HIStory: Kampf um die eurasische Platte (Podcast)

Das Jahr 2021 startet mit einem neuen Format auf dem Portal KenFM: HIStory

“Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.” – Helmut Kohl

Der Buchautor und Publizist Hermann Ploppa erläutert in HIStory kurz und sachlich historische Daten und Jahrestage von herausragenden geschichtlichen Ereignissen. Dabei werden in diesem Format Begebenheiten der Gegenwart, die mit einem Blick in die Vergangenheit in ihrer Bedeutung besser einzuordnen sind, künftig alle 14 Tage montags in einen geschichtlichen Kontext gebracht.

Das Thema heute: Das deutsch-russische Verhältnis – der Kampf um die eurasische Platte

Russland: Da sehen wir sofort Wladimir Putin vor unserem geistigen Auge. Dann denken wir vielleicht an Nawalny. Nawalny: ein Kritiker des allmächtigen russischen Dauer-Präsidenten Wladimir Putin. Putin habe seinen Kritiker Nawalny mit dem heimtückischen Gift Nowitschok zum Schweigen bringen wollen. Das ist für alle Medien der westlichen Wertegemeinschaft sonnenklar.

Überhaupt: Putin und die Russen.

Wenn dem so ist, dann wollen wir Deutschen auch kein russisches Erdgas aus der Nordstream-Pipeline beziehen. Darüber denkt zumindest unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel öffentlich nach.

Russland: da müssten wir eigentlich doch auch an die 28 Millionen getöteten Bürger der Sowjetunion denken, die durch die deutsche Wehrmacht oder die Waffen-SS umgebracht worden sind.

Das klingt nun alles in allem nicht sehr angenehm. Eher düster und bedrohlich. Wenn wir an Russland denken, dann denken wir an Kriege. An Konflikte und Spannungen. Unsere Beziehungen mit Russland waren schon immer negativ eingefärbt. Stimmt das denn überhaupt? War das immer so?

Schauen wir uns ein bisschen in der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen um. Dann sehen wir: Phasen gegenseitigen Misstrauens wurden immer wieder abgelöst von Phasen großen gegenseitigen Vertrauens und einer sehr engen, ja sogar intimen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland. Phasen, in denen Deutsche und Russen fast alles miteinander geteilt haben.

Deswegen machen wir jetzt einen kleinen Streifzug durch die wechselhafte Geschichte der Deutsch-Russischen Beziehungen.

In vergangenen Jahrhunderten gab es keine Nationalstaaten in unserem Sinne. Und auch keine klaren Grenzziehungen. Und auch keine Trennung nach Völkern. Deutsche, Polen, Russen oder Slowaken lebten munter durchmischt in territorialen Flickenteppichen. Nicht ohne Konflikte, aber ohne gewaltsame Auseinandersetzungen. Im Großen und Ganzen friedlich.

Die Zeit der „ethnischen Säuberungen“ lag noch in der Zukunft. In einem großen Raum innerhalb Europas und Asiens konnten sich Händler oder sonstige Reisende frei von Ost nach West und von West nach Ost hin und her bewegen. Es gab keine Mauer. Und auch keine Trennung in politische, verfeindete Blöcke. So war traditionell der Austausch zwischen Deutschland und Russland überaus rege. Die Zarin Katharina die Große stammte aus Deutschland. Michael Wassilijewitsch Lomonossow studierte ausgiebig in Deutschland, bevor er in Russland die Wissenschaft befruchtete. Russische Adlige kurierten ihre Wehwehchen in Baden-Baden aus. Deutsche Siedler fanden in Russland ein neues Zuhause. Zahlreiche deutsche Namen russischer Generäle, Politiker und Wissenschaftler zeugen von diesem lebendigen russisch-deutschen Handel und Wandel.

