von Gunther Sosna und Deborah Ryszka.
Die in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verherrlichte Logik der Konkurrenz wirkt zunehmend toxisch auf die sozialen Systeme. Sie reduziert die Menschen auf ökonomischen Wert, löst die zwischenmenschlichen Verbindungen auf und befeuert eine Rücksichtslosigkeit, die die sozialen Strukturen zerstört. Warum wird die Dominanz des Quantitativ-Ökonomischen als Leitwert akzeptiert?
Die Verteilung der Rollen
In der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist die Rollenverteilung eindeutig. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die Produktionsmittel kontrollieren und Grund und Boden besitzen, auf der anderen Seite finden sich jene, die ihnen ihre Arbeitskraft anbieten müssen, um die eigene Existenz zu sichern. Die Besitzenden verteidigen die materiellen Werte und Produktionsmittel gegen den Zugriff der besitzlosen Bevölkerungsschichten mit Hilfe von Politik, Bürokratie und Justiz und in letzter Konsequenz mit der Gewalt von Geheimdiensten, Polizei und Militär.
Um diese holzschnittartige Skizze nachzuvollziehen, muss niemand „Das Kapital“ [1] von Karl Marx gelesen oder ein Hochschulstudium absolviert haben. Man muss noch nicht einmal politisch links stehen, um die bipolare Ordnung zu erkennen, in der wir alle leben, und die viel älter ist als der Kapitalismus.
Die ewige Auseinandersetzung
Es ist auch keine neue Erkenntnis, dass im globalisierten Norden, der seinen Aufstieg der Ausbeutung der Entwicklungsländer verdankt, jede soziale Verbesserung von der arbeitenden Bevölkerung teilweise blutig erkämpft werden musste: Achtstundentag, Tarifverträge, Renten- und Arbeitslosenversicherung, Krankengeld et cetera sind das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen.
Die Mittel wurden zwar über die Jahrhunderte hinweg subtiler, die Ausgangslage blieb allerdings unverändert. Soziale Kämpfe sind eine zwingende Folge der unsozialen Verteilung der Wertschöpfung, und letztlich das Ergebnis der Ungleichverteilung von und der uneingeschränkten Verfügungsgewalt über Besitz, einem Grundpfeiler der Klassengesellschaften. Wer besitzt, hat ökonomische Macht, kann sich seine Paladine kaufen und herrschen: So einfach ist die Welt.
Die ewige Auseinandersetzung zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, von denen sich viele nicht arm fühlen, weil ihnen ein bescheidener Anteil am erwirtschafteten Wohlstand genügt, und die ohnehin kaum erahnen, was Reichtum bedeutet, befindet sich in seiner finalen Phase.
Das Schlachtfeld
Obwohl in der Welt objektiv kein Mangel mehr existiert, wie es der Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler [2]sinngemäß ausdrückte, wird immer verbissener selbst um die kleinsten Krümel konkurriert.
Die Klassen [3], vereint in Gemeinschaften, die die Gesellschaft abbilden, wurden und werden unter der Vorspiegelung eines falschen Wir-Gefühls extern in Konkurrenz zu anderen Klassengesellschaften gestellt. So zogen in der Vergangenheit selbst jene freiwillig Uniformen an und kämpften in den Schützengräben von Flandern, in den Weiten Russlands oder in den Reisfeldern Indochinas für eine Gesellschaftsordnung, die sie grob benachteiligte. Für die herrschende Klasse wurden Raubzüge geführt, in der trügerischen Erwartung, etwas abzubekommen vom Kuchen. Dabei stehen die Klassen intern in gnadenloser Konkurrenz.
Die Besitzenden, heute abgeschirmt durch Immobilien- und Finanzverwaltungen und hinter namenlosen Aktienpaketen verschanzt, haben mit der Normalbevölkerung genauso wenig zu tun, wie die Fürsten im Feudalismus nichts zu tun hatten mit den Bauern und Leibeigenen.
