitter geworden istdurch die Radikalität der Beteiligten. Auf der einen Seite haben wir eine KP – Rákosi, Ernö Gerö vor allem, Mihály Farkas, damals bekannte Persönlichkeiten, heute fast vergessen -, die eine grundlegende Abneigung gegenüber der vom XX. Parteitag ausgehenden Erneuerung hegt, weil sie unter anderem befürchtet, dass die Zerstörung des Personenkults unmittelbar auch sie treffen könnte. Auf der anderen Seite haben wir eine nun wenig gefährliche und lahm gelegte katholische Kirchenleitung – eine noch präsente antikommunistische Kraft, die sich in einer Position der totalen Konfrontation verschanzt hat. Symbol dieses anderen Gesichts Ungarns ist gewiss der unbeugsame Kriegrische Kardinal Mindszenty.
Damit ist ein besonders schwieriges Terrain bereitet, um solche Transformationen anzugehen, wie sie im Gegensatz dazu gerade das Polen Gomulkas seit den Vorfällen von Posen durchlebt. Die polnische Regierung hat aus diesen ihre wertvolle Lehre gezogen, nicht gegen eine unzufriedene und zum Aufstand bereite Bevölkerung auf Konfrontationskurs zu gehen. Demgegenüber findet in Ungarn ein Kampf innerhalb der Partei statt. Es ist zwar ein verdeckter Kampf, von dem jedoch, wie es häufig geschieht, an einem gewissen Punkt ein Zeichen nach außen dringt, das plötzlich eine Realität enthüllt, die man zu verbergen und geheim zu halten suchte.
Der »Clou« am 1. Juli 1956: Rákosi tritt als Erster Sekretär der KP zurück und wird durch den weniger bekannten Gerö ersetzt, der bis dahin stellvertretender Ministerpräsident war. Als Sekretär des Zentralkomitees wurde János Kádár gewählt. Kádár war eines der ersten Opfer des hyperstalinistischen Ungarn, und dass er am 19. juli, also wenige Tage nach Rákosis Rücktritt, Sekretär des ZK wurde, steht dafür, dass sich nach einem stillen und von außen nicht sichtbaren Kampf auch an der Spitze der ungarischen Partei ein Wandel vollzogen hatte, wie er unter derselben Prämisse auch in den anderen sozialistischen Ländern eingetreten war.
Man konnte deshalb annehmen, dass die Situation aich stufenweise und friedlich entwickeln werde, doch dem war nicht so. Trotz einer noch am 1. September von der Partei verabschiedeten Resolution gegen den Personenkult war die Macht Rákosis, in Person seines Erben Gerö, im Grunde unangefochten. Die einzigen sichtbaren Aspekte der Veränderung sind die Verhaftung von Farkas, dem früheren Verteidigungsminister und Mitglied des Politbüros, am 13. Oktober wegen Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit und die Wiederaufnahme von Imre Nagy, der seinerzeit ausgeschlossen worden war, in die Reihen der Partei. Insgesamt überstürzten sich also Anfang Oktober 1956 in Ungarn die Ereignisse, innerparteiliche Konflikte wurden sichtbar, während sich in der Bevölkerung die Überzeugung breitmachte, dass dies der Moment sei, ein besseres Leben zu erringen, angetriben übrigens durch das unablässige Trommelfeuer westlicher Radiosender, allen voran »Radio Free Europe«, das die konkrete Möglichkeit duggerierte, das herrschende Regime könne abgeschüttelt werden. So sieht also das Terrain aus, auf dem sich die Revolution rasch ausbreitete.
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23. Oktober 1956, kaum 48 Stunden nach dem Triumph Gomulkas in Warschau: In Budapest überschlagen sich die Ereignisse. Aus einer vom »Petöfi-Kreis« organisierten Kundgebung entspringt eine Aufstandsbewegung. Die der Kommunistischen Partei angeschlossene Studentenorganisation hat sich gespalten, ein beträchtlicher Teil, eben dieser »Petöfi-Kreis«, hat sich von der Partei getrennt. Auf der Woge dieser Spaltung organisiert dieser Kreis eine Demonstration, um Mehrparteienwahlen zu fordern, die nicht mehr im Zeichen der führenden Rolle der Kommunistischen Partei stehen. Die Veranstaltung nimmt immer mehr Züge eines Aufstands an: Die Demonstranten verlangen, dass die Regierung ihre Bedingungen akzeptiert. Die Regierung sieht keinen anderen Ausweg, als das Kriegsrecht auszurufen und die sowjetischen Truppen, die jene wegen der Kundgebungen in Gefahr glauben, zu ihrer Unterstützung anzufordern. An diesem 23. Oktober erinnert man sich wegen der gravierenden Vorfälle des Tages. Sie veranlassen den neuen Ministerpräsidenten, Imre Nagy, Chef einer immerhin von der Kommunistischen Partei geführten Regierung, einen eindringlichen Appell zur Besänftigung der Gemüter ergehen zu lassen, in der Hoffnung, zu einer Lösung wie in Polen zu gelangen. Am 26. Oktober wird ein ultimatives, dramatisches Kommuniqué aufgesetzt, das sich an die Aufständischen richtet, die dabei sind, die dabei sind, sich in der Stadt Györ zu sammeln, und den Austritt aus dem Warschauer Pakt fordern. Wir ahben hier eine deutlich andere Dynamik als in Polen. Die Zusammensetzung der Regierung ändert sich erneut, es bildet sich eine neue, weiterhin unter dem Vorsitz von Imre Nagy, doch diesmla umfasst sie andere Männer, die – außer dem Innenminister Ferenc Münnich – den Bestrebeungen der Demonstranten näher stehen.