London, im Jahre 1904: Der überaus einflussreiche englische Gelehrte Halford Mackinder denkt über die Zukunftsperspektiven des Britischen Weltreichs nach. Bislang war das British Empire Herrscher der Welt. Großbritannien stützte sich auf seine übermächtige Marine. Nun stellt Mackinder aber fest: Eisenbahn und das neuartige Automobil können ab jetzt das Binnenland erschließen. Da können nun aber die Binnenländer ihre eigenen Rohstoffe viel besser abbauen und auf den Markt bringen als bisher. Damit entstehen der unangefochtenen Seemacht Großbritannien ganz neue Konkurrenten. England möchte auch gerne die neuen Rohstoffpotentiale in Russland und China für sich selber nutzen. Wenn aber die Binnenländer die Rohstoffe für sich selber nutzen, dann werden die Binnenländer automatisch auch immer mächtiger. Mackinder warnt seine Landsleute: wenn sich jemals Deutschland und Russland zusammentun – mit dem deutschen Ingenieurwissen und den gigantischen russischen Rohstoffen – dann können England und die USA einpacken. Und Mackinder fordert: ein solches deutsch-russisches Bündnis muss auf jeden Fall verhindert werden! Da muss auf dem europäischen Festland ein Verbündeter gefunden werden, der für Großbritannien die Rohstoffe auf dem eurasischen Super-Kontinent sicherstellen. Das kann Frankreich sein. Es kann aber auch irgendein anderer westeuropäischer Staat sein.

Doch zunächst machte der Genius der Geschichte den klugen Plänen von Mackinder und seinen englischen Mitstreitern einen fetten Strich durch die Rechnung. Denn im Jahre 1917 wurde aus dem russischen Reich der Zaren ziemlich schnell die kommunistische Sowjetunion. Das hatten ausgerechnet zwei erzreaktionäre deutsche Generäle auf dem Gewissen. Denn der Erste Weltkrieg, der 1914 mit so viel Schwung begonnen hatte, fraß sich in den nordfranzösischen Schützengräben fest. Neben der Westfront mit englischen und französischen Feinden hatten die Kaiserlichen Deutschen Streitkräfte noch einen kostspieligen Krieg gegen Russland im Rücken. Das Sagen hatten in Deutschland in jenen Tagen die beiden militärischen Oberbefehlshaber General Paul von Hindenburg und dessen Graue Eminenz, General Erich Ludendorff. Im Frühjahr 1917 löste eine liberaldemokratische Regierung das Zarenregime ab.

Jedoch dachten Kerenski und die anderen neuen russischen Führer gar nicht daran, den Krieg gegen Deutschland zu beenden. Sie ließen die russischen Soldaten weiter gegen Deutschland kämpfen und sterben. Hindenburg und Ludendorff ließen daraufhin den bis dahin ziemlich unbedeutenden russischen Sozialdemokraten Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich selber Lenin nannte, in dessen kärglicher Dachkammer im Züricher Exil ausgraben. Hindenburg und Ludendorff statteten Lenin mit mächtig viel Geld aus. Sie steckten ihn in einen verschlossenen Sonderzug von Zürich über Deutschland und Skandinavien. Und ließen ihn schließlich in Petrograd, das gerade eben noch Sankt Petersburg hieß, aussteigen. Mit den üppigen deutschen Geldspenden gelang es Lenin sodann, im Handumdrehen zur bekanntesten Figur in der russischen Politik aufzusteigen.

Mit dem Sturm auf das zaristische Winterpalais im Oktober 1917 putschten sich Lenins Bolschewisten an die Macht. Lenin beendete sofort den Krieg gegen Deutschland. Hindenburgs Streitkräfte konnten nun alle Mannschaften an die Westfront schicken. Was allerdings nichts mehr einbrachte. Denn mittlerweile waren die frischen, ausgeruhten Soldaten der Vereinigten Staaten von Amerika auf den westeuropäischen Kriegsschauplätzen aufmarschiert.

Wir alle wissen: der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 hat die Spielkarten der Geopolitik ganz neu gemischt. Deutschland wurde von einer Koalition der Staaten Großbritannien, USA und Frankreich gänzlich niedergerungen. Aus dem russischen Zarenreich war die Sowjetunion hervorgegangen. Deutschland und die Sowjetunion wurden geächtet und aus der Völkergemeinschaft für einige Zeit ausgeschlossen.