Die Gemeinschaften zerfallen. Die Vereinzelung der Menschen nimmt zu, und damit die Konkurrenz der Individuen. Der Druck im Kessel der Gesellschaft steigt. Die gespaltene und damit machtlose Masse, eine Melange aus Einzelschicksalen, gärt. Sie ist wegen ihrer Konsistenz aber längst Wachs in den Händen der Herrschenden, die sich ihr Klassenbewusstsein bewahren. Sie modulieren den gesellschaftlichen Brei für einen neuen großen Konflikt.
Dessen Schlachtfelder sind abgesteckt. Intern sind es vor allem Arbeitsplätze, Wohnraum, Energie, Wasser, Medizin, Bildung und Nahrung. Extern geht es um Ressourcen wie Erdöl, Edelmetalle und Ackerland. In allen Fälle gehört die Unterwerfung des Subjekts zum Konzept.
Freiheit ist nicht Freiheit, wenn sich Mensch verkaufen muss
Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han schreibt auf den ersten Seiten seines Buches “Psychopolitik”:
„Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein. Episode heißt Zwischenstück. Das Gefühl der Freiheit stellt sich im Übergang von einer Lebensform zur anderen ein, bis sich diese selbst als Zwangsform erweist. So folgt auf die Befreiung eine neue Unterwerfung. Das ist das Schicksal des Subjekts, das wörtlich Unterworfensein bedeutet.“
Während sich in der Epoche der Industrialisierung die Klassen sowohl ideologisch als auch optisch abgrenzten, und der Industriearbeiter an seiner abgetragenen Kleidung und seiner von harter Arbeit gezeichneten Körperlichkeit leicht zu identifizieren war, glich sich dieser in der aufziehenden und nun von der neoliberalen Strategie angetriebenen postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft mehr und mehr seinem sozialen Konkurrenten an.
Die körperliche Zeichnung wich der seelischen. Sein Dasein nennt er heute Freiheit. Die Freiheit, alles tun zu können, nichts aber tun zu müssen, sich dennoch zu verkaufen, ganz im Gegensatz zu den Sklaven der Antike, die sich ihrer Fesseln und Versklavung bewusst waren.
Wurde in der Industrie der Wert eines Menschen auf die Produktivität heruntergebrochen, wird er unter dem Eindruck zunehmender Automatisation, Rationalisierung und Digitalisierung auf seine Verkaufskraft verzwergt.
Wer sich verkaufen kann, erzielt einen Preis, wer sich nicht verkaufen kann, ist ein Versager und wer sich nicht verkaufen will, um jeden Preis, ist ein Leistungsverweigerer.
Der digitale Kapitalismus und die totale Konkurrenz
Produktion, Distribution und Konsumtion werden immer stärker dominiert durch Computer und Bildschirme. Die optische Veränderung kennzeichnet den Wandel vom industriellen in den digitalen Kapitalismus, der neue Innovationen, Effizienz, wirtschaftliches Wachstum und ungeahnte Perspektiven für Arbeit und Wertschöpfung hervorbringen soll. Was er auf jeden Fall hervorbringen wird, ist ein System der totalen Konkurrenz zwischen den Subjekten, die nichts weiter sind als Ware.
(…) Heute werden Menschen als Datenpakete für den wirtschaftlichen Gebrauch behandelt und gehandelt. Das heißt, der Mensch ist zur Ware geworden. Byung-Chul Han
Für die Besitzenden wird es im digitalen Kapitalismus immer unwichtiger, die Produktionsmittel zu kontrollieren. Um die Arbeitskraft abzuschöpfen, ist die Kontrolle der Vertriebskanäle und Transaktionswege wesentlich. Sie werden vom Subjekt, das mehr und mehr einem selbstausbeutenden Objekt ähnelt, zwingend benötigt, um sich und seine Fähigkeiten zu verwerten, also Einnahme zu erzielen.
