Die inflationäre Verwendung des Nazi-Begriffs entkernt und zweckentfremdet diesen — mittlerweile ist er zu einer Worthülse verkommen.
Ein Standpunkt von Roberto J. De Lapuente
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Da kam mir neulich bei Twitter mein dummer Gerechtigkeitssinn, meine demokratische Romantik in die Quere. Wie man nämlich mit Ken Jebsen umgeht, wie man ihn mundtot macht, ihm wichtige Säulen publizistischer Freiheiten vor der Nase wegblockiert, ihm somit Berufsverbot erteilt, wie man ihn vom Staatsschutz überwachen lässt und zu schlechter Letzt nun auch noch seine Plattform hackt: Richtig kann ich das alles einfach nicht finden. Und das ganz unabhängig davon, was man grundsätzlich über sein Wirken denkt.
In etwas verknappter Form habe ich das an einem Sonntag vor zwei Wochen bei Twitter gezwitschert. Danach erlebte ich meinen Shitstorm. Dass ein solches Vorgehen gegen Jebsen richtig und wichtig sei, glaubten fast alle, die meine Empörung nicht nachvollziehen konnten.
Fast alle dieser Leute ordneten mich als Rechten ein, mindestens als rechtsoffen. Was anderes könne man von Nazis nicht erwarten, las man da. Mir war nicht bewusst, dass Nazis einem fairen, rechtsstaatlichen, einem liberalen Impuls folgten, so wie es die Absicht meiner Kritik am Umgang mit Ken Jebsen war.
Sind wir dann aber nicht alle ein bisschen Nazi?
Was soll das eigentlich sein, ein Nazi?
Nach der Interpretation dieser „Kritiker“ müssen Nazis demnach Leute gewesen sein, die den laxen Missbrauch demokratischer Grundwerte angeprangert haben. Wenn das so gewesen sein soll — und ich gebe zu Protokoll, dass ich nicht glaube, dass sich die historischen Nazis so verhielten —, dann klar, dann bin ich ein solcher. Ganz sicher sogar.
Diese Gesellschaft scheint ganz offenbar den Bezug zu diesem Wort verloren zu haben.
Natürlich wurde es vorher schon ziemlich oft falsch verwendet. Wenn man zum Beispiel den verbiesterten alten Kerl von gegenüber als Nazi bezeichnete, weil er ständig auf Türken schimpfte, dann konnte das jeder nachvollziehen. Sachlich falsch war es trotzdem, denn der Mann war zwar ausländerfeindlich, rassistisch vielleicht sogar, ein Reaktionär unter Umständen — und ganz sicher ein Arschloch. Aber ein Nazi war er nicht. Das Wort hat ja eine historische Dimension. Im Laufe der Zeit wurde es dann auch auf Leute gemünzt, die „irgendwie rechts“ waren.
Übernommen hat man die Praxis aus der US-amerikanischen Umgangssprache. Ein lauter, befehlerischer Mensch wurde da schon ziemlich früh als Nazi verlacht. Anspruch auf Korrektheit hatte dieser flapsige Jargon freilich nicht. In den Neunzigerjahren strahlte auch das deutsche Fernsehen jene Folge der Sitcom „Seinfeld“ aus, die da hieß: „Der Suppen-Nazi“. Der mexikanisch anmutende Koch einer Suppenküche, der recht schroff mit seiner Kundschaft umsprang, war sicher kein netter Zeitgenosse. Aber den Holocaust oder eugenische Programme hätte er vermutlich dennoch nicht gutgeheißen.
Heute gehört schon weitaus weniger dazu, um sich so eine Insultierung einzuhandeln. Dazu muss man noch nicht mal einen rüden Ton an den Tag legen.
Und wenn man heute als Nazi tituliert wird, ist das auch nicht mehr so sinnbildlich oder symbolisch gemeint wie bei jenem Suppen-Nazi. Das ist wirklich so gemeint. Ganz konkret. Als sei man offizieller Nachfolger des Dritten Reiches, die rote Linie, die direkt nach 1945 zurückführt.
Wer Partei ergreift für jemanden wie Jebsen, wer seinen Keks „Afrika“ nennt, wie die Firma Bahlsen oder wer nicht richtig gendert, der fordert es heraus, nazifiziert zu werden.
Geschichtsvergessener Anti-Antifaschismus
Die Nazi-Rufer wähnen sich in solchen Momenten besonders antifaschistisch, denn sie glauben die Missstände zu benennen, weil sie emsig mit dem Finger auf all das zeigen, was sie als schlecht in dieser Welt wahrnehmen.
Dass sie damit relativ locker mit dem eigentlichen Erbe jener Jahre umgehen, es lächerlich machen, kleinreden, ja infantilisieren: Das bemerken diese Anti-Antifaschisten gar nicht erst.
