Die meisten Menschen setzen »den Staat« mit der in ihm lebenden Gesellschaft gleich. Das ist ein Trugschluss.
Von Susan Bonath.
Die Vorstellung ist weit verbreitet: »Der Staat«, das seien »wir alle«. Da irgendwer den Hut aufhaben müsse, wählen wir einfach ein Parlament. Dies beschließt sodann Gesetze, die allen dienen sollen und setzt diese dann mithilfe ihrer Exekutive durch. Es wird uns suggeriert: Mische dich ein in die Politik, gestalte mit. Dann klappe es auch mit der Demokratie. Das reicht bis hin zu Beschimpfungen von Nichtwählern.
Verklärung als »Gemeinwesen«
Rechte Parteien und Gruppierungen, einschließlich CDU, CSU und AfD, definieren den bürgerlichen Staat in der Regel als ethnisches Konstrukt: Eine bestimmte, an äußeren Merkmalen erkennbare Gruppe lebe in einem national begrenzten Gebiet innerhalb des jeweiligen Gesetzesrahmens.
Während konservative Rechte rundum den autoritäre Apparat bevorzugen – jedenfalls plädieren sie dafür – betonen neoliberal ausgerichtete gern angebliche Vorzüge des »schlanken Staates«: Regularien seien abzubauen, freilich vor allem solche, welche die Wirtschaft im Zaum halten. Dies schaffe, so die Mär, am Ende Arbeitsplätze. Zugleich plädieren sie für eine harte Hand gegen Lohnabhängige, Arbeitsunfähige und Erwerbslose, sowie für die Aufrüstung von Polizei und Militär, um »Sicherheit zu gewährleisten«. Sie verlangen einerseits die volle Freiheit für die Eigentümer von Wirtschafts- und Finanzkapital. Andererseits wollen sie Besitzlose stärker knechten und reglementieren. Kurz: Weniger Staat für Reiche, mehr für Arme.
Die reformistische Linke indes bevorzugt einen staatlichen Gesetzesrahmen für alle, die innerhalb der jeweiligen Nation leben. Gern verklärt sie »Vater Staat« als Verfechter der und Wächter über die Demokratie, Beschaffer von Arbeitsplätzen in Behörden und Verwaltungsapparaten sowie als Verwalter »öffentlichen« Eigentums. So fordern die Reformer etwa mehr Polizei für »unsere« Sicherheit. Ähnlich wie die Rechten trommeln sie zur Wahl als »bürgerliches Mitgestaltungsinstrument« des staatlichen »Gemeinwesens«.
Materielle Zwänge durch private Aneignung
Wer schon mal in einem Kommunalparlament aktiv war, weiß indes, dass materielle Zwänge dem Spielraum für Entscheidungen engste Grenzen setzen. Kaum anders sieht es in den Landtagen und im Bundestag aus: Kein Geld für Bildung, Schulsanierungen, Jugendclubs, Sozialarbeit, höhere Renten, öffentliche Jobs.
Doch wo liegt das Geld, wenn nicht im Staatshaushalt? Für Deutschland gilt: Bei den Quandts, den Reimanns, den Schaefflers, den Albrechts – kurz: Bei superreichen Unternehmern. Allein die neun reichsten Familien verfügen laut jüngster Schätzung des »Manager-Magazin« über rund 700 Milliarden Euro Kapital – das ist knapp ein Viertel des gesamten bundesdeutschen Bruttosozialproduktes im vergangenen Jahr.
»Unser« Staat ist mitnichten darauf erpicht, mit Geld der Superreichen seine klammen Kassen aufzufüllen. Im Gegenteil: Die Vermögenssteuer wurde abgeschafft. Auch beim Vererben können sich schwerreiche Unternehmer selbst nach der jüngsten Neufassung des Gesetzes auf jede Menge Schlupflöcher verlassen. Spekulanten haben freie Hand, der Spitzensteuersatz ist so niedrig wie nie in den vergangenen 70 Jahren.
