Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von HIStory!
Mein Name ist Hermann Ploppa und ich erinnere heute einmal an die so genannte „Nelkenrevolution“, die sich vor fünfzig Jahren in Portugal ereignet hat. Die Nelkenrevolution ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass die Ablösung einer faschistischen Diktatur durch demokratische Kräfte unter günstigen Umständen sogar ganz friedlich vonstatten gehen kann. Die Portugiesen sind heute noch mächtig stolz auf ihre selbst erkämpfte Demokratisierung. Bemerkenswert ist ja auch, dass diese Revolution von Militäroffizieren angestoßen wurde. Die begeisterte Bevölkerung steckte den einrückenden Offizieren Nelken in die Gewehrläufe. Ein herzergreifender Anblick. Gerade heute, wo Waffen überall in der Welt ihr Gift versprühen.
In der Nacht vom 24. auf den 25 April des Jahres 1974 spielten Radioanstalten in Portugal eine vollkommen unpolitische Schnulze. Nämlich Portugals Beitrag zum europäischen Schlagerwettbewerb Grand Prix de Eurovision. Paulo de Carvalho intonierte sein Liedchen „Und nach dem Abschied“ <1>. Was war schon dabei? Noch nicht einmal die gefürchteten Lauscher und Horcher der faschistischen Geheim-Stasi Portugals begriffen, dass das Liedchen das Angriffssignal einer Revolution war. Denn wenn Carvalhos Schnulze ertönte, wussten die jungen Offiziere der Bewegung der Streitkräfte MFA, dass sie sich jetzt bereit halten mussten. Stunden später wussten auch die berüchtigten Lauscher und Gucker von der Geheimpolizei DGS, dass hier was nicht mehr in Ordnung war. Denn aus den Radios erklang jetzt das verbotene Lied „Grandola, vila morena“ des antifaschistischen Sängers Zeca Alfonso <2>. Nun rückten die unzufriedenen Jungoffiziere der MFA mit Panzern und Fußsoldaten in die wichtigen Städte ein. Die seit einem halben Jahrhundert von der Diktatur unterjochte Bevölkerung, die von den Faschisten erklärtermaßen „arm und dumm“ gehalten werden sollte, wusste, dass es jetzt nur besser werden konnte. Die einrückenden Soldaten wurden von Frauen mit Frühstück empfangen. In die Gewehrläufe ließen die Soldaten sich bereitwillig rote Nelken stecken. Ein Zeichen der sozialistischen Bewegung.
Offenkundig war die Diktatur des Marcelo Caetano so selbstzufrieden eingeschläfert, dass eine herannahende Revolution unbemerkt blieb. Die aufgebrachte Volksmenge belagert zunächst die Zentrale der verhassten Geheimpolizei DGS. Die DGS-Leute reagieren im gewohnten Muster: sie schießen auf die Menge. Vier Todesopfer und 43 Verletzte sind zu beklagen. Doch die Menge bleibt auf dem Platz. Am darauf folgenden Morgen ergeben sich die Geheimpolizisten den revoltierenden Militärs.
Noch-Diktator Caetano hat sich verschanzt und schickt Truppen gegen die Revolutionäre. Dummerweise schließen sich die Regierungssoldaten sofort den Revolutionären an. Caetano will jetzt aber seine Macht nur an einen ordentlichen Militärgeneral übergeben. Er will den schneidigen General Antonio de Spinola als Nachfolger. Das kann man gut nachvollziehen. Denn Spinola, der im Stil wilhelminischer Generäle ein Monokel als Sehhilfe zu tragen wusste, war ein bewährter faschistischer Haudegen alter Schule. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als portugiesischer Militär auf der Seite Francos. Für die deutsche Wehrmacht war er als Beobachter bei der grauenhaften Belagerung Leningrads dabei. Doch Spinola hatte sich jetzt gerade im Frühjahr 1974 bei den Mächtigen vollkommen unbeliebt gemacht.
