Immanuel Kants 300. Geburtstag – Teil 3 | Von Wolfgang Effenberger

22. April 2024: Immanuel Kants 300. Geburtstag

Teil 3: Irritationen zum Abschied aus Kaliningrad

Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.

Vor der Abfahrt nach Danzig mit einem öffentlichen Bus – Tino Eisbrenner flog weiter nach Moskau zu einem Konzert – übergab uns Uli Hoppe von den Kaliningradern Friedensfreunden, die wir leider nicht persönlich kennengelernt hatten, eine mit dem Kant-Emblem und den Konferenzdaten bedruckte Einkaufstüte. Darin unter kleinen Aufmerksamkeiten das fragwürdige Buch “Beute des Großen Sieges Die Oblast Kaliningrad 1946-2021”. Verfasst von Alexander Zolov anlässlich der 50-jährigen Jubiläumsfeiern der Oblast Kaliningrad.

Irritierendes Abschiedsgeschenk

Es schien damals sehr wichtig, so Zolov, „genau und eindeutig festzustellen, warum, wie und von wem der Beschluss gefasst worden war, dieses Territorium unserem Land zu übergeben und das Recht darauf zu übertragen“(1). Und 2020, kurz vor dem 75. Jahrestag der Gründung der Oblast Kaliningrad, wendete sich ein Verlag mit dem Vorschlag an Zolov, das Buch neu aufzulegen, „um ein für alle Mal die Zweifel an der Bestimmung der Grenzen Russlands auszuschließen. Moderne Versuche der westlichen Politiker, Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und nämlich der Grenzen der Oblast Kaliningrad durchzuführen, veranlassten diese neue Veröffentlichung,“(2) so Zolov.

War es nicht eher die sich auf Konfrontation zuspitzende Weltlage? Darauf hatte der Vorstandsvorsitzende der Kaliningrader Regionalabteilung der Russischen Friedensstiftung, W. Gobulew, in seinem Einladungsschreiben zur 1. Internationalen öffentlichen Konferenz „Zum Ewigen Frieden“ zum 300. Geburtstag von Kant hingewiesen: „Seit 2022 hat sich die militärische und politische Eskalation zwischen Russland und den Ländern Europas deutlich verschärft.“ Deshalb sollten in Vorträgen und Diskussionen die verschiedenen historischen Perioden der russisch-deutschen Beziehungen der letzten 300 Jahre behandelt, „historische Parallelen erörtert und Schlussfolgerungen für das friedliche Zusammenleben unserer Völker in der Zukunft gezogen werden“.

Das war anscheinend von einflussreichen Kreisen nicht erwünscht.

Zurück ins alte Fahrwasser der Kriegspropaganda von 1914.

Für Zolov gehörte nach Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 der gutmütige Michel, „der mit einer Rauchpfeife im Mund und einem Bierkrug in der Hand einen Fremden vor der Tür seines Hauses freundlich begrüßte, der Vergangenheit“ an. Das neue Symbol Deutschlands sein nun „die Pickelhaube eines ahnenstolzen preußischen Offiziers, der bereit war, die Welt unter Anwendung von Gewalt mit deutscher Herrschaft zu ‘beglücken’.“

Doch von 1871 bis 1913 – in diesem Jahr wurde Kaiser Wilhelm II. weltweit als Friedenskaiser gefeiert – führte Deutschland im Gegensatz zu den Großmächten, keine imperialen Kriege:

• 1877–1878 Russisch-Osmanischer Krieg
• 1878–1880 Zweiter Britisch-Afghanischer Krieg
• 1880–1881 Erster Krieg der Briten gegen die Buren
• 1882 Britisch-Ägyptischer Krieg
• 1884–1885 Französisch-Chinesischer Krieg
• 1885–1886 Serbisch-Bulgarischer Krieg
• 1885–1886 Dritter Britisch-Birmanischer Krieg
• 1894–1895 Erster Japanisch-Chinesischer Krieg
• 1897 Türkisch-Griechischer Krieg
• 1898 Krieg der USA gegen Spanien
• 1899–1902 Krieg der USA gegen Philippinen
• 1899–1902 Zweiter Krieg der Briten gegen die Buren
• 1900 Russisch-Chinesischer Krieg
• 1903–1904 Britischer Tibetfeldzug
• 1904–1905 Russisch-Japanischer Krieg
• 1911–1912 Italienisch-Türkischer Krieg
• 1912–1913 Balkankriege

Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro hatten sich 1912 zu einem Staatenbund zusammengeschlossen und den Kampf gegen das Osmanische Reich aufgenommen.

