Unsicherheit der Erzieher führt bei Jugend zu Desorientierung und Haltlosigkeit
Ein Meinungsbeitrag von Rudolf Hänsel.
Einleitung
Aufgrund von Angriffen auf andere Menschen (Amoktaten) in den USA, Deutschland und Serbien werde ich aus der Perspektive der personalen Psychologie Antworten auf wichtige Fragen geben, die in der Vergangenheit von der gesamten Gesellschaft nicht zu Ende gedacht worden sind.
Dabei beziehe ich einen Diskussionsbeitrag mit ein, den ich bereits vor 21 Jahren als Leiter der „Staatlichen Schulberatungsstelle für die bayerische Landeshauptstadt München“ anlässlich eines Amoklaufs in Deutschland verfasste und den ich immer noch für zeitgemäß halte.
Der Beitrag hatte den Titel „Für eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung“ (1). Beantworten werde ich zunächst nur die Frage: Sollen Erzieher Heranwachsenden Grenzen setzen?
Wichtige Fragen zu Ende denken!
1. Sollen den Heranwachsenden Werte vermittelt werden und wenn ja, welche und durch wen? Oder müssen Kinder und Jugendliche selbst herausfinden, was gut für sie ist?
2. Sind Anstand, Rücksichtnahme, Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Fleiß, Verantwortungs- und Gemeinschaftssinn noch erstrebenswerte Tugenden, die wir der Jugend vermitteln sollten? Oder stehen sie im Widerspruch zum Ziel der „Selbstverwirklichung“ und führen nur zu blinder Unterordnung unter autoritäre Strukturen?
3. Soll man Kindern und Jugendlichen Grenzen setzen? Oder sollen sie durch Ausprobieren selbst an ihre Grenzen stoßen? Sollten also Erzieher einschreiten, wenn Kinder und Jugendliche ihre Konflikte mit Gewalt „lösen“ wollen? Oder sollte man auf „Selbstregulierung“ vertrauen?
4. Tut es jungen Menschen gut, den ganzen Tag über auf allen Kanälen Gewalttaten in sämtlichen Variationen anzuschauen? Oder wirkt sich dieser Einfluss schädlich auf ihre Entwicklung aus und sollte deshalb unterbunden werden?
Sollen Erzieher Heranwachsenden Grenzen setzen?
Es gehört selbstverständlich zur Aufgabe des Erziehers, dem Heranwachsenden Grenzen zu setzen. Durch die Befunde der Forschungen zu den Entwicklungsbedingungen positiven Sozialverhaltens – insbesondere die Ergebnisse der Erziehungsstilforschung – wissen wir heute, welcher Erziehungsstil einen hohen Grad an Kooperationsfähigkeit, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Sicherheit beim Kind hervorbringen kann.
Diesen Erziehungsstil nennt die US-amerikanische Entwicklungspsychologin und führende Forscherin auf dem Gebiet der Kindererziehung Diana Baumrind (1927-2018) „autoritativ“ (2). Gemeint sind elterliche Erziehungspraktiken, die durch Wärme und Zuneigung, aber auch durch wirksame Kontrollmechanismen gekennzeichnet sind, die auf Härte und körperliche Strafen verzichten, aber konsequent argumentative Durchsetzungsstrategien einsetzen, die Einhaltung von vereinbarten Regeln kontrollieren, bei Fehlverhalten einschreiten sowie das Kind durch Vorbild und Einbeziehung in positive soziale Aktivitäten anleiten.
Zur Überraschung mancher Anhänger der sogenannt antiautoritären Erziehung wurde festgestellt, dass der permissive, gewähren-lassende Erziehungsstil bei Kindern zum gleichen unkameradschaftlichen, unkooperativen und aggressiven Verhalten führte wie der vernachlässigende und autoritäre Erziehungsstil.
Der Erwachsene, der Zeuge eines gewalttätigen Verhaltens eines Kindes oder Jugendlichen wird, muss daher unter allen Umständen dagegen Stellung beziehen und Wiedergutmachung fordern, denn die fehlende Stellungnahme und ein Maßnahmenverzicht werden vom jungen Menschen als Zustimmung zu seiner Tat interpretiert.
Ein Erzieher, der Gewalt zulässt, missachtet ein grundlegendes Menschenrecht. Auch muss das Opfer einer Gewalttat durch das entschiedene Einschreiten des Erziehers erleben, dass die Tat verurteilt, es selbst geschützt wird und Genugtuung erfährt.
Ein Gewalttäter, der „ungeschoren“ davonkommt, also erfolgreich Gewalt angewandt hat, lernt außerdem durch diese Verstärkung, dass Gewalt sich lohnt und wird sie wieder anwenden. Muss er sich dagegen mit seiner Tat auseinandersetzen, einen echten Weg zur Wiedergutmachung entwickeln, so fühlt er sich in sein Opfer ein und baut eine Hemmschwelle gegen erneute Gewaltanwendung auf.
Quellen und Anmerkungen
Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Schul-Rektor, Erziehungswissenschaftler und Diplom-Psychologe. Nach seinen Universitätsstudien wurde er wissenschaftlicher Lehrer in der Erwachsenenbildung. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zu Gemeinsinn und Frieden. Für Verdienste um Serbien bekam er 2021 von den Universitäten Belgrad und Novi Sad den Republik-Preis „Kapitän Misa Anastasijevic“ verliehen.
(1) Dr. Hänsel Rudolf (2002). Für eine bewusste ethisch-moralische Wertevermittlung. Ein Diskussionsbeitrag zu Erfurt. Zentrale pädagogisch-psychologische Beratungsstelle für die Schulen in der Landeshauptstadt und im Landkreis München
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Diana_Baumrind
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Cherries / Shutterstock.com
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Hallo,
"Gemeint sind elterliche Erziehungspraktiken, die … konsequent argumentative Durchsetzungsstrategien einsetzen"
Und ab 2020 konnte man bewundern, wie von Regierungspolitikern und Qualitätsjournalisten angewendet wurden und von min. 4/3 der Bevölkerung akzeptiert wurden, obwohl es keine Argumente gab, sondern nur (dreiste) Behauptungen.
Ein Schelm, wer auf den Gedanken kommen könnte, dass die alle mit "argumentativen Durchsetzungsstrategien" erzogen wurden.
Argumentieren ist ein erwachsenes Konzept, ich behaupte unter vier Jahren kann man damit sehr viel kaputt machen.
Verkürze ich, wenn ich meine: Es ist wie immer im Leben eine Frage des Masses und der Balance?
@Tom
Nein, und außerdem wird der Gewaltbegriff nicht definiert und nicht erklärt, was "argumentative Durchsetzungsstrategien" sind.