Damit kommen wir zu einer der Ursachen, warum ausgerechnet Militärs in Portugal der faschistischen Diktatur den Saft abdrehten. Denn Portugal unterhielt zu jener Zeit immer noch Kolonien. Vom Goldbringer Brasilien hatte sich Portugal schon im Neunzehnten Jahrhundert verabschieden müssen. Dafür hatte Portugal in Afrika eine Reihe von Kolonien erobert, die allerdings nicht halb so gewinnbringend waren wie Brasilien. Und nun wurden die Widerstandsbewegungen in Angola, Mosambik oder portugiesisch Guinea immer stärker. Portugal drohte an diesen Kolonialkriegen komplett kaputt zu gehen. Immer verlustreicher wurden diese Kriege. Und weil die erste Garnitur von portugiesischen Offizieren nun schon weitgehend bei Kriegshandlungen gefallen war, mussten jetzt junge Männer aus der portugiesischen Unterschicht in die Offiziersränge nachrücken. Und die hatten nicht vergessen, wo sie herkamen. Und mit welcher Geringschätzung das einfache Volk unter Caetano und dessen Vorgänger und Dauer-Diktator Antonio Salazar behandelt wurde. Die neuen Offiziere aus der Unterschicht waren nicht betriebsblind wie ihre aristokratischen Vorgänger. Sie sahen sich eher als Leidensgenossen der afrikanischen Kolonialvölker. Sie schlossen sich zusammen in der Bewegung der Streitkräfte, kurz: der MFA, und dachten gemeinsam darüber nach, wie man diesen verheerenden Kolonialkrieg beenden könne. Und wie ein modernes, gerechtes Portugal aussehen sollte.
Ja, und zur Überraschung nicht zuletzt jener jungen Offiziere kam ihnen just jener Haudegen-General Spinola zu Hilfe. Der hatte Anfang des Jahres 1974 ein kluges Buch mit dem Titel „Portugal und die Zukunft“ geschrieben. Da führt er aus, dass dieser verdammte Kolonialkrieg der Portugiesen militärisch nicht zu gewinnen ist. Zudem geht dabei die Wirtschaft Portugals, der es sowieso nicht gut geht, vollkommen vor die Hunde. Denn für diesen Kolonialkrieg muss glatt die Hälfte des Staatshaushaltes vergeudet werden. Die Kolonien müssen folglich in die Unabhängigkeit entlassen werden. Portugal braucht das Geld für wichtigere Dinge, als irgendwelche absolut unrentablen Kolonien um jeden Preis zu behalten. Spinola weiß, wovon er spricht. Im Jahr 1973 befehligte er die schmutzige Operation Grünes Meer. Dabei attackierte Spinola mit portugiesischen Truppen und einheimischen Kollaborateuren den Nachbarstaat Guinea. Ziel der Aktion: portugiesische Gefangene raushauen. Obendrein dem unabhängigen Staat Guinea eine Lektion erteilen. Den charismatischen politischen Führer Amilcar Cabral und den Staatspräsident von Guinea, Sekou Touré ermorden. Spinolas Coup endet als Teilsieg. Die gefangenen Portugiesen hat er rausgehauen. Aber Sekou Touré und Amilcar Cabral hat er nicht in die Hand bekommen.
Wenn jetzt der bedrängte Diktator Caetano den revoltierenden Offizieren in Lissabon den Monokel-General Spinola als seinen Nachfolger aufs Auge drücken will, haben die jungen Offiziere verständlicherweise Schluckbeschwerden. Doch vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, einen berühmten General, der in seinem letzten Buch erstaunliche Lichtblicke offenbarte, zum neuen Staatschef zu machen? Spinola wird neuer Staatschef. Vielleicht war das schon der erste Fehler der jungen Bewegung der Streitkräfte. Jedenfalls wird jetzt eine Übergangsregierung gebildet, die ein demokratisches Portugal vorbereiten soll. Und wie jeder unvorbereitete politische Neuanfang beginnt auch die Nelkenrevolution rührend unschuldig und chaotisch zugleich. Tausende von politischen Ideen sprießen aus dem Boden wie Blumen nach einem warmen Regen. Es ist aber klar, dass es gewisse gut genährte politische Kreise gibt, die dieses rührende Chaos in ihrem Sinne umlenken können.
