Das Drama um die Sprengung des Staudamms Nowa Kachowka findet vielerorts statt!
Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
In der zweiten Juniwoche 2023 startete Kiew die seit Monaten geplante und auch mehrfach angekündigte Offensive gegen die russischen Streitkräfte in den besetzten Ost-Teilrepubliken der Ukraine. Panzerkolonnen, darunter auch Kampfpanzer aus NATO-Staaten (u.a. deutsche Kampfpanzer des Typs Leopard 2/A4 und 2/A6, amerikanische Kampfpanzer M1 Abrams sowie britische Kampfpanzer Challenger 2) hatte man gegen verschanzte russische Verteidigungsanlagen in Stellung gebracht.
Pünktlich zu Beginn dieser Offensive läuft am 12. Juni 2023 das NATO-Großmanöver „Air Defender 23“ an. Deutschland hat die Leitung dieser komplexen Luftoperation übernommen, bei der das Führen eines Luftkriegs über Mittel- und Osteuropa trainiert wird. Es ist dies die größte Verlegeübung seit Gründung der NATO (im Jahr 1949). An ihr nehmen über 200 Flugzeuge und bis zu 10.000 Soldaten aus 25 Ländern teil. Das erinnert an die Mobilisierung der britischen „Home Fleet“ (Flotte der Royal Navy) am 18. Juli 1914. Mit 24 modernen Großkampfschiffen, darunter den mächtigen Neubauten der „Iron-Duke“-Klasse, fast zwei Dutzend Kreuzern und 42 Zerstörern, bildete sie damals mehr als die Hälfte und damit den Kern der weltweit eingesetzten britischen Marine. Zugleich war sie der gesamten deutschen Hochseeflotte mit ihren 18 modernen Großkampfschiffen, 15 Kreuzern und 33 Zerstörern deutlich überlegen.(1) Am 25. Juli 1914, wenige Tage vor Kriegsausbruch, bezog die Home Fleet ihre Kriegspositionen.
Die am 6. Juni 2023 begonnene Gegenoffensive wurde in den US-Medien als Wendepunkt des Krieges avisiert. Bret Stephens von der Times hofft, dass sie Russland „eine vernichtende und unmissverständliche Niederlage“(2) bringt, während David Ignatius in der Washington Post meint, sie würde “das Blatt im Krieg wenden”. Er verkündete: „D-Day dämmert für die Ukraine.“(3)
Nur wenige Stunden nach dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive wurde der in der Region Cherson und im besetzten russischen Teil (nahe der Front) liegende Staudamm Nowa Kachowka samt dem angrenzenden Wasserkraftwerk – nach Angaben beider Kriegsparteien – zerstört. Russland und die Ukraine machten sich am 6. Juni für die mutmaßliche Sprengung und die damit einhergehenden Überschwemmungen gegenseitig verantwortlich.(4) Tausende Menschen beiderseits des Flusses Dnepr mussten evakuiert werden. Eine riesige Umweltkatastrophe bahnt sich im dortigen Frontabschnitt an, da neben der Freisetzung von Maschinenöl aus dem Kraftwerk die verheerenden Wasserfluten ganze Minenfelder mitrissen, die gegen Personen und Panzer angelegt wurden.
Schon gegen Mittag des 6. Juni äußerte sich Kanzler Olaf Scholz zur Zerstörung des Staudamms: er sieht darin eine “neue Dimension” der Kriegsführung. Der Akt passe „zu der Art und Weise, wie Putin diesen Krieg führt“(5). Scholz warf Russland vor, immer stärker zivile Ziele zu attackieren und reihte diesen Akt ein in die „vielen Verbrechen …, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind“(6), Die russischen Streitkräfte würden auch Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen und Infrastrukturen angreifen, so der Kanzler beim Europaforum des WDR in Berlin.
Außenministerin Annalena Baerbock tat es am gleichen Tag ihrem Kanzler nach. Auf ihrer Lateinamerika-Reise machte sie im brasilianischen São Paulo Russland für die Überflutungen nach der Zerstörung des Staudamms im Süden der Ukraine verantwortlich.