Die benötigten Produktionsmittel werden ihm quasi umsonst hinterher geworfen: Webseiten, E-Mail-Adressen, Grafik- und Videoprogramme und allerlei elektronische Artikel. Und der Zugang zu Suchmaschinen, Businessplattformen und Sozialen Netzwerken natürlich, den digitalen Marktplätzen der Selbstverwertung.
Probleme erschaffen als Geschäftsmodell
Eine verkürzte Formel des dortigen Erfolgs lautet: Sichtbar werden im Netz, ein tatsächliches oder theoretisches Problem mittels (digitalem) Produkt oder (digitaler) Dienstleistung, die klonbar ist, lösen können und Kunden finden, die dieses spezielle Problem haben. Anders gesagt: Nicht der Mensch hat Probleme, sondern Probleme werden ihm hinterher getragen, weil er welche haben könnte, die er nur noch nicht kennt.
Dieser Mechanismus führt dazu, dass immer neue Probleme entstehen müssen, die von Ahornberatern, Bachblütenberatern, Work-Life-Balance-Beratern, Geldwohlfühl-Beratern oder sonstigen Beratern kostenpflichtig gelöst werden, bevor genau diese wieder neue Probleme erschaffen, um neue Kunden zu finden oder alten Kunden neue Probleme einzureden. Das Businessmodell braucht diese Dauerproblemfälle, um existieren zu können, so wie das Gesundheitswesen Chroniker braucht, die Versicherungen Überversicherte und die Juristerei den Streit durch alle Instanzen.
Die Spitze dieser sinnfreien Evolution der Produktivkräfte sind Marketingberater, die wie Pilze aus dem digitalen Boden sprießen und dem Subjekt erklären, wie es sich in dieser surrealen Welt richtig vermarktet. So entsteht ein perspektivloses Schneeballsystem, dass sich wie die Sonne selbst verdaut und irgendwann kollabiert. Dahinter kommt das Nichts, weil nichts mehr zu holen ist.
Der Selbstausbeuter als Konsument und Produzent
Der Soziologe Philipp Staab [5] verdeutlichte in seinem Essay „Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus“, dass sich Effizienzgewinne vor allem durch neue Formen der Selbstbedienung realisieren lassen.
Wo früher Personal benötigt wurde, um Bedürfnisse eines Kunden zu erkennen, um diesem im stationären Handel Waren zu verkaufen, lassen sich die anfallenden Personalkosten im Onlinehandel weitgehend durch digitale Programme gegen Null drücken.
Durch die Verschmelzung von Anbieter und Nachfrager, werden nun nicht mehr nur diese Kosten auf das Subjekt verlagert, sondern der entpersonalisierte User liefert alles: Arbeitskraft, Beratung, Kreativität, Inhalte und natürlich seine Aufmerksamkeit und schwindende Kaufkraft als Konsument. Was macht der Besitzer der Plattform? Er schöpft den Pool ganzheitlich über die durch die User realisierten Werbeeinnahmen und die Eigenwerbung der Anbieter ab.
Längst haben Anbieter und Käufer die Positionen getauscht. Kein Markt buhlt um Produkte, sondern der neue Typ des Selbstausbeuters ist Hersteller, Anbieter und Promoter in Personalunion, und muss sich seine Verwertungsoption – seine Zielgruppe – suchen.
Das unternehmerische Risiko geht zu 100 Prozent auf ihn über: Es entsteht ein digitaler Tagelöhner ohne soziales Sicherheitsnetz, der mit allen anderen digitalen Tagelöhnern konkurrieren muss.
Was nachgefragt wird, und was sich in bare Münze verwandeln lässt, weiß niemand so genau. Echte Werte finden aber immer Abnehmer: Gold, Silber, Platin, Diamanten, Kunstschätze, Häuser, Grundstücke. Was ist mit der menschlichen Arbeitskraft? Die gibt es in Massen. Sie verliert dramatisch an Wert am verflüssigten globalen Arbeitsmarkt.
