Ein Kommentar von Thomas Röper.
Kasachstan ist eines der Länder, in denen der Westen um Einfluss gegen Russland buhlt. Daher ist es aus geopolitischer Sicht hochinteressant, auch wenn deutsche Medien kaum darüber berichten.
Die USA versuchen entlang der russischen Grenze, also im postsowjetischen Raum, Länder auf ihre Seite zu ziehen und gegen Russland in Stellung zu bringen. Ein wichtiges Land, das dabei im Fokus steht, ist Kasachstan, über das in Deutschland nur wenig bekannt ist.
Ein wenig Hintergrund
Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 entstanden an ihrer Stelle 15 unabhängige Staaten. Einer der Staaten, die ihre Unabhängigkeit erlangten, war Kasachstan, das sich für eine Präsidialrepublik entschied; was bedeutet, dass der Präsident im Land die Schlüsselrolle einnimmt und der Inhaber dieses Amtes über alle Richtungen der Politik des Landes bestimmt. Kasachstan ist derzeit ein exportorientierter Rohstoffstaat mit einer Fläche von 2,7 Millionen Quadratkilometern, was es zum neuntgrößten Land der Welt macht. Zum Vergleich: Das entspricht der Gesamtfläche von Westeuropa.
Interessant ist jedoch, dass Kasachstan trotz seiner riesigen Fläche nur eine Bevölkerung von etwa 20 Millionen Menschen hat. Das ist auf das überwiegend raue Klima und die Tatsache zurückzuführen, dass der größte Teil des Landes von Steppen bedeckt ist, in denen es schwierig ist, große Siedlungen zu errichten.
Mit der Steppe sind alle kulturellen und traditionellen Ansichten der ehemaligen Nomaden verbunden. Wichtig ist dabei die Länge der Grenze zwischen Russland und Kasachstan, die etwa 7.500 Kilometer <1> lang ist.
Die russisch-kasachischen Beziehungen unter Präsident Nasarbajew
Während der gesamten Geschichte der kasachischen Unabhängigkeit wurde das Land von nur zwei Präsidenten regiert: Nursultan Nasarbajew, der inzwischen offiziell im Ruhestand ist, und Kasim-Schomart Tokajew, der jetzt an der Macht ist. Die Geschichte der russisch-kasachischen Beziehungen lässt sich nach diesen beiden Persönlichkeiten in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ unterteilen.
Bis 2019 verfolgte Kasachstan eindeutig den Weg der Neutralität, stand aber näher an Russland. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten stützten sich vor allem auf ein gemeinsames historisches Gedächtnis, eine Vielzahl gemeinsamer Programme für Bürger, die aus verschiedenen Gründen auf die eine oder andere Staatsbürgerschaft wechseln wollten, sowie auf die Zusammenarbeit in vielen wichtigen Bereichen. Die Zusammenarbeit in der Raumfahrt war zum Beispiel einer dieser Bereiche.
Ausschlaggebend für die Kooperation zwischen den beiden Staaten war der sehr hohe Prozentsatz der russischsprachigen und ethnisch russischen Bevölkerung, die in Kasachstan lebt und die kasachische Staatsbürgerschaft besitzt. Auf dieser Grundlage wurden vertrauensvolle und gutnachbarschaftliche Beziehungen aufgebaut, die von beiden Seiten voll unterstützt wurden.
Russland war auch einer der wichtigsten Handelspartner Kasachstans <2> und erst gegen Ende der letzten Jahre der Präsidentschaft Nasarbajews begann China, dem Handel mit Kasachstan eine höhere Priorität einzuräumen.
Auch auf kultureller Ebene wurde ein Austausch über Botschaften und Konsulate eingerichtet. So gibt es beispielsweise im Zentrum der kasachischen Hauptstadt Astana ein russisches Kulturzentrum <3>.
