In der Politik geschieht nichts ohne Grund. Welcher spricht dafür, Angela Merkel gerade jetzt schrittweise abzulösen? Immerhin wurde die Noch-Kanzlerin einst als die mächtigste Frau der Welt gefeiert.
Von Heinz Kruse.
Von den Medien gezielt aufgebaut und verherrlicht, konnte angeblich niemand Angela Merkel das Wasser reichen. Vorwürfe der Rechtsbeugung tropften an der Kanzlerin ab. Chaotisch anmutende Entscheidungen, wie zum Beispiel der medial umjubelte Atomausstieg, den sie ohne Konzept für eine alternative Energiepolitik vollzog, waren keine Ausnahme, sondern geradezu ihr Markenzeichen.
Es gab unter Merkel, das ist keine Übertreibung, lähmenden Stillstand. Der war in Politik und Rechtspflege durchaus erwünscht. Denn ein Nachtwächterstaat ist das Ideal der Spekulanten.
In allen Fragen, die das Finanzkapital interessieren – wie beispielsweise die Privatisierung von Wohnungen, die Wild-West-Methoden bei der Besteuerung der Cum-Ex-Geschäfte – und die für einen entfesselten Manchesterkapitalismus [1] relevant sind, wird politisches Nichtstun und Handlungsunfähigkeit benötigt.
Offensichtliche politische Schwächen sind als Anlass für die Auswechslung Merkels nicht plausibel. Politische Handlungsunfähigkeit richtet Schäden an, wenn es um den Rechts- und Sozialstaat geht. Dem Finanzkapital ist sie als Kanzlerin allerdings von Nutzen.
Was schadet es dem System, wenn nur noch die Hälfte der Wähler zur Wahl geht? Was schadet es, wenn sozialistische oder grüne Parteien an einer Regierungskoalition beteiligt sind? Immerhin waren es Grüne und Sozialdemokraten die Anfang der Jahrtausendwende die Entfesselung der Finanzmärkte aktiv – und mit Schreibhilfe der Finanzlobby – betrieben haben. So wurden Spekulationsgeschäfte wieder erlaubt, zum Beispiel Verbriefungen, Zulassung von Hedgefonds und Dach-Hedgefonds, Leerverkäufe und Terminspekulationen aller Art. Ältere Mitbürger erinnern sich: Es sind Geschäfte, die ursächlich waren für die große Weltwirtschaftskrise mit ihren politischen Folgen.
Nahtlos haben sie gemeinsam die Finanzpolitik von Schwarz-Gelb fortgesetzt. Man könnte meinen, es war schon mit der Wiedervereinigung 1990 so eingetütet. Zudem sollte bis heute jedem Zeitzeugen der Angriffskrieg im ehemaligen Jugoslawien und die Demontage des Sozialstaates (zum Beispiel durch Hartz IV) in Erinnerung geblieben sein.
Bei allen Unterschieden der politischen Akteure, die in Grün, Blau, Schwarz, Gelb oder Rot über das Parkett stolpern, sind sie in einem Punkt absolut identisch: Sie haben gemeinsam die Entfesselung der Finanzmärkte mit allen ihren sozialen, humanen und ökologischen Folgen zu verantworten.
Letztlich ist es dem Finanzkapital aber gleichgültig, ob eine Regierung von zwei, drei oder allen Parteien gebildet wird.
Mancher mag meinen, eine All-Parteien-Regierung sei derzeit gar nicht möglich, weil ja dann die AfD ins Boot geholt werden müsste. Falsch! Die Bevölkerung kann sich sicher sein, dass die Damen und Herren der Wall Street auch für die AfD eine Lösung parat haben und sicher sind die Mainstream-Medien bereits darauf vorbereitet.
Welchen Grund gibt es also, gerade jetzt einzugreifen und eine auf den ersten Blick wichtige Schachfigur wie die Kanzlerin aus dem Spiel zu nehmen?
„Genießt die Show“, las ich zu dem Thema in einem Blog. „Show“ ist für das derzeitige Spiel aber zu kurz gedacht. Das globale „Big Game“ ist bitterernst und hat offensichtlich eine neue Stufe erreicht.
Wie in dem Beitrag „Die Entscheidung“ auf KenFM schon beschrieben, wendet sich das Finanzkapital bei seinem Beutezug der europäischen Mittelschicht zu. Dazu muss die merkelsche Agonie durch aktives Handeln ersetzt werden.
Die Überlegung hinter diesem „Move“ ist naheliegend:
Wer auf einer kaum noch messbaren Menge an Spekulationsgeld sitzt, der muss es irgendwann in reales Vermögen tauschen. Land- und Rohstoffraub in Afrika reicht dazu aber nicht mehr aus. Asien ist durch eigenständige Entwicklungen nicht mehr frei verfügbar. Dort stößt die westliche Militärmaschinerie an Grenzen. Also geht es in den kapitalistischen Kernstaaten USA und Europa ums Eingemachte.