Was lag näher, als dass die beiden Paria-Staaten Deutschland und die Sowjetunion sich zusammentun? Genau das geschah denn auch. Die Kontakte zu den Bolschewisten waren ja schon vom Generalsgespann Hindenburg und Ludendorff hergestellt worden. Und so verwundert es nicht, wenn bereits im Jahre 1920 der Chef der Reichswehr, Hans von Seeckt – alles andere als ein Kommunistenfreund – ganz offen sagt:

„Nur im festen Anschluß an Groß-Rußland hat Deutschland die Aussicht auf Wiedergewinnung seiner Weltmachtstellung … England und Frankreich fürchten den Zusammenschluß der beiden Landmächte und suchen ihn mit allen Mitteln zu hindern – also ist er von uns mit allen Kräften anzustreben …Und wenn Deutschland sich auf Rußlands Seite stellt, so ist es selbst unbesieglich, denn andere Mächte werden dann immer Rücksicht auf Deutschland nehmen müssen, weil sie Rußland nicht unbeachtet lassen können.“

Das sahen Deutschlands Konzernlenker ganz genauso. Und im politischen Spektrum der Weimarer Republik waren sich alle einig: um ein enges Bündnis mit der Sowjetunion führt kein Weg vorbei.

Und durch diese Brille gesehen kam denn auch der deutsch-sowjetische Kooperationsvertrag vom 16. April 1922 im italienischen Badeort Rapallo eigentlich nicht mehr überraschend. Die Sowjets hatten geschickt gepokert. Denn zunächst hatten sie einen solchen Kooperationsvertrag bereits mit Großbritannien und mit Frankreich verabredet. Dann steckten die Sowjets der deutschen Regierung, dass sie diesen Vertrag ebenso gut auch mit Deutschland abschließen könnten. Knapp zwei Stunden bevor die britisch-französische Delegation in Rapallo eintreffen konnte, schlossen die Sowjets den Vertrag mit den Deutschen ab. Sowjets und Deutsche verzichteten auf gegenseitigen Schadensausgleich für die einander zugefügten Kriegsschäden. Der Vertrag von Rapallo sah erleichterten Handel zwischen Russland und Deutschland vor. Eine Konsequenz aus dem Rapallo-Vertrag war die Errichtung der sowjetischen Tankstellenkette DEROP mit 2000 Filialen in Deutschland.

Aber das war noch nicht alles. Weil aufgrund des Versailler Vertrages die Deutschen keine Panzer und keine Flugzeuge in der Reichswehr einsetzen durften, entwickelten sie diese heimlich in der Sowjetunion. Eine klassische Win-Win-Situation. Denn die von dem Ingenieur Junckers entwickelten Kampfflugzeuge konnten die Sowjets in Lizenz ebenfalls bauen und nutzen. Deutsche Kriegstechnik im Schutz der Weite Russlands. Reichswehr und Rote Armee teilten ihre empfindlichsten Geheimnisse miteinander. Sowjetunion und Deutschland waren für viele Jahre eng verbunden.

Das war für fast alle einflussreichen Kreise – von rechts bis ganz links – in der Weimarer Republik absolut der Königsweg aus dem Underdog-Dasein. Nur ein gewisser Adolf Hitler aus München gab kräftig Kontra. In seinem Buch „Mein Kampf“ argumentiert Hitler, dass nur durch die enge Anbindung an die westliche Wertegemeinschaft ein Wiederaufstieg Deutschlands möglich ist. Deutschland soll als deindustrialisierter Bauernstaat für Großbritannien den Juniorpartner abgeben. Für Großbritannien soll Deutschland die Sowjetunion überfallen. Aber das ist noch nicht alles. So wie die europäischen Kolonisatoren in Nordamerika die Indianer ausgerottet haben, so sollten die Deutschen die „slawischen Untervölker“ – wie Hitler sich ausdrückt – ausrotten. Auf dem eroberten „Ostraum“ sollten dann rassereine deutsche Siedler als Bauern die westlichen Völker mit Nahrung versorgen. Hitler schwebt in Mein Kampf ein Staatenbündnis bestehend aus Großbritannien, dem faschistischen Italien und dem ebenfalls faschistisch gewordenen Deutschen Reich vor. Jenseits jeder Polemik kann man sagen: dieses Konzept hat große Ähnlichkeit mit der schon vorgestellten Geostrategie des Engländers Halford Mackinder.