„Mit dem Kachowka-Damm wird ein ziviler Staudamm in der Nähe eines Kernkraftwerks als Kriegswaffe missbraucht und das Leben der Menschen in der Umgebung in höchste Gefahr gebracht“(7).
Für die Grünen-Politikerin gibt es für diese menschengemachte Umweltkatastrophe nur einen Verantwortlichen: Russland mit seinem verbrecherischen Angriffskrieg auf die Ukraine (bei dem Terroranschlag auf Nordstream 2 hielt sich Frau Baerbock mit ähnlichen Äußerungen auffallend zurück). Anschließend versicherte Baerbock, dass in der Bundesregierung “mit Hochdruck” an einem genauen Lagebild gearbeitet werde. Wie konnten Kanzler und Außenministerin zu diesem Schnellschuss einer einseitigen Schuldzuweisung kommen? Beide haben als Erwachsene und politisch denkende Menschen die grausamen militärischen Konflikte seit den Balkankriegen – den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien und den Krieg in der Ukraine (seit 2. Mai 2014!) – als Zeitzeugen miterlebt. Sie müssten eigentlich wissen, dass es im Krieg keine Guten und keine ausschließlich Bösen gibt.
Im Krieg tummeln sich auf jeder Seite Gute wie Böse und auch Kriegsverbrechen geschahen und geschehen auf jeder Seite! Unter dem Mantel des Krieges lassen sich kriminelle Interessen verstecken und die Gier befriedigen. Die vom Kampf direkt betroffenen Menschen werden in vielen Fällen entmenschlicht; sie und ihre Umgebung müssen vermutlich ein ganzes Leben lang darunter leiden.
Deswegen ist es die höchste Pflicht, die Menschheit von der Geißel des Kriegs zu befreien, wie es ja schon in der Präambel der Atlantik-Charta verlangt wird. Doch es sieht so aus, als würde die deutsche Regierung den Krieg eher anheizen als eine Verhandlungslösung anstreben.
Verstoßen Scholz (rot) und Baerbock (grün) mit ihrer Parteinahme und ihren Waffenlieferungen bewusst gegen das Grundgesetz (Artikel 26) mit der ausdrücklichen Vorschrift, dass Handlungen, die geeignet sind – oder in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, nicht nur verfassungswidrig, sondern auch unter Strafe zu stellen sind.(8)
Das Buch von Oberstleutnant a.D. Jürgen Rose “Ernstfall Angriffskrieg: Frieden schaffen mit aller Gewalt?” ist im Zusammenhang zu sehen mit dem völkerrechtswidrigen Angriff der NATO auf Rest-Jugoslawien (Serbien/Montenegro) 1999 die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz-Artikel 26 (Verbot des Angriffskrieges) und dem korrespondierenden Strafgesetzbuch-Paragraphen 80 (Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges). Rose hat es all jenen Männern, Frauen und Kindern gewidmet,
„…die in den Globalisierungskriegen der Reichen gegen die Armen von Bomben und Granaten zerfetzt und verstümmelt, von Napalm und weißem Phosphor verbrannt, von ‚Depleted Uranium’ verstrahlt und vergiftet, von Kugeln durchsiebt, an Körper und Seele verwundet, vergewaltigt, die Fratze des Terrors erblickten und diese nie wieder vergessen können.“(9)
Mit einem geheimen Anhang B in den Krieg gegen Serbien
Der Vertrag von Rambouillet war der Entwurf eines Friedensvertrags zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Führung der Kosovo-Albaner. Der Vertrag wurde von der NATO ausgearbeitet und nach dem Ort der Verhandlungen 1999 (im Schloss Rambouillet bei Paris) benannt. Von jugoslawischer Seite waren die Inhalte des “Rambouillet-Papiers“ durchaus akzeptiert worden. Danach sollte der Kosovo innerhalb von Serbien eine umfassende Autonomie erhalten, aber unter serbischer Hoheit bleiben sowie die UÇK entwaffnet und NATO-Truppen im Kosovo stationiert werden.
