…nicht die Idioten der Geschichte.
Ein Standpunkt von Dagmar Henn.
Selbst ein Blick zurück ist niemals statisch, und auch das Bild der Toten verändert sich, weil die Bewegungen der Lebenden, zu ihnen hin oder von ihnen fort, wie Geisterspuren jene Punkte markieren, an denen sie die Verlängerungen der abgebrochenen Wege kreuzen. Oder es scheint, als hätten sich die Toten bewegt, weil das ganze Blickfeld von einer Rückschau zur anderen gewandert ist. Dabei sind sie, die Toten, doch tot, und still, und stumm, und nur wir Lebenden entscheiden darüber, ob wir ihre abgeschnittenen Fäden aufgreifen, um an sie anzuknüpfen, oder ob wir sie fallen lassen und ihnen den Rücken zukehren.
Als zu Weihnachten 1979 die Meldung eintraf, Rudi Dutschke sei am 24.12. gestorben, war das selbst für uns Nachgeborene, die politischen Kinder der 70er, eine erkennbare Zäsur. Das Jahr 1968 war schon zur abendlichen Erzählung geworden, der man mit einer Mischung aus Neid und Neugier lauschte; die Bonner Republik, der damals kurz das Bettzeug aufgeschüttelt worden war, hatte schon längst zu Berufsverboten und Antiterrorgesetzen gegriffen, um wieder für Ruhe im Land zu sorgen, und dennoch war es diese Meldung, die die Hoffnung, das Jahr 68 könnte noch einmal wieder auferstehen, endgültig schwinden ließ.
Aber selbst wir konnten schon nicht mehr ermessen, wie gewaltig die Wegstrecke war, die in den vier kurzen Jahren, die Rudi Dutschke prägte, genommen wurde. Ein kleines Detail fasst den Charakter der Adenauerschen Republik zusammen. Beim Bundestagswahlkampf 1961, als Willy Brandt gegen Adenauer antrat, wurde ihm, so der Historiker Jürgen Bevers, von Adenauers Kanzleramtschef Globke (1) vorgeschlagen, man werde ihm, Brandt, seine Jahre im Exil und im Widerstand im Wahlkampf nicht vorwerfen, wenn er dafür zu Globkes Verfasserschaft der Nazi-Rassengesetze schwiege (2). Brandt soll auf den Vorschlag eingegangen sein.
Wenn von Kommunen die Rede ist, die auch Dutschke begrüsste, in denen bei gemeinsamem Budget und freier Liebe die Kreativität erblühen sollte, denkt man sicher schnell an die Pille, aber kaum noch an den Kuppelei-Paragrafen, der es unter Strafe stellte, erwachsenen unverheirateten Paaren Räume zur Verfügung zu stellen (3), in denen diese miteinander schlafen könnten; der Paragraf war 1968 noch in Kraft.
Der Wunsch nach antiautoritärer Erziehung war auch eine Reaktion auf eine Gesellschaft, in der nicht nur Eltern ihre Kinder, sondern auch Lehrer ihre Schüler prügeln durften und dies auch taten; erst 1973 erging ein Gerichtsurteil, das die Prügelstrafe in Erziehungseinrichtungen untersagte, und noch 1988 entschied der BGH (4), Eltern dürften ihre Kinder mit Gartenschläuchen züchtigen.
In der DDR wurde körperliche Gewaltausübung durch Lehrer übrigens bereits 1949 verboten… 1977 war dann endlich auch die Bundesrepublik so weit, selbst verheiratete Frauen wie mündige Erwachsene zu behandeln und ihnen den Abschluss eines Arbeitsvertrags ohne schriftliche Genehmigung des Ehemannes zu erlauben.