Die Machtergreifung Hitlers und seiner Nazischergen brachte dann wie erwartet den abrupten Abbruch der Beziehungen Deutschlands zur Sowjetunion. Die Reichswehreinheiten wurden bis zum Ende des Jahres 1933 aus der Sowjetunion abgezogen. Der Flugingenieur Junckers fiel in Ungnade. Die deutsche Wirtschaft verbandelte sich nunmehr mit dem Westen – mit den USA und Großbritannien. Die Nazis bereiteten sich konsequent auf den Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion vor.

Deswegen wird immer wieder die Frage gestellt: warum kam es dann doch im Jahre 1939 zum erneuten Bündnis Deutschlands mit der Sowjetunion? Nun, die Antwort ist nicht ganz einfach, aber doch klar genug: Hitler war pleite und nahm Hilfe wo er sie kriegen konnte. Im Januar 1939 schrieben die sieben Vorstandsmitglieder der Reichsbank einen Brief, der Hitler wenig erfreute. Reichsbankchef Hjalmar Schacht erinnerte den Führer daran, dass Deutschland die Aufrüstung mit einer Art Kryptowährung, dem Mefo-Fond, bezahlt hatte. Schacht sagte: wir können nicht länger eine Aufrüstung mit ungedeckter Währung, quasi nur durch das Drucken von Papiernoten, finanzieren. Außerdem haben wir seit vielen Jahren mehr Waren aus dem Ausland eingeführt als was wir ins Ausland geliefert haben. Jetzt geht nichts mehr. Gezeichnet Hjalmar Schacht.

Hitler was not amused und feuerte Schacht, den Überbringer der schlechten Nachricht. Daraufhin bemühen sich etliche Konzernchefs, für Hitler international einen Mega-Überbrückungskredit zu schnüren. Der englische Notenbankchef Montagu Norman und der Botschafter der USA in England, Joseph Kennedy – der Vater der legendären Kennedy-Brüder – legen dafür ihr gutes Wort ein. Doch der damalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Franklin Delano Roosevelt, pfeift Kennedy Senior zurück. Aus dem Megadeal für Adolf wird nichts.

Was soll Hitler jetzt tun? Soll er sich aufhängen, was er auch immer wieder gerne androhte, oder sollte er die Unterstützung von woanders herholen? Sein Außenminister Joachim von Ribbentrop hat die Lösung bereit. Er fädelt das Undenkbare ein. Mit dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow wird der so genannte Hitler-Stalin-Pakt eingefädelt und dann auch ratifiziert. Wieder eine Win-Win-Situation? Nicht wirklich. Denn Stalin denkt, er hat, indem er Hitler aus der Patsche hilft, das Deutsche Reich aus der antisowjetischen Phalanx der Westmächte herausgebrochen. Tatsächlich kann er mit Hitlers Duldung die Grenzen der Sowjetunion über die Teilung Polens und die Annexion der Baltischen Länder nach Westen verschieben. Das bringt ihm einen Zeitgewinn, um seine Truppen besser auf den möglicherweise unvermeidlichen Krieg einzustellen.

Doch Hitler kehrt zu seiner antisowjetischen Agenda zurück. Durch großzügige Gesten hat Hitler immer wieder den Westmächten signalisiert: ich komme zu meiner prowestlichen Agenda zurück! So verordnet er beispielsweise im berühmten Haltebefehl von Dünkirchen seinen Panzerverbänden, stehen zu bleiben. Damit ermöglicht Hitler den insgesamt 330.000 britischen und französischen Soldaten, die in Dünkirchen eingekesselt waren, ungehindert nach England abzuziehen. Hätte er diese Soldaten gefangen genommen, hätte Hitler den Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich schon im Mai 1940 für sich entschieden. Doch durch den Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 ist Hitlers Schicksal besiegelt. Nun hat er genau den Zweifrontenkrieg, den er immer vermeiden wollte. Und die Sowjetunion ist für die deutsche Wehrmacht eine Nummer zu groß. Die Panzer und Kanonen der Wehrmacht versinken im Schlamm der Pripjet-Sümpfe. Und an die dringend benötigten sowjetischen Ölvorkommen in Aserbeidschan kommt die Wehrmacht nicht mehr ran. Der Krieg ist verloren.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs existiert kein gesamtdeutscher Staat mehr. Da der Westen es vorzieht, für einen neuen Krieg gegen die Sowjetunion zu rüsten, den Hitler nicht vollenden konnte, entsteht die Ost-West-Spannung. Deutschland wird in zwei Hälften geteilt. Und die beiden deutschen Teilstaaten sind nun Frontstaaten geworden. Aufgerüstet bis zum Anschlag und umfunktioniert zu terrestrischen Flugzeugträgern der verfeindeten Machtblöcke. Den starken Männern in den beiden deutschen Teilstaaten, Konrad Adenauer und Walter Ulbricht, bleibt nichts anderes übrig, als die Politik der Konfrontation an die Bevölkerung runterzureichen.