Kaum Stars, massenhaft Loser
Was in der Vergangenheit den Künstlern, Schöngeistern und Gauklern als Schicksal vorbehalten war, Käufer für Kreativität und Geistesarbeit zu finden, erreicht nun langsam jeden Menschen und jeden Lebensbereich. Die größte Banalität, der schlimmste Unfall, die offensichtlichste Unsinnigkeit oder das schlichte Dasein, eingefangen als Foto, verewigt als Video oder auf Audiospur festgehalten, die vorher, nachher oder mittendrin mit Werbebotschaften veredelt werden, landen auf dem Markt der digitalen Beliebigkeit, um einen Preis zu erzielen.
Das gelingt sogar, so wie es dem einen oder anderen Spieler in einem Casino gelingt, über den Bankhalter zu triumphieren. Die paar Gewinner, die es gibt, werden abgefeiert wie Popstars und rumgereicht wie Sauerbier, weil sie doch der lebende Beweis seien, dass es jeder schaffen kann, in dem System der totalen Konkurrenz. Dahinter türmen sich die Berge der Verlierer auf, zugedeckt mit dem Mantel des eigenen Versagens. Sie sind die stummen Zeugen dafür, dass es eben nicht geht.
Alles, was im digitalen Schaufenster landet, ob nun aus Brasilien, England, Deutschland, Angola oder Indien eingestellt, ist potenziell ein gigantischer Verkaufsschlager, real dürfte der überwältigende Teil grandios floppen. Und dies nicht allein wegen der entlarvenden Sinnlosigkeit, die sich spätestens dann offenbart, wenn das Tausendste Ratgebervideo online gestellt wird, in dem ein Verkäufer seiner selbst der Menschheit erklärt, wie man sich richtig verkauft. Oder, wenn brandneue Apps angepriesen werden, “die dir helfen, mehr Wasser zu trinken” oder eine, die ans Wasserlassen erinnert.
Marionetten an den Fäden der Puppenspieler
Das Gestocher in der trüben Brühe der digitalen Nachfrage wirkt wie ein Brandbeschleuniger im sozialen Feuerball. Jeder steht mit jedem in Konkurrenz.
Die unsichtbare Hand des Nationalökonomen Adam Smith [6] ist längst zur ökonomischen Puppenspielerhand mit sakralem Charakter geworden. Die menschlichen Marionetten sind zu Sklaven des Geldes mutiert, die wie Junkies „alles“ tun – und die es auch wollen (!) –, was von ihnen erwartet wird, um an ihren „Stoff“ zu kommen. Ob nun der Angestellte, der Tagelöhner, der Vater oder die Gattin an den Fäden des götzenartig verklärten Marktes hängen, ist egal. Es verschafft dem Individuum offenbar Spaß und Befriedigung im Büro oder zu Hause nach der Pfeife der Puppenspieler zu tanzen.
Ohnehin verfügt kaum einer über die ökonomischen Möglichkeiten, noch über die psychische Kraft, geschweige den Mut, die Fäden, an denen er hängt, durchzuschneiden. Was ist die Konsequenz: Es wird weiter getanzt, und sei es bis in den Abgrund.
Für die digitale Puppenkiste, das Internet, bedeutet es: YouTube und Instagram sind die digital-zeitgenössischen Verkuppler der Influencer, die Follower ihr Klientel. Nicht das „was“ zählt, sondern das „wie viel“. Je mehr Klicks, desto besser oder: „Du bist, wie häufig du angeklickt wirst“. Wer nach den Regeln der wirtschaftlichen Hand tanzt, kann innerhalb der Marionettenkiste in der Wärme der Sicherheit bleiben, während hingegen die „widerspenstigen“ Puppen aussortiert werden.
