Kommentar von Susan Bonath.
Wie klebrige Melasse wabert der deutsche Wahlkampf über die Mattscheiben und durchs Internet. Kanzlerin Merkel liegt noch immer im Wachkoma. Mit steifem Dauerlächeln propagiert sie wie in all den Jahren zuvor ihr »Abwarten und Tee trinken« mit einem anstandslosen »Weiter so«. Ihr »Deutschland geht es gut«-Gemerkel sickert wie ein inhaltsleeres Glaubensbekenntnis aus ihrem Kostüm. Herausforderer Schulz jammert zunächst etwas wirr vor sich hin, um sich kurz darauf mit ihrer Raute symbolisch zu vereinigen. Man fragt sich: Hat er die Fragen überhaupt verstanden? Und ahnt: Die haben die nächsten vier Jahre Groko inklusive Posten und Pinkepinke vermutlich längst verhandelt.
Arbeitsplätze um jeden Preis
Mit einem Satz werden sich die Apostel der Einheitsregierung des europäischen Exportmeisters denn einig: Deutschland müsse in zehn Jahren noch so viele Arbeitsplätze haben wie heute. Die Hermes-Packerin, die ich gestern traf, hört sich so was nicht mehr an. Sie ist froh, wenn sie mit Wochenendschichten auf einen Tausender netto im Monat kommt, um sich und ihre beiden Kinder durchzubringen. »Die ham doch eh keene Ahnung«, winkt sie ab. Die Alleinerziehende steht für Millionen Leiharbeiter, Minijobber, Teilzeitkassiererinnen, Hartz-IV-Aufstocker.
Doch Merkel und Schulz lächeln, während sie einstimmig den »heiligen Arbeitsmarkt« anbeten. Wie Kleinkinder, denen jemand die Sandkastenschaufel wegnehmen will, klammern sie am Lohnarbeitsmodell des 19. Jahrhunderts. Dass eine dank Technologie wachsende Produktivkraft selbiges längst überholt hat, scheint ihnen noch gar niemand erzählt zu haben. Wann klärt sie endlich jemand darüber auf, dass der Planet eine begrenzte Kugel und Dauerwachstum auf selbiger unmöglich ist?
Doch die Einsicht sucht man auch bei den anderen Spitzenkandidaten vergeblich. Die »Jesus gehört zu Deutschland«-Fraktion in Gestalt des bieder-bayrischen Christensekten-Führers Herrmann und des gestrengen Braun-Blondchens »Alice aus dem deutschen Reich«, das penetrant von absoluter Marktfreiheit säuselnde ewige Gel-Bübchen Lindner, der Beliebigkeits-Grüne Özdemir und die kühle, in stoischer Eintönigkeit widersprechende SPD – Verzeihung: Linke-Ikone Wagenknecht – liefern das Paradestück.
Verwertbar oder unnütz
Was hängen bleibt: Die erstgenannten drei Kandidaten waren sich vielfach so einig, wie es zu erwarten war. Ob Bildung, sozialer Wohnungsbau oder Flüchtlingspolitik – es zählt der wirtschaftliche Nutzen jener, die das Pech haben, kein verwertbares Kapital zu besitzen, außer ihrer Arbeitskraft. Wer den Check an der Rampe nicht besteht, soll ich verpissen, egal, ob in den Krieg, ins wirtschaftliche Elend oder unter deutsche Brücken.
Über die altbekannten Plattitüden, wie Herrmanns »Wir wollen das so lassen«, Alice Weidels »Aber wir müssen das dem Gleichgewicht des Marktes überlassen« und Lindners »Der Wettbewerb muss noch verstärkt werden« kamen die beiden anderen nur wenig hinaus. Nun wissen zwar alle, dass Özdemir aus eir türkischen Arbeiterfamilie stammt und darum weiß, dass kaum jemand auf dem Bau oder in der Altenpflege bis 67 oder länger arbeiten kann. Doch welche das Denkmodell der Produktionsweise von anno dazumal nicht erschütternden Pflaster er nun genau kleben wolle, wurde auch nicht wirklich klar.
Sahras Wunschreförmchen
Selbst bei der kühlen Lady Sahra Wagenknecht beginnt man sich zu fragen: Worauf stehen ihre Fans denn wirklich? Definitiv war sie früher einmal kampfeslustiger. Das Kostüm war glatt gebügelt, und ja, wir wissen es doch, Sahra: Millionen Rentner werden um ihre Lebensleistung betrogen, wenn sie im Alter zum Sozialamt müssen. Die Bildung ist unterfinanziert, alles wird privatisiert, der von Arbeitern erarbeitete Reichtum verschwindet bei den Vermögenden. Das kotzt uns auch an. Und jetzt?
Wagenknecht will Vermögenssteuer. Und dass alle einzahlen in die Rentenkasse. Das wäre wenigstens ein Reförmchen. Aber glaubst du wirklich, liebe Sahra, dass du lange Kanzlerin wärst, würdest du als solche versuchen, die wirklich reichen Abzocker zur Kasse zu bitten? Warum schweigst du dazu? Warum sagst du den Leuten nicht, weshalb in Thüringen dein Genosse Ramelow mit Kriegskonzernausrüstern am Buffet diniert? Warum die Linke in Landesregierungen nichts gegen Hartz-IV-Sanktionen, Zwangsräumungen und löchrige Mietpreisbremsen tut? Ja, warum setzt sie ihr Programm nicht um, weder in Berlin, Brandenburg und Thüringen, noch in Griechenland?