Um Beispiele zu nennen: Es müssen wichtige Bereiche der Infrastruktur für eine reibungslose Privatisierung vorbereitet und die Bankensicherung europäisiert werden, um faule Kredite zu Lasten der Sparer wieder werthaltig zu machen.
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) arbeitet dran. Da er aber kaum über das notwendige Fachwissen verfügen wird, wurde mit Jörg Kukies [2] ein Staatssekretär ins Ministerium geholt aus dem Kreis der Global Player, genauer gesagt von Goldman Sachs.
Eine europäische Sozialversicherung wäre aus der Sicht der Wall Street sicher wünschenswert. Die wahrscheinlichste Schrittfolge lässt sich wie folgt skizzieren:
Einstieg ist die Europäisierung, dann die Privatisierung, dann die Anpassung der Renten auf einem niedrigen Durchschnittsniveau. Frei nach dem Motto: Wenn schon Altersarmut, dann aber richtig und sozialdemokratisch gerecht – also für alle.
Aus diesem Blickwinkel machen die bereits erfolgten Rentenanpassungen auch wieder Sinn. Letztendlich muss die nächste Krise der Geld- und Finanzmärkte vorbereitet werden. Oder glaubt noch jemand wirklich daran, dass die gigantischen spekulativen Kassen ohne substantielle Beteiligung der europäischen Mittelschichten einfach im finanziellen Niemandsland abgewickelt würden?!
Richtig ist vielmehr, dass nun Wirklichkeit wird, was bereits an der Wand stand: Der Finanzkapitalismus nimmt sich die europäischen Mittelschichten vor, denn nach dem aberwitzigen Landraub in Afrika [3] ist in Europa noch etwas zu holen: „Hört einfach auf die Signale.“
Jedenfalls gibt es eine Menge zu tun und für das Kapital kommt es auf das richtige Timing an:
Merkel bleibt als Kanzlerin noch für eine Übergangszeit erhalten. Um die oben skizzierten Maßnahmen einzuleiten, reicht sie noch aus. Dem allgemeinen Volkszorn, der sich Gehör verschaffen wird, wird mit einem Kanzlerinnen-Opfer begegnet. Zumal es dann keiner Angela Merkel mehr bedarf, die trotz Pannen und Abwarten zur mächtigsten Frau der Welt gekürt wurde.
Anschließend wird gehandelt wie bei einem Fußballklub. Der Vorturner wird gefeuert – und das in einer aufgewühlten Stimmung. Mit einer neuen Kandidatenkür ist die Öffentlichkeit dann leicht von den wirklichen Herausforderungen und Gefahren abzulenken. Es wird wieder etwas Demokratie inszeniert werden, flankiert mit dem nötigen medialen Rummel. Zusätzlich werden mit ziemlicher Sicherheit Gemeinschaftsaktionen und einige neue Initiativen für Europa aus dem Boden gestampft, und Kirchen sowie einige Nichtregierungsorganisationen starten Initiativen, um die dann bereits neu entstandene Armut gerecht zu verallgemeinern.
Vor allem wird auf dem Klavier des drohenden Rechtsradikalismus gespielt. Und sollten dessen Klänge wirkungslos bleiben, dann wird schnell die AfD in die parlamentarische Galeere geholt, um die nötige Bestürzung auszulösen.
Wenn dieser Schrecken hinreichend für Aufregung gesorgt hat, wird für die Öffentlichkeit eine Kandidatenoper aufgeführt – mit dem nötigen Drehbuch versteht sich.
Die CDU hat dann plötzlich und völlig unerwartet noch ganz viele Alternativen zu bieten. Wer ist der oder die Schönste im Land, wird vielleicht gefragt, oder über wen über Wochen in den Medien getalkt werden könnte. Kommt vielleicht wie in Frankreich ein weißer Ritter aus der politischen Retorte gesprungen oder „opfert“ sich ein Hochstapler mit Adelstitel für das Amt?
Und dann ist da ja noch Friedrich Merz [4]. Der bestens in der Wirtschaft vernetzte Mann von BlackRock, dem niemand den Umgang mit Geld aufwendig vermitteln muss, und der zudem sachliche Kompetenz verspricht, der steht urplötzlich wieder bereit für neue politische Ämter. Natürlich denkt keiner an die Parallelen zu Emmanuel Macron, dem inzwischen entzauberten französischen Wunderknaben und Ex-Investmentbanker.
Und damit kommen wir zu einem kleinen Problem der Spekulanten.