Es zeigt, dass Max Webers [7] „Entzauberung“ längst zu einer „Verzauberung“ durch das Geld, und der quantitative Tauschwert zum absolut-moralischen Leitwert und Ideal avanciert ist. Es greift in allen gesellschaftlichen Bereichen um sich, sei es in der Öffentlichkeit oder im Privaten. George Ritzer [8] spricht von der McDonaldisisierung:
(…) der Vorgang […], durch den die Prinzipien des Fast-Food-Restaurants immer mehr Gesellschaftsbereiche in Amerika und auf der ganzen Welt beherrschen. George Ritzer (1998)
Das Quantitativ-Ökonomische zerstört das Soziale
Obgleich diese gegenwärtige Wettbewerbslogik als pseudosinngebendes System aufgefasst werden kann, auf das sich alle hyperglobal beziehen und somit interindividuell verbunden werden (die Marionettenhand als bindendes Moment), führt dieser Globalisierungsprozess nach Ritzer (2004) zu einer Nivellierung des sozialen Raums, die eine Bedeutungslosigkeit gemeinsam geteilter Werte sowie einen Bedeutungsverlust des sozialen Kontextes für Interpretationen des Handelns zu Folge hat und konsequenterweise in einer Destruktion des Sozialen mündet.
Was auf den ersten Blick die einzelnen Puppen durch den Leitwert des Geldes einander anzunähern scheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Trojanisches Pferd; nämlich als zwischenmenschliche Entfremdung und zunehmende Vereinzelung beziehungsweise Vereinsamung. Die Puppen spielen nach Regieanweisung der ökonomischen Hand nicht „miteinander“, sondern „nebeneinander“; in Fällen, wo es der Gesellschaft dient, sogar „gegeneinander“.
Die Prekarisierung von Arbeitsstellen ist so ein Beispiel. Aus der existentiellen Angst um den „bevorstehend-unvorhersehbaren“ Arbeitsplatzverlust, werden Arbeitskollegen zu Konkurrenten anstatt die Fäden der asymmetrisch-dominanten Anerkennung ökonomischer Spielregeln gemeinsam zu zerschneiden.
Der Wettbewerb wird der einzig gemeinsame zwischenmenschliche Wert
Durch das Akzeptieren der Fäden findet eine Verwechslung der eigenen ökonomisch-quantitativen Vorurteile der Dinge mit den Sachen selbst statt im Rahmen dessen nicht mehr der Wert „an sich“ zählt, wie Freiheit, Treue oder Ehrlichkeit, sondern einzig das ökonomische Übertrumpfen des Konkurrenten, also der Wettbewerb.
Nicht Wertorientierungen leiten den Einzelnen, sondern interindividuelle Konkurrenz. Die gegenwärtig-obsessive Fixierung auf die „Zahl“, sei es als materieller Profit, als Likes im Internet oder als quantitative Selbstvermessung, verdeutlicht dies. Die „Zahl“ im Sinne von materiellem Profit heiligt jedes Mittel und wird zum Machtsymbol.
„Die Symbole haben die Aufgabe, bei den Betroffenen Sinndeutungen auszulösen, die die Akzeptanz von gesellschaftlicher Macht zur Folge haben. Symbolische Gewalt ist also ein Prozess, der, um mit Bourdieu [9] zu sprechen, sowohl ein Erkennen beziehungsweise Anerkennen (reconnaissance) als auch ein Verkennen (méconnaissance) hervorruft“ (Peter, 2004).
Diese verkehrte Wettbewerbslogik wird wegen des Habitus unhinterfragt von den meisten Menschen akzeptiert:
Diese Bereitschaft, die als Verklärung von Macht- beziehungsweise Konkurrenzbeziehungen zu Sinnbeziehungen beschrieben werden kann, ist im Habitus [10] verankert und läuft insbesondere unbewusst ab. Gegenwärtig akzeptiert er das Quantitativ-Ökonomische als Leitwert und zum Beispiel Ziele von Managern, wie Pierre Bourdieu Tietmeyer zitiert:
Deshalb müssen die öffentlichen Haushalte unter Kontrolle gehalten werden und das Steuer- und Abgabenniveau auf ein langfristig erträgliches Niveau gesenkt, das soziale Sicherungssystem reformiert und die Starrheiten des Arbeitsmarkts abgebaut werden, denn wir werden nur dann wieder eine neue Wachstumsphase erleben, wenn wir – dieses „wir“ ist herrlich (Anmerkung Bourdieus) –, wenn wir auf dem Arbeitsmarkt eine Flexibilisierungsanstrengung vollbringen. Pierre Bourdieu (2003)
Bourdieu zufolge bedeutet es die einseitige Verlagerung der Verantwortung und des Handelns der „Machthaber“ auf die „Machtlosen“:
„Nur Mut, liebe Arbeiter! Vollbringen wir diese gemeinsame Flexibilisierungsanstrengung, die von euch gefordert wird!“ (Pierre Bourdieu, 2003).