Wegen unfairer Verteilung der eroberten Gebiete kämpfte Bulgarien dann im Zweiten Balkankrieg gegen die ehemaligen Verbündeten – letztlich verloren alle. Deutschland und Österreich-Ungarn hatten in diesem Konflikt zu vermitteln versucht.

Chronologie des europäischen Verhängnisses 1914

28. Juni: Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo durch in Serbien ausgebildete junge Terroristen (Schüler), die gefasst wurden. Österreich-Ungarn sah sich als existenziell bedroht an und wollte die weitere Unterminierung durch Serbien unmöglich machen.
23. Juli: Ultimatum von Österreich-Ungarn an Serbien mit der Forderung eines Mitwirkungsrechts bei der Untersuchung des Komplotts vom 28. Juni, die abgelehnt wurde.
28. Juli: Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien.(3)
29. Juli: Russische Teilmobilmachung.

Mittags teilte der russische Außenminister Sergei Sasonow dem deutschen Botschafter mit, daß die russische Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn beschlossen sei und in wenigen Stunden veröffentlicht werden solle. Der Botschafter bezeichnete diesen Schritt als für den Frieden äußerst gefährlich und wies, wie er dies schon wiederholt an den vorhergehenden Tagen getan hatte, darauf hin, daß die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn sich auch gegen Deutschland richte, da Deutschlands vertragsmäßige Verpflichtungen gegen diese Macht allgemein bekannt seien. Noch am gleichen Tage wurde jedoch die russische Gesamtmobilmachung beschlossen(4).

31. Juli: Russische Generalmobilmachung(5).

Brief des Zaren an Kaiser Wilhelm II.(6)

Die russische Mobilmachung Ende Juli 1914 hatte für Deutschland den sofortigen Krieg auf zwei Fronten gleichzeitig zur Folge. Der Aufmarsch der zahlenmäßig weit überlegenen russischen Streitkräfte bedeutete eine Bedrohung, welche die deutsche Regierung niemals und unter keinen Umständen untätig mit ansehen konnte(7).

Die Antwort von Kaiser Wilhelm II an Zar Nikolaus (8)

Die Julikrise bleibt ein umstrittenes Kapitel der Geschichte, und die Motive und Handlungen der beteiligten Mächte werden bis heute kontrovers diskutiert(9).

Es folgten unmittelbar Deutsche Ultimaten an Frankreich und Russland.

1. August: Französische (15:55 Uhr) und deutsche Generalmobilmachung (17:00 Uhr)
In Petersburg übergab der deutsche Botschafter, Graf Friedrich von Pourtalès (1853 – 1928) dem russischen Außenminister Sergei Dimitrijewitsch Sasonow (1860 – 1927) die deutsche Kriegserklärung. Unmittelbar am selben Abend besetzte eine russische Kosakenabteilung die deutsche Poststelle in Klein-Zwalinnen südlich Lötzen, eine andere russische Abteilung drang am 2. August 1914 in Sochen bei Soldau über die Grenze. Zur gleichen Zeit wurde das Postamt in Bilderweitschen, Kreis Stallupönen, von russischen Soldaten zerstört.
2. August: Deutsches Ultimatum an Belgien und Besetzung Luxemburgs.
3. August: Deutsche Kriegserklärung an Frankreich.
4. August: Deutscher Einmarsch in Belgien.
4. August: Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland.
6. August: Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland (wiki/julikrise).
Ungeachtet der von 1871 bis 1913 geführten Kriege soll nach Zolov die Gründung des Deutschen Reiches eine wesentliche Änderung der Kräfte-Konstellation in Europa gefördert haben:

„Die Erben der Teutonen zeigten ihre Kriegsmacht und standen mehrmals am Rande des Krieges. Die militärisch-politischen Blöcke wurden gebildet, die Spannung stieg. Als Folge begann der Erste Weltkrieg, in dem Deutschland sich zum Ziel setzte, weltweite Hegemonie zu erringen“(11).