Serbien stimmte in allen Punkten zu. Damit war der Kriegsgrund entfallen. Deshalb ließen sich die Drahtzieher in Rambouillet – US Außenministerin Madeleine Albright und der deutsche Außenminister Joshka Fischer – den Anhang B zum Vertrag einfallen. Dieser militärische Anhang blieb allerdings geheim. Da dieses Dokument aber die völlige Unterwerfung Serbiens unter die NATO verlangte, lehnte Serbien ab, nachdem es den Inhalt erfahren hatte. Offiziell wurde in den Medien verbreitet, dass die Verhandlungen in Rambouillet gescheitert seien. Gescheitert waren sie aber nur wegen des o.a. Anhangs, der nun den gewünschten Kriegsgrund lieferte.
George Kenney – er war 1992 von seinem Amt im US-Außenministerium aus Protest gegen die Balkanpolitik der Bush-Regierung zurückgetreten – erkannte wie viele andere Kritiker in dem heuchlerischen Rambouillet-Plan einen Vorwand für die Bombardierung Rest-Jugoslawiens: “Der Vertrag verlangte in seinem militärischen Anhang B etwas, “was der bedingungslosen Kapitulation von Jugoslawien entsprochen hätte”(10). Nach Artikel 6a des Annex B hieß es: “Die NATO genießt Immunität vor allen rechtlichen Verfahren, ob zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlich.”(11) James Rubin, ein Berater von Außenministerin Albright, bestätigt, dass zielgerichtet für den Luftkrieg die nötige Vorarbeit geleistet wurde:
“Wir machten uns keine Illusionen darüber, dass die Serben schnell unseren Forderungen nachgeben und alles in Rambouillet lösen würden. Es war unsere höchste Priorität, die Europäer dazu zu bringen, sich vereint hinter die Luftschläge zu stellen, indem wir den Aggressor und das Opfer klar definierten.”(12)
Die Inhalte des Anhangs B wurden von Außenminister Fischer dem Kanzler, dem Kabinett und dem Parlament vorenthalten, auch Lafontaine erfuhr davon erst später aus der Presse,(13) ebenso wie die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer,(14) die daraufhin erklärte:
“Hätte ich das gewusst, hätte ich dem Kriegseinsatz nicht zugestimmt.”
Ihr SPD-Kollege Hermann Scheer fand es „unrichtig von der Bundesregierung, zu glauben und dem Parlament und der Öffentlichkeit zu suggerieren, dieser Vertrag hätte von Belgrad jemals unterschrieben werden können; selbst ein gemäßigter serbischer Politiker an der Stelle von Milosevic hätte diesen Text niemals unterzeichnet.“(15) Und Völkerrechtler Christian Tomuschat befand: “Auf Bedingungen wie den völlig überzogenen Artikel 8(16) des Annex B zum Rambouillet-Abkommen braucht sich indes keine Regierung einzulassen.”(17) Und Rudolf Augstein urteilte: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“(18) Bill Clinton lässt den Anhang B in seinen Memoiren unerwähnt und hebt als Kriegsgrund hervor:
„Die Serben wollten sich nicht mit einer Friedenstruppe unter der NATO abfinden.“(19)
Die von Admiral Schmähling eingereichte Anklage gegen Mitglieder der ersten rot-grünen Bundesregierung wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz (Artikel 26) wurde vom damaligen weisungsgebundenen Generalbundesanwalt mit der Begründung niedergeschlagen, dass nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe steht. Die Bundesregierung habe sich nur an der Durchführung beteiligt, nicht aber an der Planung.