Anders formuliert: Der Vorgesetzte baut den Mist, den die Mitarbeiter zu ihren Nachteilen ausbaden müssen und sogar wollen. So setzen es die Spielregeln der Marionettenpuppenhand fest.
Auch eine zunehmende Orientierung an der Masse unterstützt die dominierende Akzeptanz des Quantitativ-Ökonomischen:
Einen weiteren Versuch diese bedingungslose Akzeptanz einer verkehrten Logik sowie des gegenwärtigen Leitwertes des Quantitativ-Ökonomischen zu verstehen, bietet das Konzept der „Mimesis“ des Soziologen René Girard [11].
Nach diesem nimmt die Dominanz des Sozialen, eine Orientierung an der Masse, zu, was unter anderem in eine gedankenlose Übernahme gegenwärtiger Leitwerte resultiert und zudem eine sogenannte „Aneignungsmimesis“ hervorbringt: Es wird versucht, durch Imitation seinem Vorbild nahe zu sein.
Konkurriert dieser, entsteht eine mimetische Rivalität. Statt Wertorientierungen leiten der Wettbewerb oder die Konkurrenz mit ihrer Eigenlogik das menschliche Handeln. Die Marionetten orientieren sich an den anderen Puppen, die – wie sie selbst – durch die Fäden an die ökonomische Hand gebunden sind. Da zu wenig Platz für alle Puppen da ist, kämpfen sie gegeneinander um ihr „Holzleben“, den Strippenzieher vergessend.
Doch die ökonomische Marionettenkiste mit ihrer Logik des Wettbewerbs hat durchaus ihre Daseinsberechtigung. Kritisch wird es erst, wie oben beschrieben, wenn sie
(1) zum alleinstehenden, gesellschaftlichen Leitwert wird,
(2) sich in alle Lebensbereiche ausbreitet und
(3) unhinterfragt von ihren Teilnehmern akzeptiert wird,
so wie es gegenwärtig der Fall ist – mit der Folge, dass das soziale Miteinander zerstört wird.
Glanz der Freiheit
Obgleich die Versuchung – durch Geld und Follower – in der ökonomischen Puppenkiste zu bleiben groß ist, gilt es diesen Teufelskreis mittels Reflexion, Kritikfähigkeit und zivilen Ungehorsams zu durchbrechen. Dann ist auch genug Platz für jeden vorhanden.
Angelehnt an den römischen Kaiser Marcus Aurelius [12] könnte man auch sagen:
„Die Verkaufskraft hat ihren Glanz, größer aber sind der Glanz der Freiheit, Treue und Ehrlichkeit.“
So nähert sich das soziale Klima der Gesellschaft nicht weiter diabolischen Temperaturen an, sodass letzten Endes die Puppenkiste, unsere Gesellschaft, inklusive ihren Marionetten – ihre Bürgerinnen und Bürger –, vor dem Ausbrennen geschützt ist.
Quellen und Anmerkungen
[1] Eines der Hauptwerke von Karl Marx ist Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Es handelt sich um eine Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschaft. Das Kapital hatte weitreichenden Wirkungen in der Arbeiterbewegung und die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts.
