Ein Standpunkt von Paul Soldan.
Ein Exklusivauszug aus dem Buch: „Sheikhi – Ein afrikanisches Märchen“
Werden heute eigentlich noch Geschichten erzählt, die die großen Themen unseres Lebens wie Freiheit, Frieden, Freundschaft und Lebenssinn behandeln? Und finden diese Geschichten, falls sie überhaupt noch geschrieben werden, dann auch den Weg in die Öffentlichkeit? Paul Soldan hat sich der Erzählung einer solchen Geschichte gewidmet. Sie trägt den Namen: „SHEIKHI – Ein afrikanisches Märchen <1>“, erschienen im Januar 2024 im Anderwelt Verlag. Dieser „Standpunkt“ ist ein leicht eingestrichener Exklusivauszug aus dem Buch.
Es handelt sich dabei um eine spannende und berührende Abenteuergeschichte, die den Teufelskreis von Krieg aufzeigt und die Mechanismen offenlegt, die junge Männer zu solch schrecklichen Taten treiben; zu Taten, die sie eigentlich verabscheuen sollten, weil diese sie ihrer Zukunft berauben. Die Handlung der Erzählung besitzt eine universelle Gültigkeit und behandelt wichtige Themen unseres Lebens wie das Aufbrechen von Freund-Feind-Denken und die Überwindung von Hass. Doch auch die Natur und der Wald als Symbol für Kooperation und Kreisläufe bilden ein zentrales Element. Darüber hinaus enthält das Buch eine klare Botschaft: Frieden kann ausschließlich mit einer inneren Haltung zum Frieden erreicht werden! Auch wenn sich der Ort des Geschehens auf dem afrikanischen Kontinent befindet, sind die Inhalte der Geschichte für Europa und für Deutschland genauso brandaktuell wie für den Rest der Welt. Eine Affinität zu Afrika ist somit keine Lesevoraussetzung. Da Aufrüstung und Krieg heute zunehmend wieder salonfähig werden, kann die Zeit nicht passender für ein solches „Friedensmanifest“ sein.
Der Imam „Sheikhi“, bürgerlich Idriss Diarra, ist das geistliche Oberhaupt eines Dorfes am Rande des afrikanischen Regenwaldes. Regelmäßig besucht er einen geheimen und magischen Ort versteckt im Wald. Der Jugendliche Abanga, der nach dem Verlust seiner Familie zu Sheikhis Zögling wurde, folgt ihm, fliegt dabei durch sein ungeschicktes Verhalten jedoch auf. Als Sheikhi daraufhin den Jungen zur Rede stellt, erfährt er, dass sich dieser am kommenden Tag auf den Weg nach Westen in den dort tobenden Krieg begeben möchte. Dafür erhofft er sich den Segen seines alten Mentors, den dieser ihm jedoch verwehrt. Zudem verbietet Sheikhi Abanga den Aufbruch nach Westen und versucht in den folgenden Tagen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Fortan treffen sie sich jeden Morgen am geheimen Platz im Wald und der Imam erzählt dem Jungen von seinem früheren Leben als Söldner, von dem dieser bislang nichts wusste.
In seiner Erzählung verrät Sheikhi dem Jungen, wie er als junger Mann selbst von den „Rattenfängern“ der Kriegsmaschinerie zunächst für den Krieg begeistert und schließlich in den Einsatz gelockt wurde. Als die Gruppe der jungen Männer nach langer Reise endlich das Kampfgebiet am Rande des Regenwaldes, weit von der Heimat entfernt, erreicht hatte, fand sie sich jedoch auf sich selbst gestellt wieder. Beim Transport der unerfahrenen Soldaten war etwas schief gegangen und der eigentliche Zielort verfehlt worden. Glücklicherweise wurden sie aber wenige Stunden später von einer Kompanie entdeckt, die Sheikhi und seine jungen Kameraden bei sich aufnahm.
Der Kommandant
Der Name ihres Kommandanten war Adama Thiam. Er war kräftig gebaut und etwas größer als ich, wenngleich er auch nicht wirklich groß war. Täglich trug er ein knallrotes Barett, welches, obwohl wir uns mitten im Regenwald befanden, stets in einem beispiellos gepflegten Glanz erstrahlte. Mit seinem beeindruckenden Schnurrbart wirkte er auf den ersten Blick wie ein harter Hund. Dieser konnte er zweifellos sein, jedoch war sein wirklicher Charakter sehr hilfsbereit und von väterlicher Natur. Er war so, wie ich mir einen wahren Anführer immer vorgestellt hatte: streng, aber gerecht!