In diesem Angriffskrieg wurde Rest-Jugoslawien 78 Tage und Nächte lang – nach der Strategie von John Ashley Warden III – bombardiert. Als Oberst a.D. der United States Air Force und Theoretiker des Luftkriegs und der modernen Kriegsführung erlangte er Bekanntheit durch das „Modell der fünf Ringe“ („Warden`s Five Rings“), welches eine stufenweise Zerstörung der gegnerischen Strukturen begründet. Das Modell wurde unter anderem kritisiert, weil es der Zivilbevölkerung eine höhere Zielpriorität gegenüber militärischen Infrastrukturen einräumt.(20)
- Politische und militärische Führungsspitze im Zentrum
- Schlüsselindustrie mit Strom- und Wasserversorgung, petrochemische Industrie und Schwerindustrie, Rohstoffverarbeitung, Finanzsektor
- Transportinfrastruktur (Straßen, Brücken, Bahnhöfe, Flughäfen, Autoindustrie, Kommunikation)
- Zivilbevölkerung und
- Militär
In der 6. Kriegswoche, am 7. Mai 1999, um 23:46 Uhr bombardierten USA / NATO die chinesische Botschaft in Belgrad, der Hauptstadt der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien. Sie wurde von fünf 2.000 Pfund schweren GPS-gelenkten JDAM-Bomben eines amerikanischen Northrop B-2 Spirit Bombers getroffen, der von der Whiteman Air Force Base im US-Bundesstaat Missouri gestartet war. Das Ereignis sorgte für internationales Aufsehen, da es die Botschaft eines am Kosovo-Konflikt unbeteiligten Staates betraf. Sofort meldet der Westen als Ursache einen Zahlendreher in den Zielkoordinaten. Absicht sei es gewesen, das jugoslawische Bundesamt für Nachschub und Versorgung (FDSP) zu treffen. Auf die rasche Entschuldigung des US-Präsidenten Bill Clinton reagierte die chinesische Regierung mit Empörung und Skepsis. Sie verlangte eine sofortige Untersuchung und Aufklärung der Tatbestände.(21) Fünf Monate nach der Bombardierung veröffentlichten Politiken (Kopenhagen) und The Observer (London) einen Bericht, dass die Bombardierung vorsätzlich war.(22) Sieben Monate nach der Bombardierung einigten sich China und die USA auf eine Entschädigung von 28 Millionen Dollar.(23)
Bis heute leidet Serbien unter den nachhaltigen Umweltzerstörungen und den Folgen des menschenverachtenden Einsatzes von „Depleted Uranium“ (Munition mit abgereichertem Uranium). Der Hinweis von Bundeskanzler Olaf Scholz, dass die russischen Streitkräfte auch Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen und Infrastrukturen angreifen, ist scheinheilig: das alles ist immer auch Teil der westlichen Kriegsführung gewesen, nur mit einem Unterschied: Es wird in der Berichterstattung weitestgehend unterschlagen oder höchstens als Versehen deklariert.
Am 3. Oktober 2015 kamen 22 Menschen ums Leben, als US-Kampfjets im nordafghanischen Kundus 30 Minuten lang ein Krankenhaus von “Ärzte ohne Grenzen” bombardierten.