Mithin: Der Staat sorgt dafür, dass die Kapitalvermögen dort bleiben wo sie sind: In den Händen der privaten Eigner, der Profitierenden. Er sorgt dafür, dass Lohnarbeiter und Kleinunternehmer, von steigenden Abgaben und Steuern gebeutelt, kaum die geringste Chance haben, ihrer Abhängigkeit vom Erwerbseinkommen zu entrinnen, heißt: so viel Kapital anzuhäufen, um von den Profiten, die selbiges abwirft, leben zu können.
Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse verrechtlicht
Der Staat als bürokratisch-rechtliches Konstrukt sind also nicht »wir alle«. Er hat und hatte seit Anbeginn seiner Entstehung nur eine Aufgabe: Die Widersprüche zwischen abhängigen Besitzlosen und profitierenden Inbesitznehmern im Sinne letzterer zu regulieren, kurz: Ausbeutungsverhältnisse in einen Gesetzesrahmen zu pressen. Keineswegs wirkte am Entstehen und Ausbau irgendeines Staates die unterdrückte Klasse mit.
Hier ist zu fragen: Wer besitzt was und warum? Die allermeisten Milliardenvermögen haben nichts mit dem Märchen »vom Tellerwäscher zum Millionär“ zu tun. Viele Reichtümer befinden sich seit Jahrhunderten im Besitz einzelner Familienclans. Frühere Landadelsdynastien haben ihre Imperien nunmehr der kapitalistischen Wirtschaft angepasst. Die Nachfolgegenerationen von einstigen Großgrundbesitzern verfügen heute häufig über beachtliches Industriekapital. Das hat einen Grund: Kraft staatlicher Gesetze wird Vermögen vererbt. Es bleibt in der privilegierten Familie.
Um es klar zu stellen: Es geht nicht um das Einfamilienhäuschen oder den Mittelklassewagen. Es geht um den Besitz von Produktionsmitteln, wie Grund, Boden, Rohstoffe, Ressourcen, Fabriken, Maschinen, Banken – um Wirtschaftsgüter, mit denen mit Hilfe und zu Lasten abhängiger Lohnarbeiter Profit erwirtschaftet wird.
Komplexes System führt zu Fehlschlüssen
Der Staat im arbeitsteiligen, industrialisierten und sich fortwährend technisch weiterentwickelnden Kapitalismus ist ein entsprechend komplexes Apparatesystem, das in gesellschaftliche Prozesse weitreichend eingreift. Damit wird der Staat laufend nicht nur veränderlichen ökonomischen Bedingungen, sondern vor allem den für die Ausbeutung notwendigen Machtverhältnissen angepasst.
Viele kritisieren zwar zu recht, dass Gesetze und Rechtsnormen zumeist von einflussreichen Verbänden des Industrie- und Finanzkapitals nach deren Interessenlagen geschmiedet und vom Parlament lediglich abgesegnet werden, und dass diese Normen nicht ihren Interessen dienen. Dennoch führen Komplexität und Propaganda zu weit verbreiteten Fehlannahmen. Hier nur eine kleine Auswahl:
Die bürgerliche Demokratie sorge auch für »Wohltaten« für Erwerbsabhängige, wie Mindestlohn, Sozialleistungen, Rente oder Krankenversicherung.
Auch wenn »Wohltat« wohl kaum das richtige Wort für derlei Minizugeständnisse ist: Im Prinzip ist das richtig. Allerdings würden die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse nicht ohne minimale Zugeständnisse funktionieren. Dann nämlich wäre ein Aufstand vorprogrammiert, der wiederum das Erwirtschaften von Profiten auf Kosten der Lohnabhängigen gefährden würde.
Im Kapitalismus lassen sich die Profiteure somit aus eigenem Interesse auf Zugeständnisse ein, dies allerdings gerade soweit, wie es ihren Interessen dient. Heißt: Sozialleistungen oder Urlaub für Beschäftigte dienen einzig dazu, um Aufstände zu verhindern und die Produktivität durch Lohnarbeit zu erhalten.
Die Polizei als Exekutive schütze auch arme Bürger vor Raub, Mord und Totschlag.