Unsere neue Kompanie nannte sich Brüder des Friedens. ›Das ist die richtige Armee für mich!‹, fühlte ich. Schließlich war ich aus diesem Beweggrund dorthin gekommen: für den Kampf für Frieden und Gerechtigkeit. Und als Brüder des Friedens waren es auch ihre Motive, gegen Leid, Unterdrückung und Mord, und für die Gerechtigkeit, den Frieden und die Freiheit zu kämpfen. Davon hatte ich die ganze Zeit über geträumt, während ich in dem Transporter durch die dunklen Nächte fuhr.
In den ersten Wochen sprach ich viel mit anderen Soldaten. Ich fragte sie, woher sie kämen, wie lange sie hier bereits kämpften und wie ihre ganz persönliche Motivation für diesen Krieg aussähe. Einer, sein Name war Salif Cissé, erzählte mir, dass er nun schon über ein Jahr hier sei. Damals bei seinem Aufbruch hatte er nicht damit gerechnet, so lange von zu Hause weg zu sein. Inzwischen vermisse er seine Heimat auch sehr. Kurz vor seiner Abreise hatte er geheiratet und seine Frau würde mittlerweile ihr gemeinsames Kind geboren haben.
»Nun denn, es ist unsere heilige Pflicht, unseren Glauben zu verteidigen und für ihn zu kämpfen, nicht wahr!?«, sprach er nach einer kurzen Pause enthusiastisch. Aber ich spürte, wie sehr er damit versuchte, seine Wehmut beiseitezuschieben.
Ein anderer Kamerad hieß Abdi Hussein. Er war stets gut gelaunt, kam weit aus dem Osten und war noch deutlich jünger als ich. »Diese Kompanie ist meine Familie und Kommandant Thiam mein Vater!«, sagte er während unseres ersten Gesprächs aus tiefster Überzeugung. Abdi war überaus redselig, sodass ich im Grunde nie nachzufragen brauchte. Er erzählte einfach drauf los:
»In meiner Heimat ist die Situation genauso schlimm wie hier. Ein Leben ist nicht viel wert, die Menschen sind arm und die Politiker korrupt. Tod und Terror sind allgegenwärtig und die Hoffnung auf ein besseres Leben ist so weit weg, dass sie nicht einmal mehr vor dem inneren Auge zu sehen ist. Durch einen Terroranschlag auf einem Marktplatz in unserer Hauptstadt habe ich meine Eltern verloren. Einem meiner Brüder gelang es, nach Europa zu fliehen, ein anderer schloss sich einer Miliz aus dem Süden an. Der Rest meiner Familie ist entweder am Leben oder auch nicht. Von ihnen weiß ich leider nichts. Einige Monate war ich in meinem kaputten Land auf der Flucht, da begegnete ich, dank Gottes Hilfe, Kommandant Thiam. Erst kurze Zeit vorher hatte er damit angefangen, diese Kompanie aufzubauen, suchte noch nach Mitstreitern und fragte, ob ich mich ihm nicht anschließen wollte. Mit großer Begeisterung hat er mir erzählt, was er mit dieser Kompanie vorhabe und mich damit im Handumdrehen überzeugt. Und so bin ich zu einem der ersten Brüder des Friedens geworden!«, sagte er heiter und lachte bei seinen Ausführungen etliche Male ausgelassen. Durch all seine Erzählungen erkannte ich bald, dass er derjenige zu sein schien, der Kommandant Thiam am besten kannte. Und da dieser kaum etwas über sich preisgab, fragte ich den kleinen Abdi zuweilen über dessen Leben aus.
»Du weißt doch, wo Cissé herkommt, richtig!?«, antwortete er einmal hibbelig.