Ihre Opfer sind zunächst einmal die Kräfte der Basisdemokratie. Nämlich jene Leute, die einfach in ein Vakuum hinein geschubst wurden. Das alte Regime ist eigentlich ganz von selber kollabiert. Urplötzlich muss das Vakuum mit neuen Inhalten gefüllt werden. Niemand hat sich zunächst vor gedrängelt und hat diese Situation als Sprungbrett für seine Karriere angesehen. Es bilden sich Selbsthilfeorganisationen, die die kollabierte Gesellschaft von unten her neu aufbauen wollen. Der Nachteil dieser Basisbewegungen: sie müssen das Rad andauernd neu erfinden. So wird wild herumexperimentiert und es werden neue Formen der Organisation ausprobiert. Fehler werden gemacht. Wertvolle Zeit wird vergeudet. So bilden sich im Zuge der Nelkenrevolution unzählige Arbeiterräte und Genossenschaften. Die Gesellschaft soll von unten her völlig neu organisiert werden.
Doch während da unten so munter herumexperimentiert wird, haben andere Kreise schon längst einen Plan. Es sind im Groben drei Gruppen, die in den wilden Jahren der Nelkenrevolution zwischen 1974 und 1976 aktiv sind. Neben den bereits erwähnten Basisdemokraten gab es ja immer noch jene Leute, die gerne wieder alles so haben wollten wie unter der Diktatur von Salazar und Caetano. Neben rechtsextremen Militärs ist hier vor allem die Katholische Kirche zu nennen, der es unter der Diktatur prächtig erging. Auch die Kommunisten sowjetischer Prägung hatten ihren, wie immer gänzlich realitätsfernen, erfolglosen Masterplan, um auch Portugal im Sinne sowjetischer Geopolitik zu beeinflussen. Die Sowjetkommunisten unter Alvaro Cunhal verloren in diesem Prozess immer weiter an Rückhalt.
Doch weder die faschistische Fraktion der Salazar-Nostalgiker noch die Sowjetkommunisten machten das Rennen. Für die Eingliederung Portugals in ein modernisiertes Europa erwiesen sich die Sozialdemokraten einmal wieder als die am besten geeigneten Strategen. In jenen Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war der Siegeszug der international vernetzten Sozialdemokraten noch ungebrochen. Letztlich war es die der SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung, die der Basisdemokratie in Portugal das Genick brechen sollte. Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist ja auch benannt nach jenem SPD-Politiker Friedrich Ebert, der die Basisbewegung in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg mit faschistischen Freikorpsverbänden niedermetzeln ließ und auf diese Weise schon damals dem Siegeszug der Nationalsozialisten unter Hitler den Weg bereitete. Die deutschen Sozialdemokraten erkannten frühzeitig, dass sich das Caetano-Regime nicht mehr lange halten würde. Sie bauten rechtzeitig den Politiker Mario Soares als ihren Mann in Portugal auf. Willy Brandt protegierte den Exilpolitiker nach Kräften. Und so wurde nach dem Gusto der SPD in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel im Jahr 1973 die portugiesische Sozialistische Partei PS gegründet. Darüber berichtet de Friedrich-Ebert-Stiftung in der Rückschau, auf ihrer Webseite, ganz offen:
„Kurz nachdem die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel ihre neue Bildungsstätte eröffnet hatte, stellte sie den portugiesischen Sozialist_innen sowohl Mittel als auch Logistik für einen Gründungskongress in eben jener Bildungsstätte zur Verfügung. Damit wird das Friedrich-Ebert-Stiftungs-Bildungszentrum zu einem historischen Ort.
