Natascha

Zwischenwelten – von Sofia Lux.

Wenn sich der Tod in das Leben mischt, wird es stumm.

Jeder ist erstarrt, überwältigt von diesem Ereignis, das keiner, der hier und heute noch auf Erden wandelt, zu seinen Lebzeiten ganz begreifen kann.

Das jeden von uns an diese Grenze schubst, ohne uns zu fragen oder sich darum zu kümmern was es für uns bedeutet.

Man wird konfrontiert. Mit dem Tod. Und manchmal auch mit dem Sterben.

Natascha war 38 Jahre. Vor einer Woche noch floss Atem durch ihre Lungenflügel, öffneten sich die Augen im Krankenhausbett. Ihre zarten Beine waren dick und angeschwollen- Nebenwirkungen der Medikamente.

Sie ist gestorben. Letzten Dienstag. In einem Krankenhaus in Berlin.

Krebs.

Ich habe Natascha nie wirklich kennen gelernt. Nur Fetzen, Sätze über sie gehört. Einmal kurz am Telefon ihre Stimme vernommen, als ihr Freund mit einem Freund von mir eine Verabredung für einen gemeinsamen Bootsausflug planten- zu dem es nicht mehr kam.

„Sie sei krank“, habe ich gehört- zwischen Kaffee kochen und Brote schmieren. Sie hätte vor vier Jahren die Diagnose bekommen. Dann Chemo. Dann Hoffnung. Dann ihre Kraft voll Optimismus am Leben teilzunehmen. Sport zu treiben, sich um sich und ihren Körper zu kümmern, um „richtig“ zu leben und der Krankheit den Platz zu klauen, den diese sich nehmen wollte und schon längst genommen hat- ohne zu fragen. Ohne Rücksicht. Ohne Mitleid.

Die Zellen machen was sie machen. Und sie scheinen die Angst, das Erschüttern und innerliche Zerbrechen nicht zu hören. Oder sie ignorieren es. Weil es nicht wichtig für sie ist.

Es scheint die Seele getrennt vom Körper, der sich seinen Weg bahnt, ohne Unterbrechung, ohne Rast, ohne Liebe. Wie eine Maschine, teilen sich die Zellen, tauschen sie Stoffe aus, transportieren sie hin, lagern sie ab, scheiden sie aus, lassen sie durch, halten sie fest, fressen sie auf…

Ich habe öfter an Natascha denken müssen, denken wollen oder: an sie gedacht.

Ich hatte das Gefühl sie fühlen zu können, seitdem ich das erste mal von ihr erzählt bekam.

Ich habe keine Nachfragen gestellt zu ihrem Befinden. Es interessierte mich nicht, die wievielte Chemo sie hinter sich hatte, wie groß der Tumor war, ob sie Haare verloren oder ob der Krebs „gestreut“ hat.

All dies erschien mir irrelevant. Machte mich fast wütend, wenn diese „Fakten“ aus dem Labor an mein Ohr getragen wurden.

Lasst mich damit in Ruhe, habe ich gedacht. Aber vor allem: lasst sie damit in Ruhe. Lasst sie in Frieden, mit diesen absurden Daten.

Die Angst-Apparate-Medizin. Die schwarz und weiß kennt. Hop oder Top. Die NICHTS verstanden hat. Die Menschen sterben lässt in Krankenhäusern, wo die Putzkolonne anklopft während in Zimmer 501 ein Mensch diese Welt verlässt und ein anderer Abschied nimmt. Von etwas, dass vor ihm zerrinnt, das wegfließt, das er nicht halten kann…

Nichts als Verachtung bleibt übrig. Für dieses System der Unwahrheit. Der Kälte. Der Kittel in weiß. Der blauen Wände und der piependen Apparate.

Es ist mir egal, wie das Für und Wider „vernünftig“ oder „fair“ oder „politisch korrekt“ abgewogen wird.

Was bleibt ist die Kälte dieser Gemäuer. Vor der auch die Menschen im Innern des Hauses nicht fliehen können. Die sie mit einschließt in dieses System von Preis und Leistung. Von Effektivität und Medikamentenwahnsinn. Von Nebenwirkungen, die Tod und Krebs heißen, obwohl sie vorgeben Tod und Krebs zu verhindern.

Eine Irrenanstalt.

Es tut mir weh, Dich da zu sehen, Natascha.

Für mich bist Du eine Märtyrerin.
So wie jeder Mensch, der auf diese Weise sterben musste.
Warum?
Weil Du in diesem Kosmos von Missklang und Angst und Entfremdung, einfach nach Hause gegangen bist.

An den Ort, der frei von all dem ist.

An den Ort, der jedem von uns heimlich vertraut und unbekannt zugleich ist.

Du bist voraus gegangen. Und Du weißt: wir alle werden Dir nachfolgen.

Jeder zu seiner Zeit. Jeder auf seinem Weg.

Au revoir, Natascha.

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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