»Ja! Aus dem Westen, glaube ich.«
»Nicht nur einfach aus dem Westen, Idriss. Aus dem westlichsten Westen. Von dort, wo Afrika zu Ende ist. Würdest du hier losgehen, du bräuchtest Jahre. Es ist unglaublich, wie riesengroß unser Kontinent ist. Meine Heimat liegt genau auf der anderen Seite – am Stoßzahn – auch dort hört Afrika auf. Und weißt du, der Kommandant kommt ebenfalls aus Cissés Gegend, nur etwas weiter nördlich, aus der Wüste. In seinem Land war er ein angesehener Offizier und hat die gesamte Militärlaufbahn durchlaufen. Einmal hat er mir erzählt, dass in seinem Land religiöse Unterschiede kaum vorhanden sind. Jeder glaubt an das Gleiche. Und trotzdem geht es dort weder gerecht zu, noch sind die Menschen gleich – gleich in ihrer Berechtigung und gleich in ihrem Wert. Sein Land wird nicht durch unterschiedliche Religionen getrennt, sondern durch verschiedene Volkszugehörigkeiten. ›Abdi, mein Junge! Stell dir folgendes Bild vor‹, sagte er damals zu mir. ›Es ist wie eine Pyramide, in der die wenigen, die weit oben auf ihr thronen, den Hauptanteil an Reichtum und Macht besitzen. Noch dazu unterdrücken diese wenigen alle anderen und rechtfertigen ihre Taten mit der Religion. Das ist schweres Unrecht!‹
Der Kommandant erzählte mir weiter, dass in der gesamten Region viele religiöse Fanatiker ihr Unwesen trieben und in den Nachbarländern viel Chaos und Terror verbreiteten. Aber, Idriss! Ich verstehe das nicht. Es ist genau wie in meiner Heimat. Auch dort gibt es kaum religiöse Unterschiede und doch übersäen unsere Brüder es mit Gewalt und Terror. Nur Gott weiß, warum das so ist … Aber zurück zu diesen Fanatikern. Der Kommandant verriet mir, dass diese überall an den Grenzen des Landes Anschläge verübt hatten und in Dörfer eingefallen waren. Die militärische Hauptaufgabe des Kommandanten bestand darin, diesen Terror einzudämmen und außerhalb der Landesgrenzen zu halten. Er führte jedoch einen aussichtslosen Kampf. Die Wüste in diesem Gebiet ist grenzenlos und bot den Attentätern zu viele Unterschlupfmöglichkeiten. So hatte er sie nie wirklich packen können. Im Grunde stellten sie aber für die innere Sicherheit seines Landes keine besonders große Gefahr dar. Weitaus mehr waren die Nachbarländer von ihrem Terror betroffen.
Eines Tages stieß der Kommandant auf eine Entsetzlichkeit. Er befand sich damals auf einer lockeren Versammlung verschiedener hochrangiger Militärs. Es wurde geredet, gelacht und ausgelassen gefeiert. Irgendwann, es war schon spät in der Nacht, erhob sich sein Vorgesetzter General Abdelkader Hassan. Mit einem Glas teuren Cognacs in der Hand stieg er auf seinen Stuhl und sprach laut, stolz und etwas angesäuselt zu der versammelten Mannschaft:
›Meine Freunde, hört alle her! Ich habe die erfreuliche Nachricht zu verkünden, dass ich schon in der nächsten Woche eine dritte Ehefrau mein Eigen nennen darf. Sie ist blütenrein, wunderschön und blutjung. Vor wenigen Wochen habe ich sie kennengelernt und war augenblicklich von ihrer Anmut und Reinheit verzaubert. Daher war es mir unmöglich, ihr nicht auf der Stelle einen Heiratsantrag zu machen. Heute Abend möchte ich meine Freude und mein Glück mit euch allen teilen. Darum lasst uns feiern, als ob es kein Morgen mehr gäbe!‹ Alle Männer liefen sogleich eiligst zu ihm, um ihm ihre Gratulationen auszusprechen. ›Habt vielen Dank für eure Glückwünsche, liebe Freunde. Nur lasst mich noch eine weitere Kleinigkeit hinzufügen. Ihr alle kennt mein schönes und gemütliches Haus. Viele von euch waren bereits selbst als Gäste dort. Darum werdet ihr verständlicherweise nachvollziehen können, dass es jetzt für meine immer größer werdende Familie einfach zu wenig Platz und Komfort bietet. Aus diesem Grund habe ich mir im gleichen Zuge auch ein größeres, prachtvolleres Haus gekauft!‹
