Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Den Begriff „Jetzigkeit“ habe ich von einer bulgarischen Freundin, die sich mit der deutschen Sprache noch schwertat. Das aus der Not geborene Wort erinnert viel intensiver als die hölzerne Bezeichnung „Gegenwart“ daran, dass das Leben ausschließlich im JETZT stattfindet. Nur so gewinnen wir die Kontrolle über Gedanken zurück, welche uns in Scheinwelten zerren. In ihnen schenken wir dem Vergangenen (nicht mehr existent) und dem Zukünftigen (noch nicht existent) mehr Aufmerksamkeit als der „Jetzigkeit“. Ein fataler Fehler, mit dem wir Trugbilder von uns selbst erschaffen. Auf diese Weise setzen wir uns als Medium außer Kraft, das in Grenzbereiche führt, wo der Verstand ohnmächtig zu Boden sinkt. Die Gedankenspeise, die dem mahlenden Gehirn unentwegt gereicht wird, diese süßsaure Suppe aus Vergangenheit und Zukunft zerstört das filigrane Gewebe, das uns in schwingender Verbindung mit Allem und Jedem hält.
Bevor ich der schönen Bulgarin begegnete, kam mir mein Leben wie eine letzte Sünde vor, die ich mir gestattete. Aber dann kreuzte besagte Dame meinen Weg. Wir blieben drei Monate zusammen. Drei Monate, in denen ich nach und nach zerbröselte, bis nichts mehr von mir übrigblieb. Sie war zu gewaltig für mich, zu berauschend. Nicht nur, dass sie grandios Klavier spielte, sie malte auch das Blaue vom Himmel und vermochte einem Klumpen Lehm Gestalten von solcher Grazie zu entlocken, dass ich mich ihr nicht gewachsen fühlte. Das wäre heute vielleicht anders – vielleicht …
Jean Giraudoux erzählt in seinem Roman »Eglantine« von einem Mann, der in einem Pariser Straßencafé durch den grazilen Gang einer Frau aus der Lethargie gerissen wird. Wie elektrisiert folgt er der Fremden durch die Stadt. Achtet peinlich genau darauf, ihr auf der Schleppfahrt nicht zu nahe zu kommen. Er befürchtet, dass sich die Person auflöst, sobald sie den Verfolger bemerkt. So bleibt er in achtbarer Entfernung, reagiert auf jede Pause und Tempoverschärfung. Begnügt sich damit, sie aus der Distanz zu bewundern. Auf seinem merkwürdigen Spaziergang treten andere Männer in Konkurrenz, vielen bereitet es Vergnügen, neben der Frau herzugehen, mit ihr ein Paar zu bilden. Doch die Annäherungsversuche scheitern kläglich. Eglantines langsamer Schritt ermüdet die Bewerber mehr als ein Wettlauf, sie fallen von ihr ab. Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich das Buch las. Kein Mädchen hat einen Fünfzehnjährigen auf der Rechnung. Also gewöhnte ich mich schon mal an sie, indem ich ihnen mit gebührendem Abstand durch die Straßen folgte…
Zurück zu dem entzückenden Wesen, das die Jetzigkeit erfand. Sie ist mehr als ein flüchtiger Abdruck auf der Netzhaut der Erinnerung, ihr Bildnis hat Bestand. An ihrer Seite wich die Banalität des Alltags einem kindlichen Erstaunen und alle Ironie, die ich einst bemüht hatte, um der kollektiven Dummheit zu begegnen, verursachte plötzlich nur noch Schuldgefühle. Der Sarkast, der sich zuvor bequem die Welt gedeutet hatte, war auf fantastische Weise entwaffnet worden.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Djuna Barnes (1892-1982) hat ein Buch geschrieben, dessen Titel ich mir immer in Erinnerung rufe, wenn uns die Psychopathen im Vorstand der WELT AG über ihre Medien wieder einmal eine Überdosis Angst injizieren. Das Buch heißt: „Solange es Frauen gibt, wie sollte da etwas vor die Hunde gehen?“ Ich bin geneigt, der Aussage Glauben zu schenken. Jetzt braucht es im Schatten dieses Postulats nur noch ein Herz, das weiß, wo der Seelenfrieden zu finden ist.
Erwachte Frauen wissen das. Die US-amerikanische Autorin und Heilerin Sophie Bashford warnt allerdings davor, sich diesen Wesen blind zu überantworten. „Es ist ein gewaltiges Risiko eine erwachte Frau zu lieben“ mahnt sie in ihrem großartigen Essay „Wenn du dich entscheidest, eine erwachte Frau zu lieben“[1]. Und sie fährt fort:
„Es gibt plötzlich keinen Ort mehr, an dem du dich verstecken kannst. Sie sieht alles und damit kann sie dich mit einer Tiefe und Präsenz lieben, nach der sich dein Herz und Körper so lange gesehnt haben. Warst du wirklich am Leben all die Zeit, in der sie nicht da war“?
Nein, war ich nicht.
Nun darf die Nähe zu einer solchen Person nicht in Abhängigkeit führen. Max Frisch hat es in „Die Schwierigen“ auf den Punkt gebracht:
„Was hilft uns der Rausch? Er hat keine Flügel, er trägt nicht in Gottes kühler Geräumigkeit. Es tut nichts, ob einer schwärmt, ob einer stehen bleibt wie ein störrischer Esel und ohne ein Wort nicht weiterwill. Es trägt nicht, so wenig wie der Schrei der Verzweiflung, wie das Grinsen des Spötters. Man tritt in den Dienst von Leben und Tod; gemeint ist ein Leben, das über uns ist, das auch in Herbsten nicht trauert, ein außerpersönliches.“
Ein außenpersönliches Leben in der Jetzigkeit. Wohlan …
Quellen und Anmerkungen
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Nicety Art / shutterstock
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Zum Niederknien! Vielen Dank, lieber Dirk Fleck.
Sehr sehr schöner Text.
Ich bin gerührt… Chapeau ♫