Auf Seite 20 zeigt Zolov einen Kartenausschnitt der “Ostpreussischen Operation 1914” mit der im Osten aufmarschierten russischen Armee Rennenkampf und der im Süden operationsbereiten Armee Samsonow.

Wann die beiden russischen Armeen in Stellung gegangen sind und ihre Aufklärungstätigkeit in Ostpreußen aufgenommen haben, wird nicht erwähnt.

Dabei ist die Entwicklung der Mobilisierung und des Aufmarsches zur Beurteilung des Sachverhalts von entscheidender Bedeutung.

Noch in der Nacht zum 3. August 1914 tauchten Kosakeneinheiten bei Groß-Czymochen, nordöstliches Masuren im heutigen Polen auf. Die nahe gelegene Kreisstadt Marggrabowa kam am 14. August 1914 als erste deutsche Stadt in russische Hand. Es folgte am 19./20. August die Schlacht um Gumbinnen (heute die Stadt Gussew der Oblast Kaliningrad), in der die russischen Armeen die deutschen Truppen zum Rückzug zwingen konnten.

Der deutsche Schlieffen-Plan von 1898 sah vor, dass in Ostpreußen die 8. Armee zunächst den Angriff der russischen Njemen-Armee unter Rennenkampf rasch und vollständig abwehren sollte, bevor die aus Süden anrückende Narew-Armee unter Samsonow eingreifen konnte. Am 19./20. August 1914 gelang es den 200.000 Soldaten der Njemen-Armee, die 8. Deutsche Armee nach anfänglichem Erfolg unter schwersten Verlusten (über 9000 Tote in nur zwei Stunden) in ihre Stellungen zurückzuwerfen. Mit dem Rückzug hinter die Weichsel drohte der Verlust Ostpreußens.

Die 8. Armee, verstärkt durch 2 Korps von der Westfront, konnte dann in der Schlacht von Tannenberg bzw. Grünwald (26. bis 30. August 1914) einen entscheidenden Sieg erringen, was die russische Kriegsführung stark beeinflusste.

Zolov interpretiert diesen Vorgang wie folgt:

„Ein Wunder half den Deutschen wieder: nicht abgestimmte Handlungen der russischen Truppen, die Unüberlegtheit der Generalität, grobe Fahrlässigkeit des Generals Rennenkampf, der eine der russischen Armeen befehligt hatte, ließen die Deutschen den Sieg erlangen“(13).

Nein – es war kein Wunder: Der erfolgreiche Kampf an der Ostfront ist nicht zuletzt auf die kühnen jüdischen Kämpfer zurückzuführen, die alle Kultur, alle Gerechtigkeit, alle Duldung und Freiheit bedrohende Macht des russischen Zarentums brechen und die russischen Völkerschaften selbst und unter ihnen besonders die dortigen grauenhaft mißhandelten Glaubensgenossen retten wollten.(14)

Das amerikanische Blatt Reform Advocate bedauerte, dass England kämpfte, um das möglich zu machen. „Die Verfolgung der Juden ist nur symptomatisch. Wie der Jude seine Kräfte frei regen kann, ist die Kultur im Aufblühen, wo er unterdrückt ist, beweist dies den Niedergang der Kultur. Daher ist es bedauerlich, dass der englische Freisinn und Franzosen mit den Russen zusammengehen.“ Eine andere amerikanische Zeitung, The American Israelite, findet die Beteiligung Englands am Kriege unbegreiflich und protestiert dagegen, dass englisches Blut und englische Macht verwendete werden, um einen barbarischen Autokraten auf seinem schwankenden Thron zu stützen:

„Wir haben kein Interesse an der Erhaltung Russlands und noch weniger an der Erniedrigung Deutschlands….Die Einmischung Englands in einen Kampf, dessen Hauptzweck die Erhaltung der Kosakenherrschaft ist, mit ihrer Beugung jedes menschlichen Fortschritts, wäre eine solche furchtbare Schmach für die Menschheit wie für die englischen Interessen, dass wir kaum daran zu denken wagen.“

Gemäß dem französisch-russischen Kriegsplan (entwickelt auf der Basis der Französisch-Russischen Allianz von 1894) sollten dann die beiden russischen Armeen weiter auf Berlin marschieren und sich dann mit den Angriffsspitzen der französischen Armee vereinigen.