Die Männer standen still an ihren Plätzen und ließen einen mächtigen Applaus durch den Saal widerhallen. ›Und lasst mich noch eine dritte Sache hinzufügen‹, unterbrach er die Runde ein weiteres Mal. ›Meine erste Frau wird allmählich alt und die Hausarbeiten fallen ihr zunehmend schwerer. Meine neue Frau ist einfach zu zart und schön, als dass sie ihre feinen Hände mit der groben häuslichen Arbeit ruinieren sollte. Somit bliebe nur noch meine zweite Frau für alle täglich anfallenden Arbeiten übrig. Was wäre ich für ein schlechter Ehemann, wenn ich sie mit all diesen Aufgaben alleine ließe!? Daher ist es mir gelungen, eine Hilfe für den Haushalt zu erwerben. Sie war äußerst günstig, dafür, dass sie noch so jung ist. Meine Freunde, es ist wahrhaftig eine gute Zeit für mich. Hurra!‹
General Hassan ließ seine Hacken laut gegeneinanderknallen, hob sein Glas und begann lautstark zu jubeln, woraufhin alle Männer im Saal frenetisch mit einfielen. In diesem Augenblick durchfuhr den Kommandanten blitzartig ein Schrecken. Hatte er General Hassans Worte richtig verstanden? Die ganze Zeit, während dieser sprach, hatte der Kommandant leicht abwesend auf seinem Stuhl gesessen und dem Spektakel aus der Ferne zugesehen.
›Herr General, was meinen Sie mit erwerben?‹, fragte der Kommandant, nachdem er argwöhnisch an General Hassan herangetreten war. ›Wie kann man eine Haushaltshilfe erwerben? Wenn, dann stellt man sie doch ein!‹ Die anderen Offiziere starrten ihn daraufhin verblüfft an. General Hassan stand weiterhin auf seinem Stuhl, blickte etwas verdutzt zum Kommandanten herunter und antwortete amüsiert:
›Thiam, Sie alter Witzbold! Sie wissen doch genau, wie der Hase läuft. Wie soll man denn ein rechtloses Mädchen anstellen – ohne Identitätspapiere? Das hieße dann ja auch, dass ich ihr einen Lohn auszahlen müsste. Warum in aller Welt sollte ich das tun? Ich habe doch bereits für mein Eigentum bezahlt!‹ Er trank den letzten Schluck seines Cognacs aus, kicherte belustigt und sagte: ›Thiam, wir müssen die alten Traditionen pflegen. Unsere Religion verlangt es!‹
›Herr General, lassen Sie bitte die Religion aus dem Spiel!‹, gab der Kommandant barsch zurück. ›Die hat rein gar nichts damit zu tun! Sagen Sie mir, wo haben Sie dieses Mädchen erworben?‹
›Thiam, nun werden Sie nicht unverschämt und achten auf Ihre Wortwahl!‹, ermahnte ihn General Hassan nun energischer. ›Schauen Sie sich um. Nahezu jeder von uns besitzt doch eine … Unterstützung für den Haushalt.‹ Dabei zeigte er mit seinem rechten Arm in die Runde und ließ diesen langsam durch den ganzen Saal gleiten.
›Herr General! Es ist wohl nicht notwendig zu betonen, dass Ihre Handlung gegen das Gesetz verstößt. Von daher muss ich Sie auffordern, das Mädchen unverzüglich freizulassen und dafür Sorge zu tragen, dass sie schnellstmöglich rechtsgültige Papiere erhält!‹
Für einen kurzen Moment sah General Hassan den Kommandanten verwundert an und fing nach wenigen Sekunden an schallend zu lachen. Seiner Gefolgschaft signalisierte er mit einer Geste, dass sie sich seinem Lachen ebenfalls anschließen sollte. Was sie sogleich auch bereitwillig tat. Nachdem sich der Kommandant das inzwischen hysterisch gewordene Gelächter eine Zeit lang mitangesehen hatte, hob er seinen Fuß und trat mit seinem harten Stiefel heftig und kraftvoll auf den spröden Boden auf. Ein lauter, satter Knall durchschlug den Saal und brachte das Gelächter der Männer augenblicklich zum Erliegen.