[2] Jean Ziegler ist ein Schweizer Soziologe, Politiker und Sachbuchautor. Er gilt als einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Von 1967 bis 1983 und nochmals von 1987 bis 1999 war er Genfer Abgeordneter im Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung sowie Mitglied der UN-Task Force für humanitäre Hilfe im Irak. 2008 bis 2012 gehörte er dem Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats der UN an. 2013 wurde er erneut in dieses Gremium gewählt. Ziegler ist außerdem im Beirat der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control.
[3] Mit dem Begriff Klasse beziehungsweise Gesellschaftsklasse wird in den Sozialwissenschaften eine Klasse von Menschen mit gemeinsamen sozialen Merkmalen, vor allem wirtschaftlicher Art, bezeichnet.
[4] Byung-Chul Han ist Philosoph, Autor und Essayist. Han stammt aus Südkorea, lebt in Deutschland und war Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Han gehört zu den Initiatoren der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union, die Ende November 2016 veröffentlicht wurde.
[5] Philipp Staab (Jahrgang 1983) war zwischen 2008 und 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Nach seiner Promotion leitete er innerhalb der Forschungsgruppe „Zukunftsproduktion“ die Projekte „Der entbundene Bürger“ und „Der digitale Kapitalismus“. Staab war von 2016 bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter und ist seit 2017 permanent fellow am Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit. Zurzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Makrosoziologie der Universität Kassel tätig.
[6] Adam Smith (1723-1790) war ein schottischer Philosoph. Er gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie.
[7] Maximilian Carl Emil “Max” Weber (1864-1920) war ein deutscher Soziologe und Nationalökonom. Er wurde insbesondere durch seine protestantische Ethik Bekanntheit, die Protestantismus und Kapitalismus miteinander verbindet.
[8] George Ritzer (Jahrgang 1940) ist ein US-amerikanischer Soziologe, der das Konzept der „McDonaldisierung“ einführte.
[9] Pierre Félix Bourdieu (1930-2002) war ein französischer Soziologe. Bourdieu beschäftigte sich insbesondere mit Machtverhältnissen im gesellschaftlichen Kontext. Zu seinen bekanntesten Werken zählt „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ (1982).
[10] Nach Pierre Bourdieu manifestieren sich im Habitus drei Kapitalsorten: (1) ökonomisches Kapital (Geld und Eigentum), (2) soziales Kapital (soziale Beziehungen) und (3) kulturelles Kapital (Wissen und Qualifikation), die den sozialen Status festlegen.
[11] René Nöel Théophile Girard (1923-2015) war ein anthropologischer Philosoph. Er ist bekannt durch sein Konzept der „Mimesis“. Seine Mimetische Theorie stellt einen Zusammenhang zwischen Nachahmung und Gewalt her.
[12] Marcus Aurelius (121-180) – auch bekannt als Mark Aurel oder Marc Aurel – war der letzte römische Herrscher der „Pax Romana“, wie die über 200 Jahre andauernde Friedenszeit innerhalb des Römischen Reiches bezeichnet wird.
Weiterführende Literatur
Bourdieu, P. (2003): Das Modell Tietmeyer, S. 184-189. In: Jurt, J. (Hrsg.). absolute Pierre Bourdieu. Freiburg im Breisgau: orange-press.
Girard, R. (2009): Das Ende der Gewalt. Freiburg im Breisgau: Herder.
Han, Byung-Chul (2014): Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag.
Peter, L. (2004): Pierre Bourdieus Theorie der symbolischen Gewalt, S. 48-73. In: Steinrücke, M. (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Politisches Forschen, Denken und Eingreifen. Hamburg: VSA Verlag.
Ritzer, G. (1998): Die McDonalidisierung der Gesellschaft. Frankfurt a. M: Fischer Verlag.
Ritzer, G. (2004): The Globalization of Nothing. London/Delhi: Thousand Oaks.
Staab, Ph. (2016): Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus. Hamburg: Verlag Edition.
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Dieser Artikel erschien am 17.2.2019 auf www.neue-debatte.com
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