Diese Beziehungen waren eine logischen Folge der gemeinsamen Vergangenheit der Länder. Es waren die aktiven Programme zur Umsiedlung von Russen nach Russland und von Kasachen nach Kasachstan, die dazu beitrugen, die bestehenden Traditionen zu verändern. Jedes Jahr blieben weniger Russen in Kasachstan und es wurde für Russland immer schwieriger, das Nachbarland in der Umlaufbahn seines Einflusses zu halten. In den 22 Jahren von 1999 bis 2021 halbierte sich der Anteil der ethnischen Russen an der kasachischen Bevölkerung von 30 Prozent auf 15 Prozent.
Der Grund waren nicht nur die Umsiedlungsprogramme, sondern auch die für kasachische Familien charakteristische höhere Geburtenrate. So sehen manche durchschnittliche russische Familien in Kasachstan zwei Kinder schon als zu viel an, während eine gewöhnliche kasachische Familie fünf oder sechs Kinder hat. In den mehr als 30 Jahren der Unabhängigkeit hat sich die ethnische und demografische Zusammensetzung Kasachstans daher drastisch verändert und in der Gesellschaft sind viele neue Trends entstanden. Viele junge Menschen wurden nach dem Zusammenbruch der UdSSR geboren und vielen fehlt daher die “kollektive Erinnerung” an die gemeinsame Vergangenheit mit Russland, die die älteren haben.
In die Zeit von Nasarbajews Präsidentschaft fällt auch der Prozess der Bildung nationaler Mythen. Jeder junge Staat, der gerade seine Unabhängigkeit erlangt hat, kommt zwangsläufig zu dem Schluss, dass die Gesellschaft auf der Grundlage der Nation (nicht zu verwechseln mit der ethnischen Zugehörigkeit) geeint werden muss. Der Kern eines jeden modernen Staates ist die Nation, die erst einmal nichts mit ethnischer Zugehörigkeit zu tun hat, wie Vielvölkerstaaten beweisen, sondern mit Staatsbürgerschaft.
Unter Nasarbajew begann der Aufbau eines nationalen Mythos. Den Kasachen, ursprünglich ein Nomadenvolk ohne eigene Schrift und eigene Staatlichkeit, wurden dank moderner Medien wie Film, Bücher und dann auch Internet vorher wenig bekannte historische Ereignisse in einem neuen Licht gezeigt. Plötzlich erfuhren sie, dass sie Vertreter einer großen Nation mit einer eigenen Geschichte und eigenen Helden sind.
In der Sowjetunion wurden diese Geschichte nicht verheimlicht oder unterdrückt, die Sowjetunion hat die Identitäten aller ihrer Völker (mit Ausnahme der Zeit des Zweiten Weltkrieges, als einige Volksgruppen deportiert wurden) geschützt und ihre Traditionen gefördert, solange sie nicht in offenen Widerspruch zur Staatsideologie traten.
Aber um die Herzen und Köpfe der jungen Menschen in Kasachstan zu erobern und ihnen ihre Nation nahe zu bringen, wurden die nationalen Geschichten und Erzählungen über die Heldentaten der Vergangenheit ein wenig „ausgeschmückt“. So kam der Nationalismus nach Kasachstan.
Nasarbajews Amtsenthebung
Gegen Ende seiner Präsidentschaft sah sich Nasarbajew mit diesem Phänomen konfrontiert. Nasarbajew balancierte auf einem schmalen Grat zwischen dem wachsenden Nationalismus und einer ausgewogenen Politik, die eine gesunde, unabhängige Nation führen sollte, und schaffte es nicht, seinen Nachfolger Kasim-Schomart Tokajew dazu zu bringen, dieses Gleichgewicht zu halten.
Schon unter Nasarbajew begannen westliche NGOs das Land zu infiltrieren, um Kasachstan von Russland zu trennen. Insbesondere die Fonds von Soros sind seit 1995 in dem Land aktiv, als der günstigste Zeitpunkt für ein erfolgreiches Eindringen in alle neuen unabhängigen Staaten der ehemaligen UdSSR gekommen war und Soros seine Stiftungen im gesamten ehemaligen Ostblock gründete. Damals war Russland selbst am Boden und konnte in keiner Weise reagieren, zumal auch in Russland selbst der Einfluss von Soros und anderen westlichen NGOs damals groß war.