Die Hilfsorganisation “Medecins Sans Frontieres” verlangte unverzüglich, dass der Angriff von einer unabhängigen Kommission untersucht wird. Auf die laufenden Ermittlungen durch die USA, die NATO und die afghanischen Kräfte könne man sich nicht verlassen, sagte Joanne Liu, damals Präsidentin der Organisation, in Genf. Sie verlangte die Einrichtung einer sogenannten Internationalen humanitären Ermittlungskommission, die in den Statuten der Genfer Konvention vorgesehen ist und deren Aufnahme der Arbeit, sobald eines der 76 Länder, das die Konvention unterzeichnet hat, dies beantragt. Das Bombardement, so Liu, sei ein Angriff auf die Genfer Konvention gewesen, die man verteidigen müsse.(24) Sofort sprach der Oberbefehlshaber der US- und NATO-Truppen in Afghanistan, John Campbell, von einem Versehen: „Wie wir jetzt erfahren haben, meldeten afghanische Kräfte am 3. Oktober, dass sie von feindlichen Stellungen aus beschossen würden. Sie forderten Luftunterstützung von der US-Armee an. Ein Luftschlag wurde angeordnet, um die Taliban-Bedrohung auszuschalten, versehentlich wurden zahlreiche Zivilisten getroffen. Die Entscheidung zum Luftangriff war eine US-Entscheidung innerhalb der US-Befehlskette. Ein Krankenhaus wurde versehentlich getroffen. Wir würden niemals absichtlich eine geschützte medizinische Einrichtung angreifen.”(25) “Ärzte ohne Grenzen” und die afghanische Regierung ihrerseits widersprachen den US-Aussagen. Das Krankenhaus sei gezielt angegriffen worden, hieß es aus dem afghanischen Verteidigungsministerium. Wenn es sich um einen Fehler handelte, warum hat die US-Luftwaffe die Klinik eine halbe Stunde lang beschossen, obwohl die Position des Krankenhauses bekannt war und obwohl das Personal Alarm schlug, dass es bombardiert würde.(26)
Diese kleine Kette von Beispielen ließe sich beliebig erweitern. Doch schon sie reichen aus, um allen militärischen-politischen Aussagen von Kriegsparteien aufs heftigste zu misstrauen. Eine verantwortungsvolle, dem Frieden dienende Politik hält sich zurück und gießt nicht noch mehr Öl ins Kriegsfeuer.
Der Kachowka-Staudamm-Bruch – ein wahres ökologisches und menschliches Desaster
Im Gegensatz zu Scholz und Baerbock hat es John Kirby, Koordinator für strategische Kommunikation im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses, taktvoll vermieden, die Schuldzuweisungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an die Russen zu unterstützen:
“Wir haben die Berichte gesehen, dass Russland verantwortlich war… Wir tun unser Bestes, um diese Berichte zu bewerten. Und wir arbeiten mit den Ukrainern zusammen, um mehr Informationen zu sammeln. Aber wir können zu diesem Zeitpunkt nicht abschließend sagen, was passiert ist…“.(27)
Ähnlich äußerte sich der britische Premierminister Rishi Sunak: „Es ist zu früh, um etwas Definitives zu sagen.“(28) Sunak versprach, dass der britische Verteidigungsnachrichtendienst gründlich ermitteln werde, um festzustellen, wer für die Katastrophe verantwortlich sei.
Die Grundsatzfrage in der römischen Rechtsprechung: “Cui bono” (wem nützt es?) hilft hier anscheinend wenig weiter, da sowohl die Ukraine als auch Russland Vorteile durch den Dammbruch haben könnten. Die Vorteile der Ukraine: Aufgrund der Topographie ist das von den Russen besetzte untere Ostufer des Dnjepr in der Region Cherson stärker von der Flut betroffen. Zudem hat das Hochwasser die Minen und einen Großteil der Befestigungen weggespült, die die Russen mühsam vorbereitet hatten, um eine ukrainische Großoffensive zu verhindern. Die ukrainischen Streitkräfte hätten nun freie Bahn, wenn das Hochwasser zurückgeht. Und nicht zu unterschätzen: mit Hilfe effektiver westlicher Medien wird behauptet, dass Russland ein riesiges Kriegsverbrechen begangen hat. Selenskyj schrieb auf Facebook:
„Russische Terroristen. Die Zerstörung des Staudamms des Wasserkraftwerks Kachowka bestätigt der ganzen Welt nur, dass sie aus jedem Winkel des ukrainischen Landes vertrieben werden müssen. Nicht ein einziger Meter sollte ihnen überlassen werden, denn sie nutzen jeden Meter für ihren Terror. Nur der Sieg der Ukraine wird die Sicherheit zurückbringen. Und dieser Sieg wird kommen. Die Terroristen werden nicht in der Lage sein, die Ukraine mit Wasser, Raketen oder sonst etwas aufzuhalten.“(29)
Neben dem großen psychologischen Sieg – der ja auch mit dem Beginn der erwarteten Frühjahrsoffensive Kiews zusammenfällt, beeinträchtigt die Zerstörung des Kachowka-Damms das Kühlsystem der Reaktoren im Kernkraftwerk Saporischschja, was zu einer ungeahnten europäischen Krise führen könnte und auch in Folge die Wasserversorgung der Halbinsel Krim gefährden könnte. Der größte Vorteil ist, dass – sobald das Wasser zurückgeht – künftigen amphibischen Angriffen in der strategisch wichtigen Region Cherson nichts mehr im Wege steht.