In der Folge scheiterten sowohl der deutsche Schlieffenplan von 1898 (Umfassung von Paris von Norden her) wie auch der französisch-russische.

Stimmen vor, während und nach dem 1. Weltkrieg

Im Frühjahr 1912 wurde Dr. Ferdinand Sauerbruch nach Davos zu einem fiebernden unbekannten Schwerkranken gerufen:(16)

“Sie tragen große Verantwortung! Ich muß am Leben bleiben! Es ist meine Aufgabe, Deutschland zu vernichten!”

Später fand Sauerbruch die Identität des Mannes heraus. Es war der russische Außenminister Wladimir Sasonow.

Ende September 1912 beim Herbstmanöver in Frankreich erhob Großfürst General Nikolajewitsch als russischer Vertreter das Glas:(17)

“Ich trinke auf unseren gemeinsamen Sieg in der Zukunft, auf Wiedersehen in Berlin, Messieurs.”

Nikolai Nikolajewitsch Romanow (1856-1929), dritter Sohn von Zar Nikolaus I. und dessen Frau, Großfürstin Alexandra Petrowna, geborene Prinzessin Alexandra von Oldenburg, war ein russischer General und Großfürst und einer der treibenden Köpfe für den Krieg gegen Deutschland. Dazu verstärkte er die enge militärische Zusammenarbeit mit Frankreich mit dem Ziel, das deutsche Reich zu zerschlagen, um dem Kaiserreich Österreich-Ungarn die Schutzmacht zu nehmen und damit die Herrschaft über den Balkan zu erringen. Am 2. August 1914 um 14 Uhr ernannte ihn sein Neffe Zar Nikolaus II. zum Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte.

Colonel House, 29. Mai 1914 aus Berlin an US-Präsident Woodrow Wilson:

„…das wird eines Tages noch zu einer Katastrophe kommen… da gibt es zu viel Hass, zu viele Eifersüchteleien. Sobald England einverstanden ist, werden Frankreich und Russland Deutschland und Österreich in die Zange nehmen.“

Auf dem Eucharistie-Kongress in Lourdes äußerte sich am 26. Juli 1914 Kardinal Murphy Farley, Erzbischof von New York, zu dem bevorstehenden Krieg:

„Der Krieg, der in Vorbereitung ist, wird ein Kampf zwischen dem internationalen Kapital und den regierenden Dynastien sein. Das Kapital wünscht niemanden über sich zu haben, kennt keinen Gott oder Herrn und möchte alle Staaten als großes Bankgeschäft regieren lassen. Ihr Gewinn soll zur alleinigen Richtschnur der Regierenden werden „Business einzig und allein.““(18)

Am 31. Juli 1914 telegrafierte der russische Botschafter in Paris, Alexander Petrowitsch Iswolski (1856-1919), nach St. Petersburg:

„Frankreichs Kriegsminister, in herzlicher und bester Laune, informierte mich, dass die Regierung sich verbindlich zum Krieg entschieden habe. Er bat mich, der Hoffnung des französischen Generalstabs Ausdruck zu verleihen, dass alle Bemühungen gegen Deutschland gerichtet sein werden…“(19)

Iswolski hatte als Gesandter(20) am Heiligen Stuhl unter Papst Leo XIII. die Französisch-Russische Allianz vom 4. Januar 1894 eingefädelt.(21) Zunächst ging es um die gemeinsamen Kolonialinteressen gegenüber dem mächtigen britischen Empire.

Nachdem 1904 (nach der Niederlage Russlands gegen Japan) Frankreich und Großbritannien ihre Interessengegensätze beilegten (Entente cordiale), folgte dann 1907 zwischen Großbritannien (damals unter Premierminister Henry Campbell-Bannerman) und dem Kaiserreich Russland (unter Nikolaus II.) der Vertrag von Sankt Petersburg. Deutschland war nun isoliert.