Die meisten Verbrechen haben ihren Ursprung in der massiven Ungleichverteilung von Besitz und Rechten: Sie entspringen dem systemisch bedingten Verteilungskampf. Darunter fallen nicht nur Diebstahl, Raub, Raubmord oder Hehlerei, sondern auch ethnische oder sozialdarwinistische Diskriminierung, die sich in Ausgrenzung, Unterdrückung, Abwehr von gefühlter oder tatsächlicher Ausgrenzung/Unterdrückung oder Gewalt gegen Konkurrenten im Verteilungskampf auf jeder Ebene widerspiegelt.
Das Perfide: Das System produziert zunächst Verwerfungen. Deren Auswirkungen soll schließlich eine lohnmäßig privilegierte Exekutive minimieren. Subjektiv betrachtet, dient dies natürlich der Sicherheit aller. Objektiv und im Großen gesehen, hat jedoch der Polizeiapparat die Aufgabe, genau die systemisch produzierten Verhältnisse im Sinne der Herrschenden zu erhalten und zu gestalten.
Schließlich würde es den Interessen der Kapitalisten entgegenlaufen, wenn soziale Verwerfungen zu Protest führten. Das ist selbst vielen Polizisten nicht klar. Deshalb muss zwischen ihnen als privaten Individuen mit Familie und Bedürfnissen sowie ihrem Agieren innerhalb des Staatsapparats unterschieden werden.
Jeder könne sich zur Wahl stellen oder mindestens wählen gehen. Das zeichne Demokratie aus.
Noch einmal: Kommunalparlamente und Ortsbürgermeister können schon aus finanziellen Sachzwängen, salopp gesagt, kaum über mehr als die Farbe ihrer Parkbänke entscheiden. Um über Parteien für höhere, gut dotierte Posten kandidieren zu können oder sich für tragende Staatsämter zu bewerben, bedarf es schon einiger Anpassung, am besten zusammen mit Statusprivilegien: Beziehungen ins gehobene Bürgertum, mindestens eine familiäre Absicherung, die gegebenenfalls jahrelange unbezahlte Parteiarbeit und teure Wahlkämpfe erst möglich macht. Kurz: In gehobene Staatsämter und politische Positionen gelangen zumeist ohnehin nur Personen, die nicht der lohnabhängigen Schicht entspringen.
Zudem stelle man sich vor, eine Partei, deren Ziel es ist, die Besitzverhältnisse zu ändern, also den Kapitalismus zu beseitigen, käme im Bundestag ans Ruder. Es ist kaum vorstellbar, dass diese nicht nach ihrer ersten dahin ausgerichteten Amtshandlung mindestens mittels massiver Negativpropaganda und darauf folgenden »Neuwahlen« weggeputscht werden würde. Griechenland zeigt es: Die Besitzenden regieren, keineswegs Alexis Tsipras. Solange der Staat ein Organ ersterer ist, kann er nichts verteilen, worüber er nicht verfügt. Er kann mithin nur ausführen, was die Besitzenden vorgeben.
Verschleierte Verhältnisse und individuelle Interessen
Dass die Inbesitznehmer der Produktionsmittel auch nur geringste Teile ihrer Vermögen freiwillig in gesellschaftliche Verwaltung herausgeben, ist natürlich nicht zu erwarten. Ebenso utopisch ist es, vom Staatsapparat eine solche Umverteilung zu erhoffen.
Dass die Überlegungen Abgehängter und selbst linker Parteien dennoch kaum weiter reichen, als durch Druck soziale Zugeständnisse vom Akteur Staat abringen zu wollen, dass also kaum jemand die Besitzverhältnisse als Knackpunkt wahrnimmt, liegt an mehreren Konstellationen:
Erstens sind sich die im politischen und bürokratischen Apparat agierenden Individuen in der Regel nicht der Gesamtsituation bewusst. Zugleich haben sie selbst kein Interesse dran, ihre Privilegien aufzugeben. Oftmals stammen sie aus ohnehin gutbürgerlichen Schichten ohne jeden Bezug zu unterprivilegierten Erwerbstätigen. Das Individuum setzt bekanntlich zuallererst seine ganz persönlichen Bedürfnisse durch – hier mittels Anpassung, um den Status zu erhalten und aufzupolieren.