Im Laufe der Zeit wurden ihre Aktivitäten in Kasachstan zwar ein wenig unter Kontrolle gebracht, aber nicht auf ein Minimum reduziert. Materialien zur Festigung der Abspaltung von Russland wurden im Land frei verteilt und es fanden Ausstellungen zur sogenannten „Entkolonialisierung“ und zur Verherrlichung der nationalen Kultur und Sprache statt.
In den Jahren 2018 und 2019 erreichte ihr Einfluss einen Höhepunkt und es gelang, den damaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew zu stürzen. Nach der kasachischen Verfassung <4> übernimmt im Falle der Absetzung des amtierenden Präsidenten der Vorsitzende des Senats des kasachischen Parlaments dessen Aufgaben, und das war zu diesem Zeitpunkt Tokajew.
Das sah wie ein klassischer Konflikt zwischen Legislative und Exekutive aus. Bei der klassischen Gewaltenteilung ist der Präsident die Exekutive und das Parlament die Legislative. Der Durchschnittsbürger Kasachstans konnte sich damals nur wundern, warum Nasarbajew genau in diesem Moment seine Befugnisse an Tokajew übergab. Nach außen hin war das eine im Voraus geplante Abdankung und Nasarbajews „ehrenvoller Rücktritt“.
Was sich hinter den Kulissen abspielte, wurde etwas klarer, als eine Reihe von Vertretern von Nasarbajews Familie aus allen Machtstrukturen entfernt wurde <5>. Bald darauf fanden in Kasachstan vorgezogene Präsidentschaftswahlen statt, bei denen Tokajew knapp über 70 Prozent der Stimmen erhielt.
Den Nationalismus zügeln
Wie jeder ehrgeizige Politiker, dem es gelungen ist, seinen Vorgänger zu verdrängen, glaubt auch der jetzige Präsident Tokajew wahrscheinlich wirklich, dass er den Grundstein für etwas Größeres und Neueres legen kann, das Jahrhunderte überdauern wird. Er weiß sehr wohl, dass der Nationalismus in den südlichen Regionen Kasachstans auf dem Vormarsch ist und dass die Karte, die er bei den politischen Reformen ausgespielt hat, fast zur Katastrophe geführt hätte.
Dabei geht es um den Putschversuch vom Januar 2022 <6>. Kurz vor dem Beginn der Eskalation in der Ukraine brachen im Süden Kasachstans blutige Unruhen von fundamentalistischen Islamisten und kasachischen Nationalisten aus. Es wurden 238 Menschen getötet und 4.353 verletzt, wobei es auch zu öffentlichen Enthauptungen kam.
Als Tokajew erkannte, dass er mit dieser blutigen Welle nicht allein fertig werden konnte, rief er die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu Hilfe, die sofort Spezialtruppen entsandte <7>, die die Stabilität und Sicherheit in Kasachstan schützen konnten.
Danach wurde Tokajews Außen- und Innenpolitik sehr viel kalkulierter und vorsichtiger, insbesondere gegenüber Russland. Es ist unwahrscheinlich, dass er Russland gegenüber Dankbarkeit empfindet, aber er ist sich sicher bewusst, dass er dem Land, das seinen Staat und seine Präsidentschaft geschützt hat, Dankbarkeit entgegenbringen sollte.
Derzeit muss der kasachische Präsident den zunehmenden Nationalismus, dem er selbst nachgegeben hat, eindämmen, um an der Macht zu bleiben und seine Beliebtheit bei den Wählern zu steigern. Seine jüngste Rede über die Rolle der russischen Sprache im Lande <8> ist ein Beweis dafür, denn er hat in deutlichen zur Achtung des Russischen in Kasachstan aufgerufen.