Iswolski übergab 1910 den Posten an Sasonow, um als Botschafter nach Frankreich zu gehen und den Krieg gegen Deutschland voranzutreiben. Kaiser Wilhelm II. zitierte ihn mit den Worten: «Je suis le père de cette guerre.», deutsch:

„Ich bin der Vater dieses Krieges.“(22)

Im Exil in Frankreich verbleibend, gehörte er nach der Oktoberrevolution zu den Unterstützern einer Militärintervention gegen Sowjetrussland.

Am 4. September 1914 brachte die “Allgemeine Zeitung des Judentums” auf der Titelseite den Artikel “Der Heilige Krieg” von Margarete Marasse.

„Mit einem starken Glücksgefühl, mit leuchtenden Augen sind im Augenblick einer nationalen Erhebung ohnegleichen auch alle jene zu den Fahnen geeilt, die sich im deutschen Vaterlande zur mosaischen Religion bekennen.“

Während des russischen Bürgerkriegs äußerte sich 1919 der Oberbefehlshaber der Freiwilligen Russischen Westarmee, Fürst Pawel M. Awalow-Bermondt, zur Ursache des ersten Weltkriegs:

„Die Hauptursache des Weltkriegs war die Intrige Englands, das allein diesen Krieg entfachte, um dadurch zwei große Völker, das russische und das deutsche, unschädlich zu machen. Die Hauptschuld am Beginn dieses Völkermordes trifft unzweifelhaft England.“(23)

Für Zolov endete der Erste Weltkrieg trotz der deutschen Erfolge auf den Kriegsschauplätzen mit der Niederlage Deutschlands:

„Deutschland unterzeichnete den entwürdigenden Friedensvertrag von Versailles, nach dem es Armee, Flotte, Kolonien und einen wesentlichen Teil seines Territoriums verlor. Preußen wurde kleiner: es gab dem wieder entstandenen Polen einen Teil des in früheren Zeiten geraubten Gutes zurück und überließ Litauen das Memelland“(24).

Hier unterschlägt Zolov den Verweis auf die schrittweise Aufteilung des polnisch-litauischen Staatsgebietes in den Jahren 1772 (1. Teilung), 1793 (2. Teilung) und 1795 (3. Teilung). Die Gebietsaufteilungen geschahen jeweils in gegenseitiger Absprache der Nachbarstaaten Russland, Österreich und Preußen.

Auch verschweigt Zolov, dass zwischen dem 5. November 1916 und dem 11. November 1918 ein von Deutschland und Österreich-Ungarn geschaffenes Regentschaftskönigreich Polen auf den Gebieten der seit dem Wiener Kongress 1815 zum Russischen Kaiserreich gehörenden Provinz Weichselland bzw. „Kongresspolens“ bestand. Nachfolger war ab dem 11. November 1918 die Zweite Polnische Republik.

Deutschland hat nach dem Krieg nicht geraubtes Gut zurückgegeben – diese Gebiete erhielt Polen durch den Versailler Vertrag.

Lenin nannte am 15. Oktober 1920 den Deutschland diktierten Vertrag von Versailles einen Raubfrieden:

„Deutschland wurde ein Frieden aufgezwungen, aber das war ein Frieden von Wucheren und Würgern, ein Frieden von Schlächtern, denn Deutschland und Österreich wurden ausgeplündert und zerstückelt. Man nahm ihm alle Existenzmittel, ließ die Kinder hungern und des Hungers sterben. Das ist ein ungeheuerlicher Raubfrieden.“(25)

„Das zerschlagene Deutschland war eigentlich einer Blockade unterworfen [bis zur Unterzeichnung des Friedensdiktats am 28. Juni 1919, W.E.], und nur der Vertrag von Rapallo, mit dem Sowjetrussland von 1922 half ihm, die diplomatische Isolation zu überwinden“(26), stellt Zolov folgerichtig fest. An diesem Vertrag war Lenin maßgeblich beteiligt.

Aus der Niederlage hätten die Deutschen wieder keine Lehren gezogen, so Zolov.

Beleidigt durch den entwürdigenden Vertrag von Versailles, erschrocken durch die Revolution und durch den wirtschaftlichen Zerfall ließ sich der deutsche Bürger leicht von den Erlösungsphrasen der neuen Retter, die Ordnung und Rache versprachen, einnebeln.