Doch bereits 1955 wagt der westdeutsche Bundeskanzler Adenauer den ersten Ausbruch aus der Konfrontation. Wieder eine Win-Win-Situation: die sowjetische Regierung unter Leitung von Nikita Chruschtschow entlässt die letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen in die Freiheit nach Westdeutschland. Im Gegenzug nehmen die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf. Die Sowjets erhoffen sich davon ein gutes Geschäft: sie wollten ihr Rohöl und ihr Erdgas nach Westdeutschland verkaufen. Die westdeutschen Stahlkonzerne sollen für die Pipelines zuverlässige Röhren liefern. Doch Adenauer stellt sich quer: da er von den Amerikanern schon skeptisch beäugt wird wegen seines Flirts mit Frankreichs Präsident de Gaulle, will er es mit dem Großen Bruder aus Übersee nicht auch noch verderben, indem er sowjetisches Öl nach Westdeutschland sprudeln lässt. Die Amerikaner verhängen das so genannte Röhrenembargo: sollten die westdeutschen Stahlbarone tatsächlich Rohre an die Sowjets liefern, würden sie auf von den Amerikanern beherrschten Märkten Platzverweis erhalten. Kommt uns doch irgendwie aus der Gegenwart verdammt bekannt vor…

Mit Adenauers Amtsnachfolger im Kanzleramt, Ludwig Erhard, kommt der sowjetische Führer Chruschtschow besser klar. Chruschtschow schickt seinen Schwiegersohn Adschubej zu Erhard. Im informellen Gespräch soll Adschubej dem deutschen Bundeskanzler ein delikates Angebot unterbreiten: tausche DDR gegen westdeutsche Entwicklungshilfe! Die Westdeutschen sollen in der Sowjetunion vor allem der schwächelnden Chemieindustrie mit modernster Technik unter die Arme greifen. Eine aufgepeppte sowjetische chemische Industrie könnte so vor allem die Landwirtschaft mit optimierten Düngemitteln versorgen. Das würde bessere Ernten bringen. Bislang hatte die Sowjetunion immer noch Weizen aus den USA und aus Kanada importieren müssen. Und war auf diese Weise de facto von den USA jederzeit erpressbar. Die Amerikaner könnten die Sowjets buchstäblich aushungern.

Aus dem sowjetisch-deutschen Deal wäre höchstwahrscheinlich etwas geworden. Denn die deutschen Unternehmer und auch viele Politiker sind ganz entzückt. Die deutsche Wiedervereinigung scheint im Jahre 1964 Realität zu werden. Der deutschen Wirtschaft würden traumhafte neue Geschäftsaussichten im Osten in den Schoß fallen. Doch aus dem Deal wird nichts. Da hat doch der einflussreiche Wallstreet-Banker Averell Harriman schon im Frühjahr 1964 orakelt, Chruschtschow würde im Herbst desselben Jahres gestürzt. An seine Stelle würde dann als Regierungschef Alexej Kossygin treten. Neuer Parteichef würde dann Leonid Breschnew. Nun, was für ein Zufall: im Oktober des Jahres 1964 wird Nikita Chruschtschow tatsächlich gestürzt. Leonid Breschnew wird neuer Chef der Kommunistischen Partei. Und der neue Regierungschef Alexej Kossygin unterrichtet in seiner ersten Amtshandlung eine amerikanische Wallstreet-Delegation über die Grundzüge der Politik der neuen Sowjetregierung. Geführt wird die Wallstreet-Delegation übrigens von einem gewissen Mister Averell Harriman …