Die Parteien und vor allem die Administration sind inzwischen voll mit Parteisoldaten, die nicht nach Sachkriterien, sondern nach dem Spiel politischer Interessen ausgesucht wurden. Handlungsunfähigkeit ist deshalb kein besonderes Merkmal von Kanzlerinnen, Ministern und Parteispitzen. Inkompetenz gilt zunehmend für ganze Seilschaften in Politik und Administration.
Bisher kam es im politischen Showgeschäft nicht auf sachliche und administrative Kompetenz an. Das Volk konnte durch Tittytainment still gehalten werden. Mancher Spekulant soll dem Hörensagen nach überrascht gewesen sein, was man den Deutschen in Sachen Euro, Bankenrettung et cetera alles so zumuten konnte.
Aber inzwischen stellt der Finanzkapitalismus der Politik neue Aufgaben, die durch Abwarten und Nichthandeln nicht zu lösen sind. Offenkundig will das Finanzkapital daher ein neues Kapitel aufschlagen und braucht dafür eine Politik, die das Handeln nicht verlernt hat.
Zudem könnte erforderlich sein, auf breiten Unmut der Bevölkerung vorbereitet zu sein. Immerhin ist es ja möglich, dass sich die Europäer – und eben auch die Bevölkerung in Deutschland – irgendwann auf die berühmten Hinterbeine stellen. Für diesen Fall bedarf es der Handlungsfähigkeit einer Regierung, die „durchgreifen“ kann und für Ruhe sorgt, während das Kapital die Schätze des Gemeinwesens aus der Vitrine räumt. Ob dazu ein einzelnes neues Gesicht an der Spitze einer alten Partei ausreicht, sei dahingestellt.
Einiges deutet jedenfalls darauf hin, dass gravierende Änderungen bevorstehen. Ob es schon die Eröffnung des Endspiels um Macht und Ressourcen in Europa sein wird, bleibt abzuwarten.
Viel hängt davon ab, ob die Zivilgesellschaft weiter uneins und passiv bleibt. Noch scheint es möglich zu sein, dass „die Aufgewachten“ den Parteien ihr Vertrauen entziehen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das Recht dazu haben sie, denn sie sind der Souverän.
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Über den Autor: Heinz Kruse war im Bereich der Wirtschafts- und Strukturpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen sowie als Wirtschaftsdezernent der Landeshauptstadt Hannover tätig. Seit seiner Pensionierung arbeitet Heinz Kruse an Lösungen und Verfahren für eine Reform der Demokratie. Aus seiner Sicht müssen diese Reformen an der Frage der Verfassungshoheit ansetzen. Er war Vorsitzender des Vereins Verfassung vom Volk e. V. und ist Buchautor.
Quellen und Anmerkungen
[1] Mit dem Begriff Manchesterkapitalismus wird eine wirtschaftsgeschichtliche Periode in der Phase der industriellen Revolution in Großbritannien ab Mitte des 18. Jahrhunderts beschrieben. In dieser Phase kam es zu Missständen wie extrem langen Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden, Kinderarbeit, Schutzlosigkeit bei Arbeitsunfällen, Hungerlöhnen, Armut von Kranken, Schwachen, Alten und grundsätzlicher Ausbeutung vor allem der Industriearbeiter.
[2] Jörg Kukies ist ein deutscher Investmentbanker und Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Seit 2000 arbeitete er in London für Goldman Sachs, einem weltweit tätigen Investmentbanking- und Wertpapierhandelsunternehmen mit Sitz in New York City, und von 2004 bis 2011 in der Niederlassung Frankfurt am Main. Mehr Informationen unter anderem auf den Seite von CFA Society Germany und dem Bundesministerium der Finanzen (abgerufen am 05.11.2018).
[3] Seit der sogenannten globalen Finanzkrise von 2007 nahm das Landgrabbing dramatisch zu. Mit Landgrabbing sind großflächige Landkäufe von vor allem privaten, aber auch staatlichen Investoren und Agrarunternehmen gemeint, die Agrarflächen insbesondere in Ländern mit unsicheren Rechtsverhältnissen und schwachen Regierungen langfristig pachten oder aufkaufen, um sie in Eigenregie zur Herstellung von Agrarrohstoffen zu nutzen. Mehr Informationen auf https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/landgrabbing.html (abgerufen am 05.11.2018).
[4] Friedrich Merz ist Rechtsanwalt, ehemaliger Politiker und Manager. Er war von 2000 bis 2002 Vorsitzender CDU/CSU-Bundestagsfraktion und von 1998 bis 2000 sowie von 2002 bis 2004 stellvertretender Vorsitzender. Merz ist seit 2009 Vorsitzender des Netzwerks Atlantik-Brücke und seit 2016 als Aufsichtsratschef und Lobbyist für den deutschen Ableger der Fondsgesellschaft BlackRock, dem weltweit größten Vermögensverwalter, tätig.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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