Sakralisierung der EU – nein Danke!

Von Peter Wahl.

Die EU-Verträge sehen die Schaffung „einer immer engeren Union der Völker Europas“ vor. Das Endziel der „europäischen Idee“ soll in eine politischen Union, münden, im Idealfall so was wie die Vereinigten Staaten von Europa.

Spätestens die Art und Weise, wie EU-Kommission, Europäische Zentralbank und Schäuble im vergangenen Jahr mit Griechenland umgesprungen sind, haben jedoch auch bei vielen linken EU-Fans Zweifel aufkommen lassen, ob das wirklich so eine gute Idee ist.

Dabei ist der Mainstream der Linken eigentlich traditionell das, was man gemeinhin als „pro-europäisch“ bezeichnet. Bei aller Kritik an einzelnen Politiken, wie z.B. dem transatlantischen Handelsabkommen TTIP, glauben viele immer noch, die „europäische Idee“ sei im Kern progressiv. Sie halten die EU für internationalistisch und für ein Friedensprojekt, das den Nationalismus überwinden könne, vorneweg dessen besonders gefährlich deutsche Variante. Daher die Parole: Mehr Europa, aber anders! An die Stelle des knallhart neo-liberalen Kurses soll das Soziale Europa treten, demokratisch und friedlich. Klingt super, aber funktioniert es auch?

Die Verträge stellen neoliberalen Kurs auf Autopilot
Das Fundament der EU ist der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb.“ Selbst von einer sozialen Marktwirtschaft ist da nicht mehr die Rede. Versuche von Mitgliedsstaaten, die Märkte stärker zu regulieren, verstoßen unter diesen Rahmenbedingungen daher schnell gegen die Verträge. Unzählige Ausführungsbestimmungen sind verbindliches hard law, das ggf. von einschlägigen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs durchgesetzt wird. Im „Stabilitätspakt“ wird die neoliberale Haushaltspolitik, in den Statuten der EZB die Geldpolitik, der Umgang mit Inflation, Währungs- und Wechselkurspolitik vorgeschrieben. Die Meinung des Souveräns der Demokratie, nämlich der Wähler, kommt dabei nicht vor. In den letzten 25 Jahren bescherte uns dieses autoritäre Governance-System die Entfesselung der Finanzmärkte, Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Standortwettbewerb und den Abbau des Sozialstaates. Da muss die Austeritätspolitik nicht mal ausdrücklich festgeschrieben werden – sie ergibt sich mit der Brachialgewalt eines Sachzwanges wie von selbst. Das TINA-Prinzip – There Is No Alternative – wird per Autopilot auf Dauer gestellt. Die EU hat sich strukturelle Immunität gegen jede progressive Gesellschaftspolitik verschafft. In den Sozialwissenschaften spricht man vom neoliberalen Konstitutionalismus.

Aber kann man die Verträge nicht ändern? Ja – aber nur einstimmig. Das Soziale Europa wird möglich, wenn sich in allen 28 Mitgliedsländern synchron progressive Regierungsmehrheiten ergeben könnten – also nie! Daher werden emanzipatorische Veränderungen nur möglich durch einen Bruch mit den Verträgen.

Von wegen Überwindung des Nationalismus!
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es sicher ein Fortschritt, die alten Nationalismen durch Europäisierung überwinden zu wollen. Heute, im Zeitalter der Globalisierung ist jedoch der Versuch, einen neuen Großstaat aus dem Boden zu stampfen, völlig aus der Zeit gefallen. Er bedeutet neue Ausschließungen für jene, die nicht dazu gehören (dürfen) und erzeugt Bruchlinien, vor allem gegenüber angrenzenden Regionen. Die Vertiefung der Integration hat wohlstandschauvinistische Züge angenommen. Die Festung Europa lässt grüßen. Zugleich würde eine Art Euro-Patriotismus entstehen, der an die Stelle des klassischen Nationalismus’ träte, ohne sich von diesem in seiner Funktion zu unterscheiden, die Schopenhauer schon trefflich so charakterisiert hat: „Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn.“

Was wir im Zeitalter der Globalisierung und angesichts globaler Problemlagen wie dem Klimawandel dagegen brauchen, ist ein planetarisches Bewusstsein, wirklichen Internationalismus. Dessen Programm hieß ja auch schon in seinen Ursprüngen keineswegs: „Proletarier der Eurozone vereinigt Euch.“