›Herr General! Sie kennen unsere Gesetze und wissen genau, ebenfalls wie jeder andere in diesem Saal, dass die Beteiligung an Sklaverei verboten ist und unter Strafe steht. Sie ist ein düsteres Relikt aus vergangenen Zeiten. Gott sei es gedankt, dass es dieses Verbot mittlerweile in unsere Rechtsordnung geschafft hat. Als ehrenhafter Soldat ist es meine Pflicht, diese Unmenschlichkeit zu unterbinden. Aus diesem Grund muss ich Sie melden!‹
Das schallende Gelächter General Hassans hatte nicht geendet. Viel mehr hatte es sich nach den drastischen Worten des Kommandanten zu einem herablassenden und höhnischen Grinsen gewandelt. ›Oh, Thiam! Sie leben ja wirklich in ihrer eigenen Welt. Ich kann es ja verstehen. Schauen Sie sich an: Sie sind keiner von uns. Mit Glück und Beziehungen haben Sie es ins Militär geschafft und konnten hier eine angesehene Stellung erreichen. Sie können sich ganz gewiss ausmalen, was aus Ihnen geworden wäre, hätten Sie diese Beziehungen nicht gehabt. Wahrscheinlich wären Sie heute der Fahrer irgendeines Geschäftsmannes oder würden die Ziegen eines Bauern auf die Weide treiben. Sie würden mit allergrößter Sicherheit ein ebenso tristes Dasein führen, wie mein gerade erst frisch erworbenes Eigentum. Bitte sehr, melden Sie mich! Nur habe ich keine Konsequenzen zu fürchten. Wir halten uns eben alle den Rücken frei. Derjenige, Thiam, für den es Konsequenzen nach sich ziehen wird, das sind Sie!‹
Auf diese Bemerkung musste der Kommandant zunächst einen Augenblick lang innehalten‹, sagte der kleine Abdi in einer Weise, als wäre er damals selber dabei gewesen. ›Diarra! Du siehst ja selbst, dass die Haut des Kommandanten ziemlich dunkel ist. So wie unsere auch. Da General Hassan aber einer anderen Volksgruppe angehörte, war seine heller. Der Kommandant erzählte mir, dass es schon in der Vergangenheit sehr viele unfreie Menschen in seinem Land gegeben hatte. Worte wie Freiheit, Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit hatten für diese nie gegolten. Sie besaßen keine Papiere und dadurch keine Ansprüche. Einer Arbeit nachgehen oder gar reisen konnten sie demzufolge auch nicht. Sie galten als Eigentum und hatten einen Wert, der mit dem von Nutzvieh vergleichbar war. Schändlicherweise sind bis heute noch sehr viele Menschen von diesem Schicksal betroffen. Menschen, die ebenso aussehen wie wir. Aber jene, die so aussehen wie General Hassan, haben nichts zu befürchten, denn sie stehen in der Pyramide ganz oben. Dem Kommandanten war zwar bewusst, dass dieses widerwärtige Denken noch immer in vielen Köpfen steckte, jedoch hatte er bis dahin geglaubt, dass zumindest seine Kameraden dieses Weltbild überwunden hätten. Diesen Schock musste er erst einmal verdauen. Und nachdem er einen kurzen Moment einfach nur dagestanden und in das grinsende Gesicht von General Hassan geblickt hatte, packte ihn plötzlich die Wut. Jedoch durfte er sich diese nicht anmerken lassen. Schließlich musste er in dieser Situation Stärke zeigen. Von daher sprach er in freundlichstem Ton zu ihm:
›Herr General! Wenn Sie es so wollen, werde ich unverzüglich ein Telefonat mit unserem Minister führen und ihm über seine rechtschaffenen Untergebenen Bericht erstatten. Sie wissen ja, dass uns seit Jahren eine enge Freundschaft verbindet. Und wer weiß, womöglich bekommen Sie am Ende doch, was Sie gerechterweise verdienen: eine Verurteilung!‹
Aufgrund des Mutes und der Entschlossenheit, die der Kommandant ihm entgegenbrachte, hatte es General Hassan für einen Augenblick die Sprache verschlagen. Jedoch fing er sich kurz darauf und schaute ihn anschließend mit einem finsteren, hasserfüllten Blick an.
›Thiam! Sollte das geschehen, dann …‹ Er stockte und blickte zu seinen Männern. Diese erhoben sich alle und versammelten sich langsam hinter ihm. Erst nachdem sich auch der letzte richtig positioniert hatte, sprach General Hassan weiter: ›… dann werde ich dich töten!‹ Seine bis dahin kaltblütige und bedrohliche Stimme wandelte sich in eine feine Art unheimlichen Wahnsinns.