In dieser Situation gibt es, was im Falle Polens nicht geschehen war, eine Einmischung von außen, nämlich eine Stellungnahme der Vereinten Nationen, auf die die Regierung Nagy mit einem barbarischen Kommuniqué antwortet, das fordert, die aktuellen Vorgänge in Ungarn als dessen innere Angelegenheit zu betrachten. Außerdem gibt es den Appell Pius XII. Vom 28. Oktober.
Bei diesem handelt es sich um eine Enzyklika mit dem Titel »Luctuossisimi eventus«, deren Kern der Substanz nach lautet: Frieden und Gerechtigkeit. Das ist eine berühmte Formel. Wer sich an die Ereignisse unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert, weiß, wie Pius XII. Auf der Formulierung gerechter Friede insistiert hat, die für die damalige Zeit als problematisch und zwielichtig wirkt. Es war nicht klar, auf welche Gerechtigkeit er sich bezog, auf wessen Seite er sich mit dem Appell schlug. Es ist höchst signifikant, dass er aich während der Geschehnisse in Ungarn nun erneut auf die gleiche Formel berief.
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Die Anspielung auf Gerechtigkeit bedeutete in Prosa übersetzt: Die ungarische Regierung kann nicht mehr die von früher sein, die Forderungen der Straße müssen berücksichtigt werden. Es wird also Friede sein in Ungarn, wenn es Gerechtigkeit geben wird. Das wollte der Appell im Grunde ausdrücken. Mag er nun richtig oder falsch gewesen sein, er wurde mit Sicherheit als Ankündigung interpretiert, dass die Außenwelt ein waches Auge auf die ungarischen Ereignisse haben werde.
Dies war ein weiteres Signal dafür, dass Ungarn sich nicht für allein gelassen halten sollte, sondern die Hilfe großer ausländischer Mächte erhielt: Die Hilfe jener, die sich über das so genannte freie Radio äußerten, also auch die höchst angesehene des Papstes, der öffentlich ein sehr enges Verhältnis zu Kardinal Mindszenty, damals noch unter Hausarrest, betonte. Das Signal eines politisch so aktiven Papstes wie Pius XII. Wurde von den Zeitgenossen aufmerksam registriert.
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Die ungarische Regierung erklärt am 31. Oktober feierlich den Austritt aus dem Warschauer Pakt und prklamiert die Neutralität Ungarns. Kardinal Mindszenty, kaum in Freiheit, fordert sofort die Rückkehr Otto von Habsburgs nach Ungarn. In der aufgeheizten Atmosphäre, in der sich das Land befindet, beginnt die Jagd auf die Anhänger des alten Regimes, die aktiven Kommunisten mit oder ohne Uniform; und es ist etwas merkwürdig, dass man damals darauf bestand, es handele sich bei den Opfern einzig und allein um Agenten der Geheimpolizei. In Wirklichkeit wurden auch, als solche allgemein bekannte, einfache Parteimitglieder massakriert, in den Straßen gelyncht und aus Fenstern geworfen. Von den Exzessen gibt es Amateurfilme, es sind zahlreiche Bilder dieser grauenhaften Szenen erhalten geblieben. Diese Klima bewirkt, dass sich die sowjetische Seite entschließt, ein anderes Signal zu setzen, als in Polen. Weit entfernt davon, sich zurückzuziehen, wie Nagy es fordert, beginnen die Sowjets trügerische Verhandlungen mit der neuen Regierung.
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Am 2. November um 19:00 Uhr landete auf der Insel Brioni ein Flugzeug mit einer aus Chruschtschow und Malenkow bestehenden Delegation an Bord, die dringend mit den höchsten Führern Jugoslawiens zu sprechen verlangt. Das Treffen dauert die ganze Nacht bis zum Morgengrauen des 3. November. Nach langer Diskussion mit Liu Shao Chi, Präsident der Chinesischen Volksrepublik, der in diesen Tagen in Moskau weilte, mit den Polen in Brest, mit den Ersten Sekretären der Kommunistischen Parteien Rumäniens und der ČSSR, Gheorghe Gheorghiu Dej und Antonin Novotny, in Bukarest und mit Mao am Telefon will Chruschtschow vor der Entscheidung für ein bewaffnetes Eingreifen in Ungarn die Zustimmung der Jugoslawen einholen.
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Das ist der Rahmen, in dem um 4:00 Uhr morgens am 4. November die sogenannte »Operation Turbine«, Codename der konzentrischen Attacke auf die ungarische Hauptstadt mit Panzerkolonnen begann.
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Bevor sich die Moskauer Regierung – auf die Aufforderung einer Schatten- bzw. Phantomregierung hin, die sich als Regierung der Arbeiter und Bauern bezeichnete und von Kádàr mit der Protektion der Sowjets gebildet worden war – an die Invasion Ungarns machte, schickte sie eine Nachricht an die wichtigsten Staatschefs der nicht-paktgebundenen Länder, um den Angriff Israels, Frankreichs und Englands auf Ägypten zu brandmarken. Die Botschaft ging an Pandit Nehru und den indonesischen Präsidenten Sukarno. Über diesen eleganten politischen Vorstoß hinaus unternahm die sowjetische Regierung einen diplomatischen: Sie ließ die eigenen Delegation bei den Vereinten Nationen aktiv werden, um die intervention in Ägypten zu stoppen. Außerdem richtete der sowjetische Präsident Bulganin eine persönliche Botschaft an den Präsidenten der USA Eisenhower, die USA möchten dazu beitragen, die Invasion Ägyptens aufzuhalten, was in derTat auch geschah.
Aus:
Luciano Canfora, Zeitenwende 1956 – Entstalinisierung, Suez-Krise, Ungarn-Aufstand
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