Ein Meinungsbeitrag von Ine Stolz.
Wir haben in letzter Zeit einiges über den Niger gehört. Auch über seine Nachbarn Mali und Burkina Faso. Normalerweise existieren diese Regionen der Welt in unserem Bewusstsein gar nicht. Außer, die eigene Sicherheit ist gefährdet. Genau dort, wo unsere Regierung sich in den letzten Jahren besonders stark engagiert hat, um in Zusammenarbeit mit der EU den nicht abreißen wollenden Flüchtlingsstrom aus Schwarzafrika von uns fernzuhalten. Dann müssen dort unsere Grenzen verteidigt werden.
Wirklich etwas über die „da unten“ wollen wir eigentlich auch gar nicht wissen, außer, die eigene Wirtschaft hängt davon ab oder unser Wohlstand steht auf dem Spiel. Diese Länder sollen sich auch weiterhin ihre Rohstoffe von Frankreich abnehmen lassen, zumindest sieht das die Regierung der Grand Nation so – die ehemalige Kolonialmacht hat bis heute große Teile Westafrikas im Würgegriff. Es war interessant, wie nur wenige Tage nach dem unblutigen Putsch im Niger seitens der USA und Frankreichs mit einer militärischen Intervention gedroht wurde. ECOWAS ruderte schnell zurück, nachdem sich zeigte, wie viele Länder der Region und sogar der Norden Nigerias, sich mit dem Niger solidarisierten und ihre Hilfe zusagten, falls es zu einem Militärschlag kommen sollte. Bis dato ist die Lage ruhig. Nachdem eine Delegation der ECOWAS im Niger war, hat nun auch der derzeitige Machthaber eine dreijährige Übergangsregierung angekündigt. Bei der Revolution im Sudan war es ähnlich. Nachdem es 2019 nach einem großen und vielversprechenden Aufbruch aus der jahrzehntelangen Diktatur aussah, ist der Sudan seit Frühjahr 2023 wieder im Krieg.
All diese Länder, die 1884 zu Berlin von den Europäern ohne Beisein auch nur eines einzigen Afrikaners mittels einer Landkarte an der Wand geschaffen wurden, leiden bis heute unter der strategischen Grenzziehung der Kolonialherren. Zum Beispiel gehören der Norden Nigerias wie der Südosten Nigers, dem Königreich Kano an, dass so zerschlagen werden sollte. Bis heute fühlt sich der Norden Nigerias seiner Ethnie im Nachbarland eng verbunden und nicht den Küstenbewohnern im gleichen Land. Diese Situation bringt in vielen Ländern des Sahel bis heute Konflikte mit sich. Für die Europäer war und ist es ein klarer Vorteil, den sie aus den instabilen Ländern vom Reisbrett gezogen haben. Und genau darum ging es.
Vielleicht wäre es interessant, etwas mehr Eindrücke über die Sahelzone zu gewinnen und auch mal eine andere Perspektive einzunehmen. Wie lebt es sich dort so im Sahel? Welchen Umweltbedingungen sind die Menschen schon seit ewigen Zeiten ausgesetzt? Davon bekommen wir in den gemäßigten Breiten in letzter Zeit auch einen Hauch zu spüren. Nach unseren Vorstellungen könnte in der Sahelregion eigentlich kein Mensch leben. Tatsächlich überleben ja auch viele nicht da unten im Saharasand unter sengender Hitze ohne Brot und Wasser.
Der Begriff „El Sahel“ ist arabisch und bedeutet „Das Ufer“. Nach einer Saharadurchquerung erblickten die Karawanen früher in Richtung Süden einen grünen Streifen am Horizont – die Sahelzone. Sie erstreckt sich unterhalb der Sahara quer durch den afrikanischen Kontinent von Mauretanien am Atlantik bis in den Sudan, Eritrea und Äthiopien am Roten Meer. Das ganze Gebiet zeichnet sich durch dasselbe Klima, semi-arid bis arid sowie die gleichen geomorphologischen Gegebenheiten aus.