›Wir alle werden dich töten, dich und deine ganze Familie! Eure Leichen verscharren wir irgendwo in der Wüste. Man wird sie niemals finden! Und weißt du, was dann geschehen wird? Nichts! Absolut nichts! Ich werde meiner dritten Ehefrau ein opulentes Hochzeitsfest bereiten, welches das gesamte Land nie vergessen wird. Ich werde in mein neues, prachtvolles Haus einziehen und es ebenso mit einem gewaltigen Fest einweihen! Und möglicherweise werde ich mir, neben meiner frisch erworbenen Dienerin, noch eine zweite zulegen! Falls ich Lust bekommen sollte.‹
Der Kommandant stand mit größter Mühe seine Fassung zu bewahren vor den Männern, von denen er geglaubt hatte, sie zu kennen und brachte kein einziges Wort heraus. Doch General Hassan war noch nicht zu Ende: ›Soldat! Ich denke, Ihre Zeit in diesem Land ist soeben abgelaufen. Mein Vorschlag zur Güte: Ich empfehle Ihnen, dass Sie noch heute Ihren Dienst quittieren, uns anschließend nie wieder unter die Augen treten und sich einen neuen Ort zum Leben suchen.‹«
Diese Drohung von General Hassan veranlasste Kommandant Thiam, so schnell er konnte, das Land zu verlassen. Mit seiner Familie begab er sich unverzüglich in ein Gebiet im Südosten, um dort sicher die Grenze zu passieren. Jedoch wurde dort sein Wagen von einem plötzlich aufgetauchten Militärfahrzeug gestoppt. General Hassan hatte seine Leute geschickt, um die Flucht doch noch zu verhindern und Kommandant Thiam ermorden zu lassen. Unvermittelt war im letzten Moment aber ein Konvoi verschiedener internationaler Organisationen und Militärs aufgetaucht und rettete seine Familie und ihn vor dem sicheren Tod.
Der kleine Abdi erzählte weiter: »Perplex stand er vor seinen Befreiern und fragte, wie sie denn nur von diesem geheimen Plan erfahren hätten. Da trat aus der Gruppe eine kleine, quirlige Frau heraus – so hatte sie mir der Kommandant beschrieben – und antwortete mit einem frechen Lächeln: ›Die Guten müssen doch am Leben bleiben!‹
Kannst du dir das vorstellen, Diarra? Sklaverei! Und das nicht von irgendwelchen Weißen oder so. Nein, von uns selbst. Unsere eigenen Brüder und Schwestern halten unsere eigenen Brüder und Schwestern als Sklaven! Das ist doch Wahnsinn! Sobald wir diese Schlacht gewonnen haben, werde ich den Kommandanten bitten, an seiner Seite für Gerechtigkeit in seiner Heimat zu kämpfen. Schließ dich uns doch an! Es gibt so viel Elend, Unterdrückung und Krieg. Will man die Welt retten, man weiß nicht, wo man anfangen soll.«
Die Geschichte des Kommandanten machte mich nachdenklich. Bis dahin war es für mich unvorstellbar gewesen, dass wir uns als Glaubensgemeinschaft so etwas antun konnten. Außerdem hatte ich immer geglaubt, das Militär bestünde aus ehrenwerten Männern und handelte nach einem strikten Ehrenkodex. Wenn es aber die gleichen Verbrechen beging, die es doch eigentlich verhindern sollte, welchen Nutzen hatte es dann?
»Wie ging es mit dem Kommandanten weiter?«, fragte ich Abdi neugierig.
»Einige Zeit irrte er durch die Nachbarländer, da er einen sicheren Ort für seine Familie finden wollte. Auf dieser Suche traf er dann für sich eine Entscheidung: Zukünftig wollte er sein Leben ganz in den Dienst von Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit stellen. Sein ganzes bisheriges Leben war er Soldat gewesen. Kämpfen war das, was er konnte. Darum beschloss er, seine eigene Armee zu gründen, die für Freiheit der Menschen Afrikas kämpfen würde. In meinem Heimatland besaß er einige Kontakte, von denen er sich für sein Vorhaben Unterstützung erhoffte. Kurz bevor der Kommandant das Land wieder verlassen wollte, fand er unerwartet mich. Durch seine guten Kontakte schmuggelte er mich mühelos heraus und nahm mich in seine Kompanie auf. Seitdem gehöre ich zu ihm.«
»Und wie kam es dazu, dass ihr gerade hierhergekommen seid?«, fragte ich weiter.