Während der Nelkenrevolution fokussierte die Friedrich-Ebert-Stiftung ihre Tätigkeit zunächst auf die Infrastruktur der zukünftigen Sozialistischen Partei Portugals und auf die Ausbildung neuer Akteur_innen der Partei. Die Bildungsarbeit war zentral für eine Organisation, die zu Beginn der Demokratisierung nur 50 Aktivisten zählte und sich in radikalisierter Rhetorik erging, in der sie scheinbar eine der bestorganisierten kommunistischen Parteien Europas zu übertreffen suchte. Zwar erreichte man bis 1976 einiges bei der Entwicklung der Parteistruktur der PS, erzielte aber fast keine Fortschritte bei der Bildungsarbeit.“ <3>
Kaum dürfen alle Exilpolitiker wieder in Portugal einreisen, beginnt Mario Soares, dick gepolstert mit Geld und taktischen Ratschlägen der SPD, das Ruder in Portugal herumzureißen. Dem Politiker kommt zugute, dass die Basispolitiker sich immer mehr zerstreiten. Und dass die zu einer politischen Strategie unfähigen Salazar-Nostalgiker jede Gelegenheit nutzen, um Unruhe zu stiften. Schon im März 1975 versucht der einstige General und kurzfristige Staatschef Spinola einen Staatsstreich gegen die verhassten Jungoffiziere – und scheitert. Der Vorstoß von ganz rechts veranlasst wiederum die Übergangsregierung, das Steuer ganz weit nach links zu drehen. Viele Unternehmen in Portugal werden jetzt verstaatlicht. Das wiederum treibt verunsicherte Bürger in das eher rechte Lager. Im November 1975 kommt es zu einem erneuten Staatsstreich, dessen Hintergründe bis heute im Dunkeln liegen. Wichtigstes Resultat ist, dass der Mastermind der Nelkenrevolution, der Offizier Otelo Saraiva de Carvalho, politisch ausgeschaltet wird. Und dass den Basisdemokraten dieser seltsame Putsch in die Schuhe geschoben wird. Das dient als Begründung, die Nelkenrevolution hiermit als beendet zu erklären.
Im Jahre 1976 übergibt das Militär die politische Verantwortung wieder an die Zivilgesellschaft. Eine Verfassunggebende Versammlung hat eine demokratische Verfassung ausgearbeitet. Die Parlamentswahlen gewinnen die aus Bad Münstereifel exzellent trainierten „Sozialisten“ des Mario Soares. Als Zweite erreichen selbst erklärte rechte Sozialdemokraten das Ziel. Auf dem dritten Platz finden sich zunächst die Sowjetkommunisten unter Alvaro Cunhal wieder. In der nachfolgenden Wahl zum Staatspräsidenten unterliegt der mittlerweile kriminalisierte und von den Medien diffamierte Otelo Carvalho dem erfolgreichen Putschistenführer vom November 1975, Antonio Ramalho Eanes, mit 16 zu 62 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Der Weg ist frei für den aus Deutschland kontrollierten und gelenkten Sozialdemokraten Mario Soares. Portugal geht jetzt den selben Weg wie Spanien oder Griechenland. Hinein in die Europäische Gemeinschaft. Hinein in die Euro-Zone. Und damit unweigerlich unter die Kontrolle amerikanisch-deutsch-französischer Investorengruppen. Heute gehört Portugal weniger denn je den Portugiesen. Die Filetstücke dieses schönen Landes haben sich ausländische Konglomerate unter den Nagel gerissen.
Wenn man mit ansehen muss, wie immer nach dem gleichen Schema Völker auf diesem Planeten unter dem Anschein von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialem Fortschritt fortlaufend enteignet und entrechtet werden, fragt man sich doch: warum lernen wir nicht endlich aus diesen bitteren Lektionen, und fangen an, selber Strategien zu entwickeln? Wann bilden wir endlich selber Denkfabriken und Netzwerke, um diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben?
Es ist immer noch nicht zu spät.