Das Volk, aus dem die großen Persönlichkeiten Bach, Beethoven, Goethe, Schiller, Koch und Röntgen hervorgegangen seien,

„begrüßte die Idee der “neuen Weltordnung”. Ostpreußen wurde wieder zu einem der Herde der künftigen Aggression. … Von hier aus stürzten die deutschen Panzer im September 1939 nach Warschau, um gegen das “historische Unrecht” des Vertrags von Versailles zu streiten.“(27)

Die deutschen Panzer konnten am 1. September 1939 nach „Warschau stürzen“, weil nur eine Woche zuvor, am 24. August 1939, in Moskau der deutsche Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und der russische Außenminister Wjatscheslaw Molotow den sogenannten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterzeichneten. In einem Geheimen Zusatzprotokoll wurden Polen und die Baltikumstaaten in eine deutsche, und eine sowjetische Interessensphäre aufgeteilt.

Am 17. September 1939 standen sich dann die sowjetischen und deutschen Truppen an der ehemaligen polnischen Ostgrenze von 1919 (sog. Curzon-Linie) gegenüber.(28)

Dieser sogenannte Hitler-Stalin Pakt kam für die Westmächte völlig überraschend.(29) Für Hitler bot der Nichtangriffspakt die Voraussetzung für die folgende Expansion nach Osteuropa.

Zum Abschluss des Chinabesuchs (17.-19. Mai 2024) Putins wurde im Paragraph 1 der “Gemeinsamen Erklärung der Volksrepublik China und der Russischen Föderation zur Vertiefung der umfassenden strategischen Kooperationspartnerschaft in der neuen Ära anlässlich des 75. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern” festgehalten:

„Die beiden Seiten werden weiterhin die Errungenschaften des Sieges des Zweiten Weltkriegs und der in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Weltordnung nach dem Krieg fest verteidigen und sich der Leugnung, Verzerrung und Fälschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs widersetzen.“(30)

Nun, die Charta der Vereinten Nationen – Anspruch und Wirklichkeit – wäre ein zentrales Thema auf der Konferenz „Zum Ewigen Frieden“ in Kaliningrad gewesen. Den Fokus nur auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs – beginnend erst mit Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 und unter Ausklammerung des Hitler-Stalin-Pakts zu legen, samt Bekämpfung von Leugnung, Verzerrung und Fälschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, wird nicht in eine bessere und friedlichere Welt führen. Die heutigen Verwerfungslinien in der Welt lassen sich weitestgehend auf den Ersten Weltkrieg zurückführen. Deshalb fand der französische General Charles de Gaulle als es um den französischen Beitritt zur Atlantik-Charta ging,(31) dass Erster und Zweiter Weltkrieg nicht zu trennen sind, und prägte im September 1941 in einer Radioansprache in London den Begriff von

„la nouvelle Guerre de Trente Ans“ (der neue Dreißigjährige Krieg).(32)

Churchill schrieb 1944 an Stalin von einem „dreißigjährigen Krieg von 1914 an“.(33) Raymond Aron benutzte ihn im Vergleich mit dem Krieg zwischen 1618 und 1648 und dem Westfälischen Frieden in den 1950er Jahren zur Beschreibung des Weltkriegsgeschehens 1914–1945.(34)

Unser Besuch in Kaliningrad hat eine berührende Erinnerung hinterlassen. Eine ältere Kaliningrader Bürgerin hat uns im Schloßpark unbedingt zu einem Denkmal führen wollen.

Es handelte sich um das monumentale Denkmal für den Kapitän der sowjetischen U13, Alexander Iwanowitsch Marinesko (1913-1963).

Der Held der Sowjetunion hatte am 30. Januar 1945 in der südlichen Ostsee den deutschen Truppentransporter Wilhelm Gustloff (ehem. Kreuzfahrtschiff) mit 6.000 Wehrmachtsoffizieren und Mannschaften versenkt – so ist auf der Tafel zu lesen.

