Im obskuren Distrikt der Begierde

Von Dirk C. Fleck.

Mir fiel eben ein Artikel aus den Neunziger Jahren in die Hände, der eine besondere Vorgeschichte hat. Ich war Redakteur bei MERIAN und betreute das Amsterdam-Heft. Zu den Aufgaben eines Heftredakteurs gehörte es, die Struktur der Ausgabe zu entwickeln, die entsprechenden Autoren für die einzelnen Beiträge zu suchen und ihre Texte zu bearbeiten. Es war mir gelungen, eine Reihe namhafter Schreiber zu engagieren. Von Martin von Amerongen über Cees Nooteboom, Sibylle Mulot, den heutigen Springer-Vorstand Mathias Döpfner bis zu Tilman Spengler, Helge Timmerberg und Roel van Duin war alles versammelt, was dem Heft eine besondere Färbung zu verleihen versprach. Tatsächlich waren die eingehenden Ergebnisse allesamt gut bis sehr gut. Bis auf einen.

Ausgerechnet der berühmteste unter den Autoren hatte ihn versemmelt. Den Namen möchte ich nicht nennen, aber der Text war nicht zu gebrauchen. Es ging um eine Reportage über den Amsterdamer Rotlichtbezirk. Bis zur Drucklegung waren es noch drei Tage. Also kam unser Chefredakteur Manfred Bissiger auf die Idee, mich kurzerhand nach Amsterdam zu schicken, um das Missgeschick auszubügeln. Da war ich also im obskuren Distrikt der Begierde, den ich auf die Schnelle zu porträtieren hatte. Zwei Tage schlich ich dort um die Ecken und saugte auf, was mir geboten wurde. Das Resultat war die folgende Reportage, die ich schon vergessen hatte, die aber jetzt, nach so vielen Jahren, die Erinnerung an dieses seltsame Wochenende wieder wach rief, als sei es gestern gewesen. Wir wollten uns doch wieder mehr Geschichten erzählen. Hier ist eine, die vielleicht von dem ganzen Corona-Mist, den wir zu ertragen haben, ein wenig ablenken könnte.

Er ging auf fantastische Weise aufrecht, als würde ihn ein Engel am Band führen. In der Hand jonglierte er einen weißen Spazierstock mit goldenem Knauf. Die gepflegten Rastalocken fielen auf den Samtkragen seines langen schwarzen Mantels, und unter der hohen Stirn blitzten Augen von solcher Klarheit, dass man glauben mochte, der Erlöser selbst habe im Sündenpfuhl Einzug gehalten. In seinem Gefolge schlenderten vier Jünger über die Brücke am Voorburgwal, jeder für sich ein Star, aber keiner nur annähernd mit jener Strahlkraft ausgestattet, wie sie dieser braune Prinz zur Schau trug. Er merkte, dass mich seine smarte Darstellung eines Zuhälters und Drogenbosses beeindruckte. Er schenkte mir sein strahlendstes Lächeln. Natürlich hatte er einen Diamanten im Schneidezahn.

Es war die Zeit der Metamorphose im Amsterdamer Redlight District. Die roten Vorhänge in den schmalen, sich der Straße zuneigenden Häuser begannen, sich nach und nach zu öffnen. Lieferwagen rückten ab, Baustellen wurden geschlossen. Der geschäftige Alltag zog seine Finger zurück und überließ das Terrain den Tätern und Opfern, den Begierigen und den Raubrittern. Dealer und Taschendiebe formierten sich an den strategisch wichtigen Stellen wie Geier.