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen
<1> https://www.youtube.com/watch?v=LEoqusKeqxk
<2> https://www.youtube.com/watch?v=Ha-h5bPSxQE
<3> https://www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie/artikelseite-adsd/fes-portugal
Bildquellen:
https://commons.wikimedia.org; shutterstock
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Ich wollte schon erst spitzfindig bis kleinlich sein und schreiben, dass die portugiesische Geheimpolizei doch PIDE hieß und nicht DGS. Aber ich schaute nach und siehe da, sie hieß nur bis 1969 "Polícia Internacional e de Defesa do Estado" (PIDE) und danach eben bis zum Ende der Diktatur 1974 "Direcção-Geral de Segurança" (DGS). Ploppa lässt es sich natürlich nicht nehmen, sie als "faschistische Diktatur" zu bezeichnen, wobei sich da die Gelehrten auch streiten, denn im engeren Sinne war nur Italien unter Mussolini wirklich faschistisch, aber auch das ist nicht wirklich wichtig, sondern eine akademische Streitfrage. Den Konnex zwischen dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert mit seiner Ausrufung der Weimarer Republik 1919 und der nationalsozialistischen "Machtergreifung" 1933 herzustellen, ist dann allerdings doch etwas gewagt bis unfair…
10
Entscheidung im Januar
Das Schicksal der deutschen Revolution entschied sich in Berlin in der Woche vom 5. bis 12. Januar 1919. Diese Woche ist als »Spartakuswoche« in die Geschichte eingegangen – zu Unrecht. Was in dieser Woche vor sich ging, war kein kommunistischer Aufstand gegen die sozialdemokratische Regierung. Es war ein Versuch der Berliner Arbeitermassen, das am 9. und 10. November Errungene und inzwischen Verlorene noch einmal zu erringen, und zwar auf dieselbe Weise wie damals. Der 5. Januar war ein zweiter 9. November.
Aber was im November wenigstens scheinbar gelungen war, scheiterte im Januar völlig. Es scheiterte zum Teil daran, daß die Führung, die wiederum bei den Revolutionären Obleuten lag, noch planloser und unfähiger operierte als damals. Hauptsächlich aber daran, daß Ebert sich jetzt strak genug fühlte, das zu wagen, was er damals noch nicht gewagt hatte: nämlich die Revolution zusammenschießen zu lassen.
(…)
Draußen zwar, auf den märkischen Truppenübungsplätzen, formierten sich jetzt die Freikorps. Noch am Sonnabend hatten Ebert und Noske in Zossen das neugebildete Landesjägerkorps des Generals Maerker besichtigt, freudig erstaunt wieder »richtige Soldaten« vor sich zu sehen; Noske hatte dem zwei Köpfe kleineren Ebert auf die Schulter geklopft und gesagt »Sei nur ruhig, es wird alles wieder gut werden.« Aber das war Sonnabend in Zossen gewesen, und jetzt war Montag in Berlin, und unter den Linden stand kein Landesjägerkorps, sondern die bewaffnete Revolution.
Da war es mehr als willkomen, daß die am 29. Dezember aus der Regierung ausgeschiedenen USPD-Volksbeauftragten an diesem Montag ihre Vermittlung anboten. Ebert ging gerne darauf ein, zum mindesten war damit Zeit zu gewinnen. Er stellte nur eine Bedingung: Aufhebung der Zeitungsbesetzungen.
Darüber hatte der Revolutionsausschuß am Montagabend zu netscheiden. Hätte er ja gesagt, vielleicht wäre noch einmal alles ungeschehen zu machen gewesen. Aber er sagte nein.
Das Schauspiel, das diese handlungsunfähige Ungetüm von einem Ausschuß vom ersten bis zum letzten Augenblick bietet, ist erbarmungswürdig. Vorwärts konnte er nicht, zurück wollte er nicht. Der Stimmungsabsturz seit dem gestrigen Siegesrausch war zu steil; die Niederlage erkennen und zugeben, den Rückzug antreten: das war mehr, als die dreiundfünfzig innerhalb von vierundzwanzig Stunden seelisch leisten konnten.