Der MDR berichtete am 30. Januar 2020, dass 10.582 Menschen an Bord waren: 8.956 Flüchtlinge aus Ostpreußen, Westpreußen, Danzig und Pommern, davon rund 5.000 Kinder. 918 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften der 2. Unterseeboot-Lehrdivision Gotenhafen. 373 Marinehelferinnen. 162 Schwerverwundete des Heeres. 173 kriegsverpflichtete Besatzungsmitglieder der Handelsmarine. 9.343 Menschen kamen um, 1.239 wurden gerettet.(35)

Für die Versenkung wollte Marinesko als Held der Sowjetunion anerkannt werden. Da er aber sonst durch mangelnde Disziplin aufgefallen war, wurde ihm dies verwehrt. Nach dem Krieg unehrenhaft aus der Marine entlassen, verbrachte er wegen Diebstahls zwei Jahre im Straflager. 1963 starb er in Leningrad. 1990 jedoch, 27 Jahre nach seinem Tod, wurde Marinesko rehabilitiert und von Michail Gorbatschow posthum zum Helden der Sowjetunion ernannt. In Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, wurde Marinesko durch die Namensgebung eines Pregelufers – Wanderweg von Kant – und eines Ehrenmals am Schlossteich geehrt.(36)

Heilung und Frieden wird es nur geben, wenn wir uns mit der Vergangenheit versöhnen und uns ihr so wahrhaftig wie möglich nähern. Dann erst ist man in der Lage, gegen Leugnung, Verzerrung und Fälschung der Geschichte anzugehen.

Auf der Kant-Konferenz “Zum Ewigen Frieden” sollten im Kontext von Kants Abhandlung

„Fragen und Beispiele zu den Voraussetzungen, Ursprüngen und Ergebnissen vergangener militärischer Konflikte, den Mustern und Motivationen der Initiatoren dieser Konflikte und der Gruppen, die diese Konflikte unterstützen, aufgeworfen und untersucht werden.“(37)

Die Teilnehmer sollten ihre Visionen und Vorschläge dazu äußern,

„wie eine friedliche Zukunft gestaltet werden kann und welche Rolle die deutsche und die russische Öffentlichkeit in diesem Prozess spielen könnten“(38).

Hoffen wir, dass im April 2025 die II. Internationale gesellschaftliche Konferenz stattfinden kann. Sie ist dem 230-jährigen Jubiläum von Kants politischem und philosophischem Traktat “Zum ewigen Frieden” gewidmet.

Hier die Links zu den beiden vorangegangenen Teilen:

Immanuel Kants 300. Geburtstag – Teil 1 | Von Wolfgang Effenberger – staging.apolut.net

Immanuel Kants 300. Geburtstag – Teil 2 | Von Wolfgang Effenberger – staging.apolut.net

Anmerkungen und Quellen

 

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete “atomare Gefechtsfeld” in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie “Die unterschätzte Macht” (2022)

1) Alexander Zolov: Beute des Großen Sieges Die Oblast Kaliningrad 1946-2021. 2020, S. Vorwort

2) Ebda.

3) Zur Erinnerung: nur 27 Tage nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 griffen die USA ohne Kriegserklärung Afghanistan an, aus dem nachweislich keine Terroristen beteiligt waren und hinterließen nach 20 Jahren Krieg nur verbrannte Erde)

4) Rene Puaux: Les Etudes de la Guerre, Heft 2, S. 131

5) https://wwi.lib.byu.edu/index.php/3._Die_russische_Gesamtmobilmachung

6) https://de.alphahistory.com/worldwar1/Nicky-und-Willy-Telegramme-1914/

7) http://www.erster-weltkrieg.com/dokumente/buelow/05_03.htm

8) https://de.alphahistory.com/worldwar1/Nicky-und-Willy-Telegramme-1914/

9) https://de.wikipedia.org/wiki/Julikrise

10) Schlacht bei Gumbinnen 1914, Gumbinner Heimatbrief, Juni 2014, S. 36

11) Alexander Zolov: Beute des Großen Sieges Die Oblast Kaliningrad 1946-2021. 2020, S. 19

12) Schlacht bei Gumbinnen 1914, Gumbinner Heimatbrief, Juni 2014, S. 36; https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Gumbinnen#/media/Datei:Bitwa_pod_Gąbinem_-_20_VIII_1914_(3).jpg

13) Zolov a.a.O., S. 19

14) Vgl. Wolfgang Effenberger/Reuven Moskovitz: Deutsche und Juden vor 1939. Ingelheim a. Rhein 2013, S. 211

15) Carte du plan XVII de concentration de l’armée française, avec les opérations prévues ; ce plan fut valable à partir du 14 avril 1914 et appliqué en août de la même année.