Welchen Grund sollte Russland haben, einen Staudamm, der unter seiner Kontrolle steht, zu sprengen, um ein Gebiet, das unter seiner Kontrolle steht, zu fluten und damit ein AKW, das unter seiner Kontrolle steht, zu gefährden? Um den Aufmarsch ukrainischer Verbände zu ertränken, hätten doch nur die Schleusentore geöffnet werden müssen.
Die Vorteile Russlands durch den Dammbruch liegen auf der Hand: die Überschwemmungen haben alle Munitionsdepots, die die Ukrainer in Cherson für eine Offensive in der südlichen Region angelegt hatten, unter Wasser gesetzt und verhindern vorerst amphibische Angriffe der ukrainischen Streitkräfte.
Wäre es aber auch denkbar, dass der Damm von selbst zusammengebrochen ist?
Der Damm, der im vergangenen Kriegsjahr im Zuge der Kampfhandlungen von ukrainischen und russischen Streitkräften stark beschädigt wurde, befand sich anscheinend in einem sehr schlechten Zustand. Der ukrainische Raketenbeschuss mit amerikanischen HIMARS (Mehrfach-Raketenwerfern) auf den Staudamm im Herbst 2022 (auch das von Russen besetzte AKW Saporischschja ist seit Sommer 2022 beschossen worden)(30) und die damit verbundene Gefahr eines Dammbruchs hatte Anfang November 2022 Russland die Truppen vom rechten Dnepr-Ufer auf das linke verlegen lassen.
Ein Ermüdungsbruch ist also nicht ganz auszuschließen, wenn auch der Zeitpunkt dagegen spricht. Zu bedenken ist jedoch, dass Kiew mehrere andere Staudämme flussaufwärts kontrolliert – wie ein Wasserkraftwerk in der Stadt Saporischschja und in der Stadt Dnipro – und damit operierte, mit deren Wasserständen zu spielen und den Stausee von Kachowka aufzufüllen, was den 67 Jahre alten Damm unter immensen Druck setzte. Das heißt,
„der Damm brach von selbst zusammen und nicht durch direkten Beschuss oder Sprengstoffsabotage, aber er wurde dennoch durch direkte Maßnahmen des Kiewer Regimes zum Einsturz gebracht.“(31)
Im ZDF-Donnerstagtalk von Maybritt Illner am 8. Juni 2023 nannte der ehemalige Fernsehmoderator Claus Kleber es ungeheuerlich, die Umwelt als Waffe zu benutzen. Kleber, der sich bisher nicht als Russlandfreund hervorgetan hat, warnte im Hinblick auf die Staudammzerstörung davor, vorschnell dem gängigen Narrativ zu glauben: “Die Russen machen nur Schlimmes und alles Gute, was passiert, machen die Ukrainer. Da macht man sich nicht glaubwürdig, wenn man erkennbar, nach wenigen Stunden, etwas aus der Hüfte geschossen sagt“.(32)
So tat es etwa der britische Außenminister James Cleverly, der noch am gleichen Tag die Zerstörung als Katastrophe und Kriegsverbrechen kritisierte: „Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist eine abscheuliche Tat“.(33)
Angriff auf die Möhnetalsperre ist nicht unbedingt als Parallele geeignet
In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 führte die britische Royal Air Force im Rahmen der Operation “Chastise” (englisch für Züchtigung) die Zerstörung der Möhnetalsperre im Kreis Soest (Nordrhein-Westfalen) sowie der Eder-Staumauer durch. Mit den weiteren Angriffen auf die Sorpe-, Ennepe- und Listertalsperre sollten Transportwege und Wasserversorgung der deutschen Rüstungsindustrie im Ruhrgebiet entscheidend getroffen werden.