Außerdem nagte an den dreiundfünfzig vielleicht auch ein heimlicher Zweifel, ob sie die Räumung der Zeitungen überhaupt garantieren könnten. Sie hatten die Besetzung ja gar nicht befohlen und über die bewaffneten Gruppen in den Zeitungsgebäuden überhaupt keine Gewalt, sie wußten in vielen Fällen noch nicht einmal, wer sie eigentlich kommandierte. In Wirklichkeit spielte in dieser Revolution der Revolutionsausschuß im Polizeipräsidium die Rolle des dummen August. Das aber durfte nicht herauskommen! Er sagte nein.
Ebert war das im Grunde recht. Er wollte keinen neuen Scheinfrieden mit der Revolution wie am 10. November. Er wollte die Abrechnung. (»Die Stunde der Abrechnung naht!« heißt es in einem von ihm formulierten Regierungsaufruf, der zwei Tage später, am 8. Januar, hinausging.) Während er die aussichtslosen Verhandlungen noch ein paar Tage hinauszog, traf er seine militärischen Vorbereitungen. Sie liefen auf zwei Linien.
Die eine war die Linie Noske. Die Linie der Freikorps. Noske war noch am Montag, in der halbbelagerten Reichskanzlei, zum Oberbefehlshaber ernannt worden. (»Meinetwegen«, hatte er nach eigenem Zeugnis erklärt, »einer muß der Bluthund werden.«) Er hatte sich sofort aus der Gefahrenzone wegbegen, mitten durch die bewaffneten Massen am Brandenburger Tor hindurch, die keine Ahnung hatten, wer der lange Zivilist mit der Brille war.
(…)
Aber seine Arbeit brauchte Zeit, und Ebert hatte keine Zeit. Immer noch herrschte ja in Berlin Generalstreik, immer noch waren die Zeitungen und Bahnhöfe besetzt, immer noch saß im Polizeipräsidium der Revolutionsausschuß, immer noch gab es im Osten und Norden große Massenaufmärsche. Wenn die Freikorps noch nicht marschbereit waren – konnte man mit den Berliner Truppen gar nichts anfangen? Ebert wollte es versuchen. Der eine oder andere Truppenteil mußte doch in Gottes Namen gegen die »Spartakisten« zu gebrauchen sein!
Auf dieser zweiten Linie bereitete er selbst den Gegenschlag gegen die Revolution vor, während er nebenbei immer noch verhandelte und seiner Abneigung gegen Blutvergießen Ausdruck gab. Und tatsächlich sollten die Berliner Truppen schließlich die Entscheidung bringen. Die Freikorps marschierten erst in Berlin ein, als die Schlacht geschlagen war.
Die Entscheidung fiel in den Tagen vom Donnerstag, dem 9. bis zum Sonntag, dem 12. Januar 1919. In diesen Tagen wurde auf Befehl Eberts die Revolution in der Hauptstadt zuasmmengeschossen.
(…)
12
Der Bürgerkrieg
Von Januar bis Mai 1919, mit Ausläufern bis in den Hochsommer hinein, tobte in Deutschland ein blutiger Bürgerkrieg, der Tausende von Todesopfern und unsägliche Bitterkeit hinterließ.
Dieser Bürgerkrieg stellte die Weichen für die unselige Geschichte der Weimarer Republik, die aus ihm geboren, und die Entstehung des Dritten Reichs, das in ihm gezeugt wurde. Denn er machte die Spaltung der alten Sozialdemokratie unheilbar, beraubte die übriggebliebene Rumpf-SPD aller Bündnismöglichkeiten auf der Linken und zwang sie in die Position einer ewigen Minderheit; und er erzeugte in den Freikorps, die ihn für die SPD-Regierung führten und gewannen, die Gesinnungen und Gewohnheiten der späteren SA und SS, die vielfach aus ihnen hervorgegangen sind. Der Bürgerkrieg von 1919 ist daher ein zentrales Ereignis der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts. Aber merkwürdigerweise ist er aus dem deutschen Geschichtsbild fast vollständig verschwunden, getilgt, verdrängt. Das hat seine Gründe.