Aus dem Chruschtschow-Erhard-Deal wird nichts. Nun, zwanzig Jahre später wiederholt sich genau diese Konstellation, natürlich mit anderen Akteuren. Dieselbe Konstellation heißt: biete DDR gegen Entwicklungshilfe. Es handelt sich nämlich um den Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, der dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl dieses delikate Angebot macht. Gorbatschow ist im Jahre 1985 endlich Führer einer maroden, verschuldeten und überalterten Sowjetunion geworden. Leonid Breschnew hatte Chruschtschows Reformpolitik nicht weitergeführt. Das Land war in eine Agonie verfallen. Militärisch hat die Sowjetunion dem Westen jetzt rein gar nichts mehr entgegenzusetzen. Und die sowjetischen Waren will niemand mehr kaufen. Nur noch Rohstoffe können die Sowjets in den Westen verkaufen, und das obendrein noch zu immer weiter fallenden Verkaufserlösen. Um eine Hungersnot und blankes Massenelend zu vermeiden, muss Gorbatschow die sowjetischen Goldreserven verscherbeln. Gorbatschow ist klar: er muss sich von allen Außenposten, die nur Geld kosten, schnellstmöglich trennen. Und sogar die DDR wurde in den letzten Jahren nur noch von der Sowjetunion bezuschusst. Die Sowjetunion muss gesund geschrumpft werden. Das ist der einzige Weg zur Rettung.

Bundeskanzler Kohl hatte Gorbatschow zuvor völlig unzutreffend als „neuen Goebbels“ verunglimpft. Doch die gemeinsamen Interessen führen die beiden Männer dann doch zusammen. Kohl lässt die Gelegenheit, als Kanzler der deutschen Wiedervereinigung in die Geschichtsbücher einzugehen, nicht verstreichen. Kohl und Gorbatschow treffen sich beim Lagerfeuer in Gorbatschows Datscha im Ural. Zugegen sind auch die beiden Außenminister Eduard Schewardnadse und Hans-Dietrich Genscher. Gorbatschow wird konkret: ihm fehlen 35 Milliarden Dollar, um aus der Klemme zu gelangen. Kohl und Genscher sind nicht abgeneigt. Die vier Männer werden sich handelseinig: Gorbatschow entlässt die DDR aus der sowjetischen Kontrolle. Dafür besorgen Kohl und Genscher den Sowjets die benötigten Milliarden. Alle vier Männer denken über den Tag hinaus. Deutschland, nun wieder vereint, wird mit der Sowjetunion eng zusammenarbeiten. Deutschland bekommt den Zugang zu Rohstoffen. Im Gegenzug soll die Sowjetunion das Geld und das Know-How der Westdeutschen bekommen. Wenn das wahr geworden wäre, dann wäre das genau die ultimative Verwirklichung der Schreckensvisionen des englischen Geopolitikers Halford Mackinder – wir erinnern uns – vor der er 1904 so eindringlich gewarnt hatte.

Doch auch aus diesem Deal wird nun auch wieder nichts. Denn der Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, trifft sich während dessen heimlich mit den Präsidenten der sowjetischen Teilrepubliken Ukraine und Weißrussland in einer entlegenen Waldhütte. Die drei Männer erklären die Sowjetunion kurzerhand für aufgelöst. Da Gorbatschow durch einen dilettantischen Putschversuch einiger fossiler Altstalinisten geschwächt ist, kann er dem illegalen Manöver von Jelzin nichts entgegensetzen. Die schwachen neuen ex-sowjetischen Republiken werden jetzt die fette Beute US-amerikanischer Investoren. Die deutsch-russisch-sowjetische Option ist damit einstweilen wieder vom Tisch.

Exakt zur Jahrtausendwende schickt der ehemalige KGB-Mitarbeiter Wladimir Putin den unfähigen, korrupten und trunksüchtigen russischen Präsidenten Jelzin nachhause. In einer beispiellosen Ochsentour saniert Putin das marode Russland. Putin ermöglicht damit ein russisches Wirtschaftswunder. Renten und Löhne werden wieder regelmäßig und verlässlich ausbezahlt. Die Auslandsschulden Russlands sind längst vollständig getilgt. Früher war Russland ein Lebensmittelimporteur. Heute ist Russland jedoch ein Lebensmittelexporteur.