Bereits seit 1937 gab es bei der Royal Air Force Planungen, im Falle eines Krieges mit dem nationalsozialistischen Deutschland die Talsperren in Deutschland zu zerstören. Der englische Ingenieur Barnes Wallis gehörte zu den zahllosen Tüftlern und Entwicklern, deren technische Innovationen die Überlegenheit der Alliierten sicherte. Für die Operation Chastise entwickelte er seit 1938 zu diesem Zweck einen speziellen zylindrischen Typ einer Rollbombe. Dieser neue Bombentyp sprang über die Wasseroberfläche und sank kurz vor der Sperrmauer in die Tiefe. In etwa 9 m Tiefe, dort wo die Staumauern statisch am schwächsten sind, wurde die Explosion ausgelöst. Aus britischer Sicht war der Erfolg beeindruckend. Mindestens 1.348 Tote.(34) Andere Zahlen, die von der Gauleitung Westfalen-Süd offiziell herausgegeben und in der Presse veröffentlicht wurden, verweisen auf 1.579 Opfer, darunter 1.020 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.(35) Damals wie heute ist dieser kriminelle Angriff nicht als Kriegsverbrechen gesehen worden. Im Gegenteil: Die erfolgreichen Piloten wurden ausgezeichnet.
Die Medienmaschinerie des Westens läuft auf Hochtouren
Groß ist die propagandistische Wirkung auf westlicher Seite. Russland wird als Terrorstaat bezeichnet, der einen Staudamm gesprengt hat und damit weit über zehntausend Zivilpersonen in Gefahr bringt. Im globalen Süden dürfte diese Version als nicht allzu glaubwürdig angesehen werden, aber zumindest im Westen wird das Ereignis die anti-russische Hysterie in Medien und Politik weiter anheizen.
Die ukrainische Propaganda konnte bereits einen Tag nach dem Dammbruch melden:
„Die Flutkatastrophe infolge der Staudamm-Zerstörung am Dienstag hat mehr als 20 Museen und Kulturstätten der südukrainischen Region Cherson getroffen. Das ukrainische Kulturministerium veröffentlichte am Mittwoch eine Liste der Kulturobjekte, die durch die Flutwellen beschädigt oder gänzlich ruiniert sein sollen. Die meisten davon befinden sich demnach auf der südlichen, von Russland besetzten, Seite des Dnepr-Flusses. Die ukrainische Staatsagentur für Tourismusentwicklung veröffentlichte am Mittwoch zudem eine Karte mit Sehenswürdigkeiten und Naturerholungsgebieten, die als Folge der Flutkatastrophe nun bedroht sind.“(36)
Bei dieser Meldung kommt der Verdacht auf, dass diese Katastrophe bereits vorbereitet in der Schublade lag. Im Krieg wird verschleiert, es werden falsche Spuren gelegt (siehe aktuell Nordstream). Taktik, Strategie, Propaganda (im US National Defense Paper vom 27. Oktober 2022 als Kampagnenführung ausgewiesen) – auf diesem Klavier spielt jede Seite. Es ist jedoch mehr als naiv, das nur einer Partei zuzuschreiben. Die einzige Wahrheit in jedem Krieg ist die Tatsache, dass Leid und Zerstörung kaum vorstellbare Dimensionen annehmen – und zwar auf allen Seiten. Und erstaunlich ist auch das Vergessen. Als vor dem Krieg russisches Gas über Polen, die Ukraine und die Slowakei floss und alle kräftig an der Durchleitung mitverdient haben, gab es von keiner Seite die leiseste Kritik an der sogenannten Abhängigkeit Deutschlands vom russischen Gas. Alle haben ja an jedem Kubikmeter mitverdient.