Einer der Gründe ist ganz einfach Scham. Alle Beteiligten schämten sich der Rolle, die sie in diesem Bürgerkrieg gespielt haben. Die besiegten Revolutionäre schämten sich, daß sie so gar nichts Glorioses vorzuweisen haben, keinen Teilsieg, nicht einmal einen großartigen Untergang, sondern nur planloses Durcheinander, Entschlußlosigkeit, Versagen und Niederlage – und tausendfaches anonymes Leiden und Sterben. Aber auch die Sieger schämen sich. Sie bildeten eine Koalition von Sozialdemokraten und – Nazis. Und beide Partner dieser unnatürlichen Koalition haben später keine Lust gehabt zuzugeben, was sie getan hatten: Die Sozialdemokraten, daß sie die Vorgänger und Vorbilder der späteren SA und SS rekrutierten und die künftigen Nazis auf ihre eigenen Leute losließen; die Nazis, daß sie sich von Sozialdemokraten anwerben ließen und unter sozialdemokratischem Patronat Blut lecken lernten. Wessen alle Beteiligten sich schämen, das wird von der Geschichte gerne totgeschwiegen.
Ab er es gitb noch einen anderen Grund für das Verschwinden des Bürgerkriegs von 1919 aus der deutschen Erinnerung und dem deutschen Geschichtsbild: Er gibt keine gute »Geschichte« ab, nichts, das sich gut erzählt – kein Drama mit Spannung und einprägsamen Höhepunkten, keine zusammenhängende Handlung, keinen aufregenden Kampf zwischen ebenbürtigen Gegenern. Das blutige Geschehen wälzte sich träge durch Deutschland, ohne je das ganze Land auf einmal zu erfassen. Das qualmende Feuer flammte immer dann irgendwo wieder auf, wenn es anderswo gerade ausgetreten worden war. Es begann Anfang Februar, an der Nordseeküste, mit Bremen im Mittelpunkt, dann, Mitte Februar lag der Hauptkriegsschauplatz plötzlich im Ruhrgebiet, Ende Februar in Thüringen und Mitteldeutschland, Anfang und Mitte März in Berlin, im April in Bayern, im Mai in Sachsen; dazwischen gab es größere örtliche Episoden wie den Kampf um Braunschweig und Magdeburg und unzählige kleinere, von denen nur die Lokalchronik noch weiß: eine verwirrende, strukturlose Folge von unzusammenhängenden großen und kleinen Gefechten, Schlachten und Schlächtereien.
Der Ausgang stand jedesmal von Anfang an fest, und alles verlief nach demselben Schema, in ewiger, eintöniger Wiederholung. Die fünf, sechs Monate des Bürgerkriegs von 1919 lassen sich im einzelnen sowenig darstellen wie die fünf, sechs Tage der Revolution vom November 1918, deren Gegenbild sie waren. So wie sich damals überall in Deutschland, mit geringen örtlichen Abweichungen, immer wieder das gleiche abgespielt hat, so auch jetzt: damals der widerstandslose Sieg der Revolution, jetzt der nicht widerstandslose, aber unwiderstehliche Siegeszug der Gegenrevolution. Nur daß, was sich damals mit rasender Schnelligkeit vollzogen hatte, jetzt mit quälender, methodischer Langsamkeit vor sich ging; daß damals wenig Blut vergossen worden war, während jetzt Blut in Strömen floß; und daß damals die Revolution ein führungsloser, spontaner Akt der Massen selbst gewesen war, von dem sich die sozialdemokratischen Führer nur höchst widerwillig hatten an die Macht tragen lassen, während jetzt die Gegenrevolution eine systematische, befohlene militärische Aktion eben dieser sozialdemokratischen Führer war.