16) Ferdinand Sauerbruch: Das war mein Leben. Bad Wörishofen 1951, S. 186 ff.

17) https://archive.org/stream/WolfgangEggertIsraelsGeheimvatikanBand12001/Wolfgang%20Eggert%20-%20Israels%20Geheimvatikan%20Band%201%202001_djvu.txt

18) Michael von Taube: Der großen Katastrophe entgegen, Leipzig 1937, S.379

19) Zit. wie Sidney Bradshaw Fay: Origins oft he world war, Bd. II. New York 1930, S. 531

20) Nach seiner erfolgreichen Tätigkeit am Heiligen Stuhl war Iswolski zunächst russischer Gesandter in Belgrad (1897), München (1897–1899), Tokio (1899–1903) und Kopenhagen (1903–1906), bevor er 1906 von Zar Nikolaus II. zum Außenminister berufen wurde. 1910 wurde Iswolski Botschafter in Paris

21) William L. Langer: The Franco-Russian Alliance 1890–1994. New York 1967.

22) Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten 1878–1918. Verlag K.F. Koehler, Leipzig/Berlin, 1922, S. 219

23) https://www.zeitenschrift.com/artikel/der-dreissigjahrige-krieg-von-1914-bis-1945

24) Zolov a.a.O., S. 20

25) https://www.nd-archiv.de/artikel/965252.lenin-nannte-versailles-einen-raubfrieden.html

26) Zolov a.a.O., S. 24

27) Ebda. S. 21

28) Hitler wollte ursprünglich eine Teilung Polens entlang der Weichsel, was Stalin ablehnte.

29) http://www.zeit.de/2014/35/zweiter-weltkrieg-hitler-stalin-pakt

30) https://www.chinanews.com.cn/gn/2024/05-16/10217948.shtml

31) Vgl. René Cassin am 24. September 1941 in London: „Wenn ein derartiger Versuch (d. i. die Schaffung einer neuen europäischen Friedensordnung) nach dem seit vor fast dreißig Jahren begonnenen Krieg gescheitert ist, liegt das nicht vor allem daran, dass die nachfolgende Periode nichts als eine Waffenruhe war, während Deutschland, weil es unsinnige Gelüste bei anderen erweckte, nur an Revanche dachte?

32) Antoine Prost/Jay Winter, Penser la Grande Guerre. Un essai d’historiographie, Paris 2004, S. 33.

33) Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941–1945, Berlin 1961, S. 254. – In seinem Buch “The Gathering Storm”, Boston 1948, S. VII, kommt Churchill auf den Begriff zurück.

34) Wissenschaftlich wurde der Begriff erstmals Gegenstand in der Studie von Albert Muller, S. J.: La seconde guerre de trente ans, 1914–1945, Bruxelles/Paris 1947; vgl. Gerhard Hirschfeld: Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung. Aus: Politik und Zeitgeschichte. B 29-302004

35) https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/zweiter-weltkrieg/1945/untergang-fluechtlingsschiff-wilhelm-gustloff-ostpreussen-100.html

36) https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Iwanowitsch_Marinesko

37) Einladungsschreiben von W. Golubew Vorsitzender des Vorstands der “Kaliningrader Regionalabteilung der Russischen Friedensstiftung”

38) Ebda.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Irina Borsuchenko / Shutterstock.com

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Kommentare (2)

2 Kommentare zu: “Immanuel Kants 300. Geburtstag – Teil 3 | Von Wolfgang Effenberger

  1. Maga Daskar sagt:

    Es gab doch eine Vorgeschichte, die zu dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt führte, nämlich die erfolglosen Versuche Stalins, eine Art Bündnis gegen Hitlerdeutschland zusammen mit England und Frankreich zu initiieren…

    • Nevyn sagt:

      Es gibt immer eine Vorgeschichte und es gibt immer eine Vorgeschichte zur Vorgeschichte. Auf diese Weise findet jeder die ihm genehme Schuldprojektion, aus der er sein persönliches Denken und Handeln moralisch rechtfertigen kann, einschließlich seines Missionierungsdranges.

      Nur, was hat das alles mit Kant zu tun?

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