In dieser Zone gibt es, statistisch gesehen, also theoretisch, eine dreimonatige Regenzeit zwischen Juni und September. Pro Jahr fällt eine durchschnittliche Niederschlagsmenge von 200 Millimetern, im Vergleich hierzu regnet es in Deutschland 800 Millimeter im Jahresdurchschnitt.
Die Regenfälle sind im Sahel extrem unregelmäßig, fallen oft nur örtlich begrenzt und dann als heftiger Platzregen, sogar mit Hagel. Überschwemmungen, bei denen man zusehen kann, wie sich die typischen Lehmbauten in den Ortschaften quasi in Schlamm auflösen, kommen im Sahel regelmäßig vor.
Die meiste Zeit regnet es im Sahel allerdings nicht genug. Dann schafft es die Hirse, das Hauptanbauprodukt im Sahel, nicht bis zur Reife beziehungsweise, die Saat geht erst gar nicht auf. Die Bauern haben allerdings nur die Kapazität, einmal zu säen, mehr Saatgut haben sie nicht, das gibt ihre wirtschaftliche Situation nicht her und subventioniert, wie die Landwirtschaft bei uns, werden sie auch nicht.
Bauern machen den Großteil der Einwohner im Sahel aus. Damit sind die meisten Volkswirtschaften dieser Länder bis heute einzig vom primären Sektor (Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft) – im Sahel nur Landwirtschaft, abhängig. Der sekundäre Sektor, in dem Rohstoffe verarbeitet werden, findet vor Ort quasi nicht statt, trotz der reichen Vorkommen. Die werden anderswo mit enormem Profit für die anderen weiterverarbeitet.
Damit befindet sich der Niger heute in einem Entwicklungszustand, der dem Zustand Europas lange vor der industriellen Revolution gleicht. Und Europas Aufschwung wiederum wäre ohne den jahrhundertelang andauernden Raubbau an Menschen und allen übrigen Ressourcen des afrikanischen Kontinents niemals möglich gewesen. Eine unumstößliche Tatsache.
Für den Großteil der Bevölkerung im Sahel gibt es keinen Strom, vom Luxus fließenden Wassers ganz zu schweigen. Die Analphabetenrate ist hoch. Ein Arzt? Ein Krankenhaus? Alles pure Selbstverständlichkeiten bei uns. Dort nicht. Solche Kriterien, neben Unterernährung und Kindersterblichkeit lassen den Niger schon seit Jahrzehnten auf den drei letzten Plätzen der Skala der am wenigsten entwickelten Ländern weltweit residieren. (Gerade hat mich mein Computer vor der derzeit sehr hohen UV-Strahlung bei uns gewarnt, was für eine Ironie des Augenblicks, in dem ich diese Zeilen schreibe.)
Zurück zu den Bauern im Sahel, mit denen ich so viel meiner Lebenszeit verbracht habe. Sie bringen ihre Saat direkt nach dem ersten kräftigen Regenfall in den Boden ein. Wenn dann über einige Zeit kein weiterer Regen mehr fällt, vertrocknet die Saat im Boden. Damit erleiden sie einen wirtschaftlichen Totalausfall, wie man das bei uns nennen würde.
Das kann aber in einem Jahr mit ausreichendem Niederschlag ebenso passieren. Die Saat ist aufgegangen und hat sich bis zur Ähre entwickelt. Jetzt schlagen gigantische Schwärme aus Wanderheuschrecken oder Webervögeln zu und hinterlassen nichts. Gar nichts. Das schlimmste Szenario, das einem nüchternen Todesurteil gleichkommt, droht, wenn der Regen in einem Jahr ganz ausfällt oder es über Jahre hinweg zu wenig regnet. Dann hungern die Menschen und sterben früher oder später an den Folgen ihrer chronischen Unterernährung.