Für die Kriegsbefürworter ist keine Lüge zu groß. Diejenigen, die sich für den Frieden einsetzen, werden verleumdet und ihre Argumente niedergemacht. Dafür werden unzählige Begründungen angeführt, warum es nicht geht. Anstatt Gründe zu finden, keine ernstgemeinten Friedensverhandlungen zu führen, sollte man Wege suchen, an den Verhandlungstisch zurückzukommen. Das „Mit dem Finger auf den anderen Zeigen“ muss endlich aufhören. Egal, auf welcher Seite man steht: Für Frieden gibt es keinen Ersatz:
„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Willy Brandt, 3. November 1981.(37)
Quellen und Anmerkungen
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm
2) Zitiert wie http://www.defenddemocracy.press/as-ukrainian-counteroffensive-begins-nato-moves-closer-to-direct-intervention/
3) Ebd.
5) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/scholz-staudamm-ukraine-krieg-russland-100.html
6) Ebda.
7) Ebda.
8) https://dejure.org/gesetze/GG/26.html
9) Jürgen Rose: Ernstfall Angriffskrieg: Frieden schaffen mit aller Gewalt ? ISBN-10 : 398081372X, Hannover 2009, Widmung
10) George Kenney: Rolling Thunder. The Rerun, The Nation, 14. Juni 1999
11) Interim Agreement for Peace and Self-Government In Kosovo.Rambouillet, France – February 23, 1999, Appendix B: Status of Multi-National Military Implementation Force unter http://jurist.law.pitt.edu/ramb.htm vom 21. Juli 2008
12) Rubin, James P.: Countdown to a Very Personal War. Financial Times. September 30/October 1, 2000. Weekend Page 1.
13) Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links. München 1999, S. 242 und 243
14) Ebda, S. 243
15) Hermann SCHEER, SPD (zit. in taz 6.4.99; vgl. auch SZ 27.4.99)
16) Art. 8) des Annex B: ”Das NATO-Personal soll sich mitsamt seiner Fahrzeuge, Flugzeuge und Ausrüstung innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraums und ihrer Territonalgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können.” Interim Agreement for Peace and Self-Government In Kosovo.Rambouillet, France – February 23, 1999, Appendix B: Status of Multi-National Military Implementation Force unter http://jurist.law.pitt.edu/ramb.htm vom 21. Juli 2008
17) Prof. Christian Tomuschat in der WELT v. 14.4.99
18) Ebda.
19) Clinton, Bill: Mein Leben. Berlin 2004 , S. 1288
20) John Andreas Olsen: John Warden and the Renaissance of American Air Power. 1. Auflage. Potomac Books, Inc., Washington, D.C. 2011, S. 30
21) https://www.huffpost.com/entry/dealing-with-a-pr-disaste_b_9213774
22) https://www.theguardian.com/world/1999/oct/17/balkans
24) https://www.msf.org/afghanistan-enough-even-war-has-rules
25) Ebda.
26) US-Angriff auf Klinik in Kundus: “Ärzte ohne Grenzen” verlangt Aufklärung https://de.euronews.com/2015/10/07/us-angriff-auf-klinik-in-kundus-aerzte-ohne-grenzen-verlangt-aufklaerung
27) Kakhovka dam breach is a perfect crime https://www.indianpunchline.com/kakhovka-dam-breach-is-a-perfect-crime/
28) Ebda.
29) Ebda.
31) Kakhovka dam breach is a perfect crime https://www.indianpunchline.com/kakhovka-dam-breach-is-a-perfect-crime/
34) Michael Gosmann: Vor 50 Jahren Möhnekatastrophe 17. Mai 1943. In: 50 Jahre Möhnekatastrophe 17. Mai 1943. Arnsberg 1993, S. 26.
36) https://www.monopol-magazin.de/durch-staudamm-zerstoerung-mehr-als-20-kulturstaetten-bedroht
37) https://willy-brandt.de/willy-brandt/reden-zitate-und-stimmen/zitate/
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Die neue "Nationale Sicherheitsstrategie"
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Größenwahn wie gehabt und absehbarer Profiteur die USA.