Solange Tokajew an der Macht bleibt, wird er wahrscheinlich in der Lage sein, die steigende Flut von Nationalisten, die die Macht an sich reißen, die Russen aus dem Land jagen, die Zusammenarbeit mit Russland beenden und das Land im Ergebnis für westliche Konzerne öffnen wollen, aufzuhalten. Es ist jedoch nicht sicher, was mit dem Land nach dem Abgang Tokajews geschehen wird.
Wie es weitergehen könnte
Da Kasachstan zwischen dem Westen und Russland hin- und hergerissen wird, gibt es verschiedene Szenarien, wie es sich weiter entwickeln könnte.
Westliche NGOs versuchen aktiv <9>, in Kasachstan Fuß zu fassen und Einfluss auf die Politik des Landes zu nehmen. Die wachsenden Vermögenswerte westlicher Unternehmen im Land sowie die Bemühungen der Soros-Stiftungen <10> sprechen dafür, dass der westliche Einfluss auf die Jugend wächst.
Das wäre das “Ukraine-Szenario”, das die Wirksamkeit und Effektivität der westlicher NGOs, im postsowjetischen den Nationalismus anzuheizen und Parolen einer angeblich nötigen „Entkolonialisierung“ in die Köpfe der Menschen zu pflanzen, gezeigt hat. In Kasachstan wird das Thema der „Entkolonialisierung“ von Städte- und Straßennamen unter dem Vorwand der Säuberung von allem „Imperialen“ aktiv diskutiert <11>.
Ob die Bemühungen von Präsident Tokajew, gegen diese Tendenzen der Spaltung und Radikalisierung vorzugehen, Erfolg haben werden, oder ob Kasachstan den Fehler der Ukraine wiederholt, kann man bisher nur schwer einschätzen, denn beides ist möglich.
Sollte Tokajew Erfolg haben, sind zwei Tendenzen möglich. Erstens eine neutrale Position Kasachstans unter Beibehaltung des Status Quo. Das würde bedeuten, dass Kasachstan weiter mit Russland und China zusammenarbeitet, aber die Brücken zum Westen nicht abbrechen würde. Für Russland wäre so eine ausgewogene Politik mehr als akzeptabel, wobei Russland aber wohl darauf achten würde, den steigenden chinesischen Einfluss in Kasachstan nicht allzu groß werden zu lassen
Die zweite und wohl unwahrscheinlichste mögliche Entwicklung wäre eine Annäherung an Russland. Wenn die Länder sich auf ihre Gemeinsamkeiten und gemeinsame Geschichte besinnen und daraus eine für beide profitable Zusammenarbeit ausbauen, würden beide davon profitieren. Aber der vom Westen angeheizte Nationalismus inklusive antirussischer Stimmung lässt diese Entwicklung unwahrscheinlich erscheinen.
Russland dürfte daher auf eine Einbindung Kasachstans in die russisch-chinesische Zusammenarbeit setzen, wobei jedoch die Gefahr besteht, dass Russland und China in Kasachstan um Einfluss konkurrieren könnten, während die westlichen NGOs ihre Agitation gegen Russland fortsetzen und möglicherweise in der Perspektive auch gegen China ausweiten.
Das zeigt, dass der kasachische Präsident keine leichte Aufgabe hat, wenn er sein Land stabil halten will.
Quellen
<1> https://ger.aboutlaserremoval.com/kazahstan-s-kem-granichit-druzhit-i-torguet-view-058100
<2> https://madeinrussia.ru/de/news/5627
<3> https://kazakhstan-astana.rs.gov.ru/
<4> https://faolex.fao.org/docs/pdf/kaz127827E.pdf
<5> https://www.kommersant.ru/doc/5182835
<8> https://t.me/EisernerVorhang/536
<11> https://www.rbc.ru/politics/01/03/2023/63fef1829a7947431fefb52b
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 24. April 2024 bei anti-spiegel.ru
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Bildquelle: em_concepts / shutterstock
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