Die Mehrzahl der Sahelbewohner lebt von der Subsistenzlandwirtschaft, deren Ertrag gerade einmal so zum Überleben reicht, wenn es genug regnet. Wenige besitzen Tierherden, die aus Ziegen und Kamelen bestehen, sind ihre lebende Sparkasse auf vier Beinen, die bei Dürren regelmäßig dahingerafft werden. Für die Menschen im Sahel ist dieser Verlust mit einem Börsencrash vergleichbar, bei dem sie ihr ganzes Vermögen verlieren.
In Jahr 2012 musste ich selbst im Niger miterleben wie dort 18 Millionen Menschen von einer Hungersnot biblischen Ausmaßes betroffen waren und das mit dem Wissen, dass nach der ersten großen Hungersnot im Sahel 1974 und der großen medialen Hungersnot mit Live Aid 1985 viele Milliarden in die Region geflossen sind oder sein sollen, mit dem Effekt, dass sich die Hungersnöte in der Sahelzone seitdem fast alljährlich wiederholen und immer extremere Ausmaße annehmen. Derzeit ist der Grund für das Verhungern der Ukrainekrieg, so hört man. Und die Hilfsorganisationen schlagen ihre Spendentrommeln.
Früher war die Lagerung von Hirse in Ländern wie Niger oder Burkina Faso staatlich geregelt. So konnte in Krisenjahren die Bevölkerung mittels der vorhandenen Reserven überleben. Diese Lagerung wurde zugunsten des Verklappens von Nahrungsmittelüberschüssen aus der globalisierten Welt abgeschafft. Überleben im Sahel ist damit zu einem lukrativen Geschäft aus Nächstenliebe mutiert, von dem die eine Seite profitiert, indem sie ihre Überproduktion an Mais, Weizen oder Reis loswird, noch Subventionen dafür kassiert und die ganze Aktion als »humanitäre Hilfe« geadelt wird. Die andere Seite stellen entmündigte Bittsteller am Tropf der Wohlstandsgesellschaft dar, von denen es die meisten irgendwann sowieso dahinraffen wird.
Die, die immer noch existieren, haben oftmals keine andere Überlebenschance und werden, nachdem sie alles auf eine Karte gesetzt haben, zu Flüchtlingen, die in Europa gern als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge tituliert werden. Wer immer es sich leisten kann, ein Familienmitglied ins nordische Paradies zu schicken, der tut das auch. Ein ganzer Clan legt dafür sein letztes Geld zusammen. Die unglaublich weite und extrem strapaziöse Reise über Monate bis Jahre, organisiert von Schlepperbanden, kostet ein wahres Vermögen. Die allermeisten von denen, die ihre Heimat auf diesem Weg verlassen, überleben den nun folgenden Höllentrip allerdings nicht. Sie verdursten auf dem Fußmarsch durch die Wüste oder ertrinken später im Meer, zusammengepfercht auf seeuntüchtigen Kähnen, die kentern und untergehen.
Diejenigen, die den Weg in die bessere Welt tatsächlich schaffen, erzeugen hier entsetzte Aufschreie: „Was wollen die denn alle bloß hier? Wieso kommen sie gerade zu uns? Warum bauen sie nicht ihre eigenen Länder auf? Wir können sie nicht gebrauchen. Wir müssen selbst sehen, wie wir klarkommen mit dem, was wir haben.“ Diese Sichtweisen sind allgemein bekannt, doch viel zu kurzgefasst: Die wenigsten der in der besseren Hälfte der Welt Lebenden wissen, dass der hohe Lebensstandard im Norden überhaupt erst möglich wurde auf Kosten der südlichen Hemisphäre, die bis heute in einer Art neuen Kolonialismus weiter ausgebeutet wird.
Im Übrigen: Wie genau sollen denn die Afrikaner ihre Länder aufbauen? All ihre Ressourcen wurden und werden ihnen nach wie vor geraubt, und wenn es ein einheimischer Staatsmann einmal ernst meint mit seinem Land und seinen Einwohnern und von den westlichen Politikern und Konzernvertretern entsprechende Vertragsnachbesserungen fordert, wird er vom Westen schleunigst eliminiert und durch willfährige Figuren ersetzt.