Wenn also jemand, der darauf besteht, dass ein Keks weiterhin „Afrika“ heißen soll, genauso ein Nazi sein soll wie jener Typ von früher, der menschliche Zuchtwahl für richtig, Völkermord für legitim und Krieg als berechtigtes Mittel im darwinistischen Kampf der Völker hielt, dann ist da was in der Wahrnehmung verrückt. Denn kaum einer von denen, die heute mit dem Vorwurf konfrontiert werden, ein Nazi zu sein, pflegt ja jene Werte, die der historische Nazi verinnerlicht hatte.
Antrieb der Nazi-Rufer ist ja letztlich, die rote Linie von einst in den Phänomenen von heute zu erkennen. Es soll hervorgehoben werden, wo es Kontinuitäten gibt, wo sich Reminiszenzen durchgeboxt haben, wo das nazistische Erbe noch durchstrahlt. Aber die ganz großen Menschheitsverbrechen sind zum Glück verschwunden, man muss also die Deutung in Marginalien verlegen und verhaspelt sich gnadenlos.
Diese Beseelung führt außerdem dazu, dass man leicht paranoid werden kann, denn plötzlich sieht man überall Braunhemden da, wo nicht explizit jene Werte walten, die man selbst als die richtigen eingestuft hat. Das führt folgerichtig dazu: Wenn am Ende alle Nazis sind, ist niemand mehr Nazi.
Das einstige Wort, das jemanden nicht nur einordnen, sondern auch beleidigen und stigmatisieren sollte, verliert seine Wortgewalt. Es schrumpft zu einem lausigen Attribut, das man hinnimmt, über das man sich am Ende gar lustig macht.
Nazi-Pride: Ungewollt zur neuen Wortbedeutung
So geht es mir mittlerweile. In den letzten Monaten habe ich diese Titulierung oft erfahren. Mal weil ich Jebsen gegen den Staatsschutz oder das Hacken seiner Website verteidigte. Mal weil ich etwas gegen eine Wokeness ins Feld führte, die am Ende kein harmonisches Miteinander anstrebt, sondern die Spaltung der Gesellschaft provoziert. Irgendwann ärgerte ich mich gar nicht mehr über das Wort. Es wurde so inflationär gebraucht, dass man sich daran gewöhnt hat. Ich bin kein Nazi, so viel Hass kann ich gar nicht aufbringen. Aber mittlerweile denke ich mir, wenn ich an einem Tag mal auskommen muss, ohne mit diesem Wort belegt zu werden, dass ich nichts von Gehalt gepostet oder publiziert habe und bin deswegen fast enttäuscht.
Wie mir scheint es vielen zu gehen, die gerne mal mit Nazis verwechselt werden. Auch sie zucken nur noch mit den Achseln, erwidern nichts Entkräftendes darauf. Was soll man auch vorbringen? Wer den Vorwurf zu intensiv bekämpft, macht sich in den Augen der Nazi-Verleumder ja eher noch verdächtiger. Man stumpft ab, nimmt es an, etwas Ehrabschneidendes spürt man darin nicht mehr:
Wenn am Ende nicht die Inhalte zählen, für die man eintritt, dann ist es eh egal, wie man mit so einer Titulierung umgeht.
Einige Kollegen, Blogger und Publizisten wie ich, die man eher als progressive Zeitgenossen einordnen müsste, kokettieren mittlerweile sogar offen damit. „Als Nazi darf ich das“, sagen sie dann spöttisch. Die anderen nehmen den Flachs auf, geben dem Affen Zucker. Kaum einer steht noch da und mahnt zur Vorsicht, die deutsche Geschichte und so. Wie soll man da gravitätisch bleiben wollen? Das Wort hat sich verselbständigt, es hat doch gar keinen Bezug mehr zu dem, was vor 1945 geschehen ist.
Wir reden viel vom Erbe jener Jahre in dieser Gesellschaft, speziell von der Verantwortung, die jeder Mensch in diesen Breitengraden innehat. Die Beleidiger, die überall den Nazi wittern, haben einen etwaigen Verantwortungssinn lange aufgegeben. Und wir, die wir als fälschliche Nazi durch den Alltag gehen müssen, auch irgendwie — denn wir spötteln nur noch darüber. Die wachsame Erinnerungskultur scheint in Auflösung begriffen. Ob das nun gut oder schlecht sein soll, könnte ich jetzt zwar kurz begründen, aber damit lege ich es ja quasi an, gleich wieder in die rechte Ecke gestellt zu werden.
Dafür habe ich heute keine Zeit …
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. 2012 wurde er Kolumnist beim Neuen Deutschland und seit 2018 schreibt er regelmäßig für Makroskop. De Lapuente hat eine Tochter und wohnt mit seiner Lebensgefährtin in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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Danke an den Autoren für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Dieser Artikel erschien zuerst am 23. Juni 2021 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.
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