Friedensprojekt?
Nach dem Krieg war mit der ersten Stufe des Integrationsprozesses, der Montanunion die Einsicht verbunden, dass man durch wirtschaftliche Verflechtung eine materielle Basis für Frieden schafft. Wenn ich beim Nachbar Investiert habe und Geld damit verdiene, schießt man nicht so schnell. Allerdings war das von Anfang dadurch kontaminiert, dass die wirtschaftliche Integration zugleich Teil der Blockbildung im Kalten Krieg war. Die Schöne Idee wurde geopolitischen Interessen untergeordnet. Heute drängen große Teile der Funktionseliten darauf, die EU auch außenpolitisch und militärisch zur Supermacht zu machen. Vor dem Hintergrund der Transformation des internationalen Systems hin zur Multipolarität würde die EU gern in der selben Liga wie die USA und China spielen. Statt Demokratisierung des internationalen Systems anzustreben, wollen sie zur Weltmacht aufsteigen. Auch wenn das gegenwärtig aufgrund der Krisen aussichtslos ist, besitzt es als Ziel eine gefährliche Attraktivität – übrigens bis in linke Milieus hinein.

Tartarenmeldung: linke Eurokritik führt ins 19. Jahrhundert
Obwohl die Mainstream-Linke seit einer Generation vergeblich das soziale, demokratische und friedliche Europa beschwört, halten viele noch immer daran fest. Dabei bedeuten die multiplen Krisen, in denen sich die EU befindet, dass sich neue strategische Optionen und Chancen öffnen. Begründet wird das Festhalten am Gewohnten mit dem Argument, die Alternative sei nur die Rückkehr in die Ära der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts.

Dabei wäre das völlig illusionär, selbst wenn man es wollte. Die Dichte und Tiefe der ökonomischen, rechtlichen, kommunikativen und kulturellen Verflechtungen ist zum größten Teil irreversibel. Zur EU-spezifischen Integration kommt die Globalisierung hinzu, die erstere überlagert und überformt. Besonders deutlich ist dies im Kernbereich der Globalisierung, dem Finanzkapitalismus. Der agiert schon längst über die europäischen Kirchtürme hinaus. Ähnliches gilt für Kommunikation und kulturelle Diffusionsprozesse. Selbst wenn die EU morgen zerfiele, würde dadurch nicht die prä-globalisierte Welt der Nationalstaaten wiederauferstehen.

Flexibilisierung nach innen – Öffnung nach außen
Man muss sich dieser binären Logik – entweder Vertiefung der Integration oder Regression – entziehen. Gegenüber dieser Scheinalternative sollte die Linke sich einen anderen Weg gehen, nämlich: a. Flexibilisierung der EU nach innen,
 b. Öffnung nach außen, c. Variable Geometrie der Zusammenarbeit.

Flexibilisierung nach innen heißt: selektiver Rückbau der Integration, z.B. in der Währungsfrage und selektive Vertiefung in anderen Fragen, z.B. nachhaltige Energiepolitik. Sie bedeutet auch Stärkung von Dezentralisierung, Regionalisierung, Subsidiarität und Pluralität von ökonomischen Modellen.

Öffnung nach außen heißt: Ersetzung der geopolitisch motivierten und neo-imperialistischer Assoziierungsabkommen (Ukraine!) durch Partnerschaft auf Augenhöhe.

All dies könnte in wechselnden Koalitionen von Willigen, in einer variablen Geometrie stattfinden. Wer Austeritätspolitik ablehnt, soll nicht dazu gezwungen werden. Wer Sanktionen gegen Russland nicht gut findet, muss nicht mitmachen. Das Verfahren der sog. Vertieften Zusammenarbeit (Enhanced Cooperation Procedure), in dessen Rahmen die Finanztransaktionssteuer derzeit verhandelt wird, sieht solche Möglichkeiten schon jetzt vor, allerdings unter zu restriktiven Auflagen.

Wenn Du merkst, Du reitest ein totes Pferd, steig ab!
Freilich muss man sich dafür von der fixen Idee der immer tieferen Integration verabschieden. Die Gelegenheit ist günstig. Dazu muss die Mainstream-Linke sich von ihrer europapolitische Selbstfesselung lösen und die Sakralisierung der EU aufgeben. Oder wie sagten schon die alten Dakota-indianer: Wenn Du merkst, Du reitest ein totes Pferd, steig ab!

__________
Peter Wahl ist ein Globalisierungskritiker, Publizist und Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED). Er war als Gründungsmitglied von Attac Deutschland prägend für den Aufbau des Netzwerks. Als Mitglied des Koordinierungskreises von 2001 bis 2007 repräsentierte er Attac in den Medien und war beteiligt an diversen Basistexten. Außerdem war er einige Jahre Mitglied des geschäftsführenden Vorstands von WEED.

 

Danke an den Autor für das Recht der Zweitverwertung.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.


Auch interessant...

Kommentare (3)

Hinterlassen Sie eine Antwort