Vielleicht hat Frau Wagenknecht einfach Angst. Denn die andere Alternative wäre es, die kleinen Leute zu organisieren. Doch auch in Sahras Reihen sitzt das deutsche Bildungsbürgertum am Ruder. Manchmal bekommt man sogar den Eindruck, selbiges blicke mit dem Auge des wohltätigen Kümmerers verächtlich auf die Abgehängten herab. Als seien diese irgendwie zu doof zum Selbertun. Es gab Zeiten, da war die SPD noch revolutionärer, als es die Linkspartei je war.
Zwischen tiefschwarz und braun-blond
Doch blicken wir wieder nach rechts. Das gestrenge Blondchen Alice will sich einfach nicht von »Halbnazis in ihrer Partei« (Wagenknecht) distanzieren. Der rhetorisch begabten Sahra erzählte Weidel noch, in ihrer Partei, der AfD, säßen schließlich 28.000 Mitglieder »Die ticken doch nicht alle gleich!« Ja, es gibt viele feine Nuancen zwischen tiefschwarz und tiefbraun.
Als tags darauf CSU-Generalsekretär Scheuer die Alice aufforderte, sich von AfD-Funktionären, wie die »alles gar nicht so gemeint-Opfer« Gauland und Höcke, zu distanzieren, verlor sie allerdings die Fassung. Wohl innerlich wutschnaubend verließ sie den ZDF-Talk »Wie geht’s Deutschland?«. Ist sie vor ihrer eigenen Courage geflüchtet, dem Islam, den Zuschauern? Oder doch nicht etwa vor ihrem Bruder im Geiste?
Denn Scheuer und sein Bayern-Trachtenverein sind ideologisch gar nicht weit entfernt von Alice´s Partei. Die bayrische Schutzhaft für just verdächtig Aussehende mit Fluchthintergrund könnte auch von der AfD kommen. Auch ein gehässiges verbales Herabschauen auf alle Opfer dieses Wirtschaftssystems haben beide drauf. Vor einem Jahr deklarierte Scheuers Team Erwerbslose und Aufstocker gemeinhin zu »Hartz-IV-Schmarotzern« – in einem öffentlichen Vorwahlkampf-Video. »Asylschmarotzer«, »Hartz-IV-Schmarotzer« – einerlei: Die Verachtung der Outgesourcten steht beiden gleichermaßen auf der Zunge geschrieben.
Anstalt ohne Ausgang?
Es geht ums Löcherstopfen. Um die nächste Infusion. Um eine abstruse Verwertungsideologie menschlicher Arbeitskraft und Psyche. Stumpfsinnige, moralinsaure Parolen zwischen »Hilfe die kriminellen Ausländer kommen« und einem Lendenkrampf auslösenden »Lust auf… « lassen einen hilflos nach der Ausgangstür der Anstalt suchen. Grinsende Gesichter auf den Plakaten erinnern an korrupte Aliens (mit Verlaub). Gibt´s echt keinen Psychiater, der sie behandeln will? Pech gehabt: Die Anstalt ist rund, schwebt mit all ihren Insassen im Weltall und hat keine Ausgangstüren.
Der Michel soll wählen: Zwischen Aufrüsten, Krieg und Abschotten, Aufrüsten, Krieg und totaler Freiheit für den Markt, auf dem er sich verdingen muss sowie dem von der Gesellschaft williger Statusakrobaten und Selbstvermarkter vielfach belächelten Versprechen, den Kapitalismus ein Quäntchen sozialer zu gestalten.
Letzteres kann kurz umrissen werden: Rente mit 70 unter Sozialhilfeniveau oder Rente mit 69 unter Sozialhilfeniveau. Viel mehr dürfte für die meisten unter keinen Umständen herausspringen. Die Ifologen vom Münchner Institut für organisierte Vollverblödung beschwören es seit Monaten: Höhere Renten? Mehr Soziales? Bessere Bildung? Alles Bullshit. Das könnte schließlich den zartbesaiteten Markt empören.
Es klingt wie Lindners abgrissenes Gebetsgebrüll nach liberaler Freiheit für die Bonzen oder Schulz´s »Arbeitsplätze um jeden Preis erhalten«-Rhetorik. Man will es nicht mehr lesen, nicht mehr sehen, nicht mehr ertragen. Man möchte meinen, der Verstand steckt in der Endlos-Warteschleife fest.Kurzum: Wir sollen die neuen politischen Verwalter eines Staates wählen, der schon anno dazumal aus dem Anus der Kapitalbesitzer gekrochen kam, um ihren Markt effektiv zu managen.
Bei allem: Eins sollte man auf keinen Fall vergessen: Es waren Konservative, verbale Freiheitsapostel und Sozialdemokraten, die vor gut 84 Jahren dem deutschen Faschismus die Pforte öffneten, der nicht zuletzt den Quandts und Co. zu ihrem heutigen obszönen Reichtum verhalf und – wie, das wissen wir – dem krisengeschüttelten System zu neuem Leben verhalf. Stimmzettel in der Urne haben schon damals nicht davor geschützt. Bei effektivem Widerstand von unten wäre es womöglich anders ausgegangen. Die Tür aus der Anstalt ist in uns selbst.
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