Denn daran ist kein Zweifel: Die Initiative zum Bürgerkrieg, der Entschluß dazu und daher auch – wenn man in diesen Begriffen denken will – die »Schuld« am Bürgerkrieg lagen eindeutig bei der sozialdemokratischen Führung, insbesondere bei Ebert und Noske. Die andere Seite bot ihnen allenfalls manchmal Vorwände zum Angriff, manchmal nicht einmal das. Eine »zweite Welle« der Revolution gab es nach dem Berliner Januar nur noch einmal, im April in München. Im übrigen waren Ebert und Noske von Anfang bis Ende in der Offensive. Wenn man verstehen will, was geschah, muß man sich vor allem in die Gedankengänge hineinversetzen.
Dabei braucht man sich mit Noske nicht lange aufzuhalten. Noske war ein primitiver Gewaltmensch, der Politik nach einem simplen Freund-Feind-Schema betrieb und mit der ebenso simplen Methode, auf jeden Feind jederzeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzudreschen. Seine späteren Schriften ebenso wie seine Taten weisen ihn als einen differenzierungsunfähigen, in Gewalttätigkeit verliebten Mann aus, der seiner ganzen Mentalität nach besser in die NSDAP als in die SPD gepaßt hätte. Doch Noske war nicht der Kopf des Bürgerkriegs. Er war nur Eberts rechte Hand – oder rechte Faust. Es ist Ebert an den man sich halten muß.
Ebert war kein Nazi, auch kein unbewußter, er war nicht differenzierungsunfähig. Er fühlte sich durchaus als Sozialdemokrat und auf seine Art als Arbeiterfreund. Seine Ziele waren die Ziele der Vorkriegs-SPD, so wie er sie vorgefunden hatte: Parlamentarisierung und Sozialreform. Aber er war kein Revolutionär. Die Revolution war für ihn sowohl »überflüssig« (sein Lieblingswort) wie illegitim. Er haßte sie »wie die Sünde«. Alles, was er wirklich wollte und immer gewollt hatte, war im Oktober 1918 mit der vom Kaiser gewährten Parlamentarisierung und dem Eintritt der Sozialdemokraten in die Regierung erreicht gewesen. Alles, was der November 1918 dem hinzugefügt hatte, war in seinen Augen Torheit, Mißverständnis und Unfug. Daß er der Revolution selbst notgedrungen hatte Lippenbekenntnisse leisten müssen, machte sie ihm nur noch unsympathischer.
Ebert hat der Revolution gegenüber nie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er sie verriet, eher grollte er ihr, daß sie ihn vorübergehend zum Doppelspiel gezwungen hatte, und ein schlechtes Gewissen hatte er höchstens der alten Ordnung gegenüber, weil er eine Weile den Revolutionär hatte spieln müssen; schlimm genug, aber in seinen Augen alles ungültig. Im Herzen war er die ganze Zeit der Statthalter des alten Staats und der alten Reichstagsmehrheit geblieben.
(Sebastian Haffner, Der Verrat – Deutschland 1918/19, Verlag 1900 Berlin, S. 123, 128/129, 151-153)
Hermann, Du hast gut herausgearbeitet, dass die Basisdemokraten viel zu zerstritten waren, als dass sie den gut organisierten Gegnern etwas entgegensetzen konnten.
Die Konsequenz ist, dass demokratische Bewegungen in revolutionären Situationen lernen müssen, mit unterschiedlichen Meinungen umgehen zu können. Differenzen dürfen nicht zu Spaltpilzen werden. Denn dann siegen unweigerlich die ausländischen und systemischen Kräfte.
"Wann bilden wir endlich selber Denkfabriken und Netzwerke, um diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben?"
Sichere , nicht überwachte Kommunikation bzw. Kommunikationsmittel, sowie nicht überwachte und sperrbare Konten sind eine fundamentale Voraussetzung dafür.
Siehe Michael Ballweg Interview mit Dirk Pohlmann.
Wann bilden wir endlich selber Denkfabriken und Netzwerke, um diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben?
https://staging.apolut.net/im-gespraech-michael-ballweg-2/
Digitaler Aktivist
https://digitaler-aktivist.de/
bitcoin – Weitere Informationen
https://staging.apolut.net/wp-content/uploads/2024/05/Bitcoin-Freiheitshandy-Links-und-Infos-apolut.pdf