Zunächst hatte der Westen geglaubt, Putin würde Jelzins Politik nicht anders, aber vieles besser machen. Als sich herausstellt, dass Putin Russland vom Westen unabhängig macht, wird aus dem Good Guy ganz schnell ein Bad Guy. Sprach Putin dereinst noch als Ehrengast im Deutschen Bundestag in deutscher Sprache, so wird er heute unisono von der Mainstreampresse als gefährlicher Tyrann hingestellt. Und während fast alle deutschen Kanzler ihre Karriere als stramme Amerika-Vasallen begonnen haben, um dann doch immer wieder eine vorsichtige Annäherung an den östlichen Nachbarn einzufädeln, wird unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel mit jedem Tag härter im Kurs gegen die Russen.

Die Theaterinszenierung um den angeblichen russischen Oppositionspolitiker Nawalny und dessen Vergiftung soll nun sogar dazu herhalten, die russische Pipeline Nordstream 2 möglicherweise doch noch zu kippen. Das ist eine Vasallentreue gegenüber den USA, die man mit Fug und Recht als Selbstmord auf Raten bezeichnen kann.

Wir können also aus diesem Ritt durch die Geschichte deutlich erkennen, dass sich Phasen einer Konfrontation zwischen Russland und Deutschland immer wieder abgelöst haben mit Phasen einer sehr engen Zusammenarbeit. Immer wieder wurde diese gegenseitige Annäherung von außen her gestört oder zerrüttet. Es wäre jetzt nach einer Phase der Konfrontation mal wieder an der Zeit, sich Russland vertrauensvoll anzunähern. Wir können daraus, wie die Vergangenheit lehrt, nur profitieren.

Hermann Ploppa hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem: „Die Macher hinter den Kulissen: Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern“, „Hitlers amerikanische Lehrer: Die Eliten der USA als Geburtshelfer der Nazi-Bewegung“ sowie „Der Griff nach Eurasien: Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland“.

Bildquellen:

Russland-Karte: shutterstock_641865835

Sov. Ehrenmal Berlin: shutterstock_171658817

Wladimir Putin: shutterstock_1866439813

Paul von Hindenburg/Erich Ludendorff: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hindenburg-ludendorff.jpg

Vertrag von Rappallo: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-R14433,_Vertrag_von_Rapallo.jpg

Jelzin/Putin: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9f/Vladimir_Putin_12_June_2001-2.jpg

Quellen und verwendete Literatur:

  1. Hermann Ploppa: Der Griff nach Eurasien – Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland. Marburg 2019
  2. Mackinder, Halford: Heartland Theory https://archive.org/stream/1904HEARTLANDTHEORYHALFORDMACKINDER/1904%20HEARTLAND%20THEORY%20HALFORD%20MACKINDER_djvu.txt
  3. ders.: Democratic Ideals and Reality. London 1942
  4. Haffner, Sebastian: Der Teufelspakt – Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. München 2002
  5. Brzezinski, Zbigniew: The Grand Chessboard – American Primary and Ist Geostrategic Imperatives. New York 1997
  6. Davies, R.W.: Soviet economic development from Lenin to Khrushchev. Cambridge 1998
  7. Falin, Valentin: Zweite Front – Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler-Koalition. München 1997
  8. Kroll, Hans: Lebenserinnerungen eines Botschafters. Köln/Berlin 1967
  9. Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Köln Berlin 1961
  10. Leonhard, Wolfgang: Nikita Sergejewitsch Chruschtschow – Aufstieg und Fall eines Sowjetführers. Luzern/Frankfurt a.M. 1965
  11. Scheufler, Armin: Das Röhrenembargo 1962/63 – Zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen in der späten Adenauerzeit. Gießen 1996
  12. Schweizer, Peter: Victory: The Reagan Administration’s Secret Strategy that Hastened the Collapse of the Soviet Union. London 1994 (eBook)
  13. Seppain, Hélène: Contrasting US and German Attitudes to Soviet Trade, 1917-91 – Politics by Economic Means. London 1992

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