Zweitens sind die im Laufe der Zeit erlassenen Gesetze und Rechtsnormen inzwischen so exorbitant umfangreich und zersplittet, dass die meisten keine grundlegenden Zusammenhänge mit den Interessen einzelner Gruppen, geschweige denn, mit Gesamtwirkmechanismen des Systems, erkennen können. Selbst Juristen verlieren dabei schon mal den Durchblick.
Drittens sind die Privilegien auch innerhalb der lohnabhängigen Klasse so unterschiedlich verteilt, dass sich der relativ gut bezahlte Erwerbstätige seiner Unterdrückung, also dem Fakt, dass der Unternehmer Profit von seiner Arbeitsleistung abschöpft, gar nicht erst bewusst wird. Die Gewerkschaften übernehmen häufig die Rolle von Vermittlern zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern. Sie versuchen lediglich, ersteren minimale Zugeständnisse für die Arbeiter abzuringen, stellen aber den Widerspruch zwischen abhängiger Lohnarbeit und Profiten durch Kapitalbesitz gar nicht zur Debatte. Darüber hinaus sind meist die besonders unterprivilegierten Beschäftigten, etwa Leiharbeiter, kaum organisiert und werden somit nicht oder kaum von den Gewerkschaften unterstützt. Das mündet in einem Kampf in den Schichten der Abhängigen um Privilegien, der wiederum tatsächliche Verhältnisse verschleiert und aufgrund spezieller individueller Interessenlagen, die scheinbar einander widersprechen, zur Entsolidarisierung führt.
Viertens wird die Politik im Staat von vielen als Alleinakteur wahrgenommen. Tatsächlich ist diese jedoch nur ausführendes Organ innerhalb der vom Finanzkapital vorgegebenen ökonomischen Bedingungen. Diese Fehlinterpretation führt zur trügerischen Annahme auch unterprivilegierter Schichten, die Politik durch Aufforderungen oder Mitwirken in kommunalen Gremien oder Parteien zum Umdenken bewegen zu können. Und wie gesagt: Da die politischen Akteure meist selbst gutbürgerlichen Schichten entspringen, die seit jeher an ihrem Aufstieg durch Anbiederung an das Finanzkapital arbeiten, handeln sie, indem sie Sozialabbau betreiben, die Rechte einfacher Arbeiter beschneiden, Renten kürzen oder andersherum die Besitzenden immer weiter privilegieren, durchaus in ihrem individuellen Interesse.
Fünftens ist sich die Mehrheit nicht des Unterschiedes zwischen persönlichem Besitz und Kapitalvermögen, mit dem Profit zu Lasten abhängig Beschäftigter erwirtschaftet wird, bewusst. Spricht also jemand von Enteignung, folgt reflexartig der Angstschrei um das unter Entbehrungen angesparte selbstbewohnte Häuschen oder das Familienauto. Das Vermögen des Immobilienhais, der 100.000 Wohnungen gewinnbringend vermietet, oder das Kapital der Rüstungsschmiede, die profitbringend Waffen produzieren lässt und exportiert, wird in der Vorstellung – drastisch ausgedrückt – gleichgesetzt mit der eigenen Wohnungseinrichtung.
Das alles führt dazu, dass Lohnabhängige unbewusst die Kapitalisten als ihre »Arbeitgeber« verteidigen, sich sogar mit ihnen solidarisieren, nach dem Motto: Geht es dem Unternehmen gut, fällt mehr für mich ab. Zugleich wird der Staatsapparat als Gemeinwohlorganisation verklärt. Auf der anderen Seite klammert der Verwaltungsapparat an eigenen Privilegien. Generell hatte die sogenannte Mittelschicht schon immer das Bestreben, durch Anpassung nach oben zu kommen. Dass sie in der Regel gerade mal zwölf Monate vom Harzt-IV-Empfänger entfernt sind – entlassen werden kann fast jeder – verdrängen ihre Protagonisten gerne. Die Klassenunterschiede sind im Nebel individueller Interessen so verschwommen wie nie. Die Elite propagiert sie weg. Doch das Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär ist so falsch, wie es alt ist. Gleichwohl verhindert es den Klassenkampf von unten.
Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.
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