»Eine fanatische Sekte hatte einige Jahre zuvor begonnen, weiter im Westen Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie fielen über Dörfer und Städte her und entführten, terrorisierten und töteten die Bevölkerung. Der Kommandant hatte davon gehört, bevor er in mein Land gekommen war. Es interessierte ihn, wie die Lage vor Ort wirklich aussah. Und um mehr herauszufinden, reisten wir einfach schnurstracks dorthin. Kurz nach unserer Ankunft lernten wir dann unseren Vize-Kommandanten kennen. Zaharaddeen Musa.«
»Ist das der große, schlanke Mann mit dem finsteren Blick, der bis auf den Kommandanten mit niemandem spricht?«
»Ja, er ist schon etwas seltsam und auch ein bisschen furchteinflößend. Mit seiner kleinen runden Brille und dem strengen Blick sieht er manchmal wie mein fieser, alter Lehrer aus. Nur passt seine dunkelgrüne Feldmütze nicht wirklich dazu!« Und erneut musste der kleine Abdi über sich selber lachen. »Ganz ohne Zweifel ist er aber ein wahres Genie. Auch er kommt vom Militär, vom Geheimdienst, weißt du. Der Kommandant wollte unbedingt, dass er sich unserer Kompanie anschließt. Vize-Kommandant Musa willigte aber erst nach langem Zögern ein und machte zur Bedingung, in diesen Wald zu kommen und in diesem Krieg zu kämpfen.«
»Warum?«
»Keine Ahnung! Aber er ist es, der unserem Kommandanten sämtliche Informationen besorgt. Nur dadurch schaffen wir es, uns so geschickt und unsichtbar durch dieses undurchsichtige Terrain zu manövrieren.«
»Wenn Vize-Kommandant Musa in seiner Heimat wirklich beim Geheimdienst gearbeitet hat, wird er doch bestimmt ein gutes Leben mit einem stattlichen Einkommen gehabt haben. Warum ist er gegangen?«
»Das habe ich ihn, als wir von dort aufbrachen, auch gefragt. Darauf hat er aber nur geantwortet: ›Dieses Land ist verloren. Hier gibt es nichts mehr!‹ Mehr weiß ich auch nicht. Vize-Kommandant Musa ist kein Kämpfer. Er trägt zwar eine Waffe, hat sie aber bislang noch kein einziges Mal benutzt. Von ihm kommen die ganzen Pläne und Strategien. Damit wir jungen Kerle nicht wild umherballernd durch den Regenwald rennen, verstehst du?«
Noch während meiner Anfangszeit hatte mich der Kommandant zur Seite genommen und ein langes Gespräch mit mir geführt: »Idriss, es lohnt sich immer, für eine bessere Welt zu kämpfen. Aber vergiss deine Motivation niemals und merke sie dir gut. Denn du wirst hier Dinge erleben, die für dich eine wahre Prüfung darstellen werden. Erinnere dich in diesen Momenten an deine Beweggründe! Dein Weg hat dich zur richtigen Kompanie geführt. Jeder von uns besitzt so viel Ehrgefühl, wie es im ganzen Wald nicht vorhanden ist. Es gibt in diesem Krieg jedoch auch andere, die tragen weder Ehre noch Würde in sich und kämpfen ausschließlich um des Kämpfens willen. Drum achte gut auf dich, Idriss!«
Quellen und Anmerkungen
Paul Soldan arbeitet als freier Autor und Onlineredakteur. Zuvor war er bis 2017 für verschiedene Finanzdienstleistungsunternehmen in Hamburg und anschließend als künstlerischer Mitarbeiter am Volkstheater Rostock tätig. Zwischen 2022 und 2023 verbrachte er über ein Jahr auf dem afrikanischen Kontinent. Im Januar 2024 erschien sein literarisches Erstlingswerk, „Sheikhi – Ein afrikanisches Märchen“ im Anderwelt Verlag.
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