Ein Beitrag von Eugen Zentner.
Künstler gelten als sensible Wesen, deren Sinne in besonderem Maße ausgeprägt sind. Sie beobachten das gesellschaftliche Leben ganz genau und nehmen schnell Missstände wahr, vor allem totalitäre Tendenzen. Ob sie dagegen rebellieren, hängt dann von ihrem Mut und moralischen Kompass ab. Karsten Troyke hat ihn selbst nach Jahrzehnten nicht verloren, anders als seine Kollegen Marius Müller-Westernhagen oder Campino. Der Berliner Chansonsänger und Liedermacher war schon in der DDR ein Regimekritiker, dessen Unmut sich gegen die Übergriffe des Staates richtete. Heute sieht er im Zuge der Corona-Politik eine ähnliche Entwicklung, weshalb der Musiker wieder seine Stimme erhebt, um auf soziale Ungerechtigkeit hinzuweisen. Erst kürzlich trat er bei einer Kundgebung vor der Gethsemanekirche im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg auf, wo er nicht nur das Zeitgeschehen kommentierte, sondern auch einige seiner Lieder darbot.
Der 61-Jährige stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie. Seine Mutter war in ein Umfeld aus kommunistischen Widerstandskämpfern in der Nazi-Zeit hineingeboren, sodass Troyke mit Liedern wie «Bella ciao» aufwuchs. Diese Prägung ist noch heute spürbar, auch wenn es in seinen Werken mehr um Tradition, Kosmopolitismus und Heimatgefühl geht. Obwohl er neben seiner Musik als Schauspieler und Sprecher arbeitet, hat sich Troyke international mit jiddischen Liedern einen Namen gemacht. In Europa gilt er als einer der bedeutendsten Interpreten dieses Genres. Davon konnte sich auch das Publikum an der Gethsemanekirche überzeugen. Das Gotteshaus ist ein geschichtsträchtiger Ort für Dissidenten. In der DDR fanden sie hier Zuflucht und waren sicher vor den Übergriffen des Staates. Viele von ihnen verteilten 1989 vor der Kirche Flugblätter gegen das SED-Regime. Innerhalb des sakralen Gebäudes wurde heftig diskutiert und gesungen. Auch Troyke war damals dabei.
Seit Beginn der Corona-Politik versammeln sich an der Gethsemanekirche wieder Oppositionelle und Andersdenkende, Regime-Kritiker, die zahlreiche Grundrechtseinschränkungen, Impfzwang und einseitige Berichterstattung monieren. Als die sogenannten Montagsdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen starteten, wurde der Platz vor dem Gotteshaus zum Ort, wo sich die Unzufriedenen vor oder nach dem Spaziergang trafen. Das sorgte für beachtliche Resonanz und rief Aktivisten auf den Plan, die die Corona-Politik größtenteils mittragen und deren Kritiker gerne als „Schwurbler“, „Verschwörungstheoretiker“ oder gar „Rechtsextreme“ diffamieren. Seit Mitte Dezember meldet dort eine sogenannte Anwohnerinitiative jeden Montag eine Gegenveranstaltung an. Unterstützung erhält sich von allerlei Prominenz aus Politik und Gesellschaft, selbst von der Gethsemanekirche, die noch 1989 alle willkommen hieß, vor allem die Dissidenten.
Was die Anwohnerinitiative beanstandet, ist die Vereinnahmung der „Symbole der Friedlichen Revolution in der DDR“. Auf den Plakaten sind Slogans wie diese zu lesen: „Wir leben nicht in einer Diktatur“ oder „2022 ist nicht 1989“. Die Initiative, so heißt es in einer Stellungnahme, setze sich „für mehr Gemeinsinn und Zusammenhalt im Kiez sowie gegen Verschwörungserzählungen und rechtes Diktatur-Gerede ein“. Dazu nahm Karsten Troyke bei seinem Auftritt vor der Gethsemanekirche Stellung und entkräftete die Vorwürfe auf eloquente wie humorvolle Weise. Viele ihrer Forderungen stimmten mit denen der Maßnahmenkritiker überein, so der Liedermacher, der das Statement der Initiative Punkt für Punkt durchging. Darin heißt es unter anderem, dass man sich gegen „Verschwörungserzählungen“ und „Wissenschaftsleugnung“ wende. „Davon kann ich nur abraten“, entgegnete Troyke, „weil diese beiden Worte, aber ganz besonders der Vorwurf der Wissenschaftsleugnung schon Galileo Galilei durch die Kirche zum Verhängnis geworden war. Wissenschaft lebe von Fortentwicklung und Diskurs.“
Genauso pointiert kommentierte er die Unterstellung, die Kritiker der Corona-Politik würden sich nicht ausreichend gegen Antisemitismus, Rechtsextremisten und Reichsbürger abgrenzen. „Das halte ich für eine Unterstellung der meisten Medien“, sagte Troyke. „Keiner hat je kontrollieren können, wer zu öffentlichen Versammlungen kommt.“ Das Wort „Querdenker“ sei in den Köpfen mit dem Wort „Reichsbürger“ schon verknüpft. „Dabei muss man nur mal zuhören, warum es uns hier wirklich geht“, so der Musiker weiter. „Freie Impfentscheidung, freie Rede, freie Wahl, wie der Mensch leben will.“ Den Schlusspunkt setzte er mit einer klugen Replik auf die Anschuldigung der Einwohnerinitiative, historische Analogien verharmlosten Diktaturen und relativierten das Leid der Opfer. „Dazu sag ich: Um Diktaturen oder Herrschaftsstrukturen zu erkennen, muss man immer Vergleiche führen. Das ist etwas anderes als Gleichsetzen. In den linken Kreisen, in die ich hineingeboren bin und aus denen ich komme, war in diesem Sinne das Wort «Wehret den Anfängen» immer wichtig.“
Organisiert wurde die Veranstaltung von der Initiative «Wir sind Viele». Bei ihren Kundgebungen am Montag gibt es neuerdings das Format «Moderiertes Gespräch», bei dem ein Gast in Blöcken befragt wird – so wie Troyke. Sein Auftritt stellte einen Mix aus Rede und Musik dar, die für gute Stimmung sorgte und das Publikum in Bewegung brachte. Der Liedermacher gab unterschiedliche Songs aus seinem Repertoire zum Besten, darunter Interpretationen bekannter Künstler, aber auch eigene Stücke, die Troyke dem gegebenen Anlass anpasste. Mit seiner bescheidenen wie sympathischen Art hat er die Menschen erreicht. Selbst die Gegendemonstranten hörten zweitweise gebannt zu. Der Berliner ist einer der wenigen Künstler, die sich trauen, in der Öffentlichkeit Farbe zu bekennen und Gesicht zu zeigen. Viele bekannte Kollegen hätten Angst vor Anfeindungen, sagte er zu Beginn der Veranstaltung. Sein couragierter Auftritt könnte ihnen vielleicht Mut machen.
Hier die Links zur Website von Karsten Troyke und zu seinem Auftritt vor der Gethsemanekirche:
https://karsten-troyke.de/index.html
https://www.youtube.com/watch?v=-dAX5yIt8bs
https://www.youtube.com/watch?v=7pDhhSdUVTE
https://www.youtube.com/watch?v=9x1wx3wba-w
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