Ich drehte eine erste Runde, um mir ein Überblick zu verschaffen. Bei Tage wirkt die Keimzelle Amsterdams mit ihren engen Gassen, mit ihren Grachten und Brücken wie ein Anachronismus, ein Pfahl im Fleische der Moderne. Dann besitzt sie die Autorität des Historischen, die schlagartig verloren geht, sobald die Neonzeichen erglühen und die Musik aus den Coffeeshops dröhnt. Wenn die Touristenbusse kommen, verwandelt sich das gewachsene Ambiente rund um die Oude Kerk in eine absurde Puppenstube der Lust. Plötzlich verströmt das Viertel diesen mittelalterlichen Lebkuchencharme, der die menschliche Ursünde in einer Art Zuckerguss zu konservieren scheint. Trotzdem war den Touristen nicht wohl bei der Ankunft. Sie bildeten kleine Pulks, als suchten sie den Schutz der Herde, während die Taschendiebe bereits um sie herumtänzelten.

Wer Zeit hat, sich auf dem buckeligen Kopfsteinpflaster an die besondere Gangart des Viertels zu gewöhnen, wird bald dieses gläserne Ticken im Ohr haben. Es ist das Geräusch, das die Ringe der Mädchen auf den Fensterscheiben machen. Die Freier, die dieses Ticken auslösen, rekrutieren sich aus fünf Männertypen: dem gut situierten Angestellten im Trench, Hände in den Taschen, hier und dort ein Preisangebot einholend; dem Spanner, der in respektierlichem Abstand zu den Fenstern bleibt und die Mädchen aufreizend langsam mit den Augen beleckt; dem jungen Hüpfer, der seinem Freund imponieren möchte, welcher schüchtern an der nächsten Ecke wartet. Natürlich sind auch die internationalen Proleten in ihren senffarbenen Lederjacken vor Ort. Und schließlich die Träger der schweren Traurigkeit: Männer, die verlassen wurden oder die Last einer unerfüllten Sehnsucht mit sich herumschleppen. Sie sortieren das Angebot wie in einem Pralinenladen.

The Girls In The Windows, wie sie dem Besucher an den Hotelrezeptionen als Attraktion empfohlen werden, spiegeln wider, was sich Holland in den Ländern, wo der Pfeffer wächst, unter den Nagel gerissen hat. Die Frauen sind nicht nur jung und schön, sie wissen auch zu animieren. Dabei agieren sie zwischen schüchternem Verlangen und lustvoller Zuneigung, ohne dass Routine erkennbar wäre. Sie hocken in rot beleuchteten engen Zellen, ausgestattet mit einem Bett und einem Waschbecken, unter dem sich bald nach Dienstbeginn eine feuchte Lache in die Auslegeware frisst.

Wenn sich in der Dämmerung die Mäntel und Jacken der Gaffer am Rauputz der Wände scheuern, wenn der Verkehrslärm spürbar anschwillt, wird der Gulden vergoldet. Bis zu zweitausend pro Schicht streicht so ein Freudenmädchen für ihren Zuhälter ein. Und die Freier, die ihre Favoritin hinter vorgezogenen Gardinen noch in anderen Händen wissen, hocken beim Bierchen im Amsterdamned, im Dreadlock, der Loading Zone” oder im Bulldog. Hier warten sie, dass die Kleine endlich fertig wird. Das regelmäßige Glockenspiel der mächtigen Oude Kerk, um die die Wohnkäfige der dunkelhäutigen Transvestiten gruppiert sind, scheint der ganzen Angelegenheit ihren Segen zu geben.

Im Morgengrauen, als das Wasser in den Grachten wie gebügelt da lag, als die Betrunkenen stieren Blickes davon wankten, als schließlich nur Geschöpfe mit Schorfwunden übrig blieben, überkam mich die Ernüchterung wie etwas, das im Preis der Nacht inbegriffen war. Opruiming! Alles moet weg!” stand im Schaufenster einer Lederboutique neben dem Grand Hotel Krasnapolski, dessen Eingänge seit Langem vernagelt sind. Die besseren Herrschaften wohnen nicht mehr in diesem Viertel. Sie kommen gelegentlich zu Besuch, inkognito versteht sich. Dann benehmen sie sich, als sei das Leben eine einzige zu unterschreibende Quittung.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: B_M Photography / shutterstock

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