Heutzutage hungern beziehungsweise verhungern so viele Menschen, dass es für mich kaum einen Sinn ergibt, Zahlen zu nennen. Sie sind zu abstrakt, schwer vorstellbar und schwanken, je nachdem, wer sie veröffentlicht. Für die Menschen, die sich inmitten dieses Teufelskreises aus Missständen und Hunger befinden, ist es bittere Realität.
Im Zuge verbesserter medizinischer Versorgung wurde erreicht, dass sich die extrem hohe Kindersterblichkeit im Sahel verringerte. Eine sehr hohe Geburtenrate stellt in zahlreichen afrikanischen Ländern eine notwendige Überlebensstrategie dar. (In Europa war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum anders.) Afrikanische Mütter bekommen so viele Kinder, weil sie schon im Voraus wissen, dass es nur die wenigsten von ihnen bis ins Erwachsenenalter schaffen werden. Mithilfe des Einsatzes von Medikamenten und ironischerweise eingeführter Erdnusspaste im Plastiksäckchen – der Erfinder wurde so richtig reich damit – überleben nun fast alle zunächst einmal die ersten fünf Lebensjahre, um dann früher oder später doch gnadenlos zu verhungern. Der bekannte sozialkritische Schweizer Autor und Soziologe Jean Ziegler sagte einmal:
„Jedes Kind, das verhungert, ist ermordet worden.“
Schluss mit dieser Scheinheiligkeit! Beinahe eine Milliarde Menschen qualvoll hungern und Millionen von ihnen verhungern zu lassen, um sich anschließend kopfschüttelnd darüber zu wundern, wieso dem so ist und wie es dazu kommen konnte und als ob es das allererste Mal wäre, dass so etwas geschieht, ist an Zynismus kaum mehr zu überbieten.
Die Bewohner der besseren Welt glauben immer noch, dass das alles so weit weg sei, so unüberschaubar, so unwirklich, einfach nur ein schlechtes Drehbuch zu einem miesen Film. Man schaltet daher schnell ab, um nicht länger mit Dingen belästigt zu werden, die einen scheinbar gar nichts angehen. Aber sie gehen uns etwas an. Wir sind mitverantwortlich! Auch wir haben die Hungernden und die Verhungerten auf dem Gewissen, und irgendwann wird uns unsere Ignoranz und Arroganz einholen.
Oder eher: dieses irgendwann fängt jetzt an.
Dieser Text ist mit Auszügen angelehnt an das Buch von Ine Stolz: Alte Seele Afrika, wir ernten, was wir säen. Hier ein Link zum Buchkauf.
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Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Dariush M / Shutterstock.com
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Vieles von dem, was Frau Stolz sagt, ist sicher richtig.
Was mir nicht gefällt ist die Schuldzuweisung an den Westen (pauschal).
Die vom Westen gezogenen willkürlichen Grenzen, o.k., da waren wir mit beteiligt.
Aber Ausbeuten der Rohstoffe stimme ich nicht zu.
Deutschland nicht, Frankreich schon.
Wir (der Westen) und wir (Deutsche) zahlen Unsummen an Entwicklungshilfe, die von korrupten Herschern eingesackt werden, aber eben für die Entwicklung gedacht sind. (in den letzten 20 Jahren ca. 2000 Mrd. Euro) !
Dass die Afrikaner einen erheblich niedrigeren Intelligenzquotienten haben (im Durchschnitt) und
6 bis 7 Kinder pro Frau in die Welt setzen (im Durchschnitt), dass ist ihr Problem, das werden wir nicht lösen können.
Ich sage immer, wenn wir diese explosionsartige Bevölkerungsentwicklung hätten, würden wir auch verelenden. Wir könnten gar nicht so schnell Häuser, Schulen, Krankenhäuser bauen und hätten in kürzester Zeit ein Heer von Arbeitslosen und Minderqualifizierten!!
Wir würden verarmen und könnten keine Entwicklungshilfe mehr leisten.