An jenem Wintertag des Jahres 1979 war allerdings auch noch nicht zu erahnen, wie weit sich das Rad zurückdrehen lassen würde, in ununterbrochener Reihe, von Kohl über Schröder bis hin zu Merkel; lag der große Verrat, den insbesondere die in jenen Tagen noch nicht gegründete Partei der Grünen am Nachlass des Jahres 68 begehen sollte, noch in ferner Zukunft.
Damals endeten alle Hoffnungen und -womöglich auch übertriebenen- Erwartungen, die sich mit der Person Dutschke verbanden; von heute aus aber fragt man sich, was wäre anders, was wäre nicht geschehen, wäre er nicht so früh an den Folgen des Attentats gestorben, an welchen Punkten hätte er seine Positionen verändert.
Zwanzigjährig kam Rudi Dutschke, vierter Sohn eines Postbeamten, 1960 nach West-Berlin, um ein zweites Mal das Abitur zu machen, nachdem ihm in der DDR das gewünschte Studium als Sportjournalist verwehrt blieb. Er wollte nicht zur NVA, weil für ihn die Ablehnung jeder Armee die Konsequenz aus dem vergangenen Weltkrieg war. Als die Grenze im Sommer 61 geschlossen wurde, entschied er sich, zu bleiben und Soziologie zu studieren.
Spätestens ab der Organisation einer Demonstration gegen den Mörder von Patrice Lumumba 1964 (dem ersten Premierminister des unabhängigen Kongo) war Dutschke eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Studentenproteste. Auf Bildern sieht man ihn oft in der ersten Reihe, und mitten im Getümmel. Er konnte überzeugen, weil er überzeugt war; konzentriert, überlegt und wortgewandt, weder zu verunsichern noch zu korrumpieren.
Im Fernsehinterview mit Günter Gaus ist das für alle sichtbar dokumentiert (5). Es lohnt sich, dieses Interview zu betrachten; und sei es nur, um zu erkennen, wie sehr sich das Feld veröffentlichter Meinung inzwischen verengt hat. Da sitzen sich zwei kluge Menschen mit sehr unterschiedlichen Überzeugungen gegenüber und schenken sich nichts, ohne auch nur eine Sekunde den Rahmen einer geordneten Debatte zu verlassen.
In Westberlin prallten damals zwei Welten aufeinander. Die dort regierende Sozialdemokratie war besonders vehement antikommunistisch, die Presselandschaft wurde vom Springer-Konzern dominiert, die dortigen Studenten aber wurden vielfach vom Sonderstatus der Stadt, genauer, von der Möglichkeit, der Bundeswehr zu entgehen, angelockt und waren daher eher links vom studentischen Durchschnitt zu finden. Als der Vietnamkrieg die außenpolitische Aggression der Vereinigten Staaten auf die Tagesordnung setzte, mussten diese beiden Seiten aneinander geraten, und sie gerieten. Auf die immer häufigeren Demonstrationen der Studenten reagierte die Berliner Regierung mit Verboten und massiver Polizeigewalt, die am 02. Juni 1967 auf einem Protest gegen den Shah von Persien im Tod des Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel gipfelte.
Für die Springer-Medien, allen voran die BILD-Zeitung, war Rudi Dutschke die Verkörperung des Bösen schlechthin. Im Februar 1968 wird auf einer gegen die Studenten gerichteten Demonstration, zu der der DGB, der Senat und die Springer-Presse aufrufen, ein junger Mann, der für Dutschke gehalten wird, beinahe erschlagen. Am 11. April schließlich schießt ein junger NPD-Anhänger (6) Dutschke auf offener Straße mehrmals in den Kopf. Der Angegriffene überlebt, knapp, aber er muss in mühsamer Arbeit wieder sprechen, lesen und schreiben lernen.
Er flüchtet mit Frau und Sohn aus Deutschland, wo er nicht mehr sicher ist, und landet nach einer Ausweisung aus England durch die neue konservative Regierung schließlich in Dänemark. Kurz vor seinem plötzlichen Tod plant er noch seine Rückkehr in die Bundesrepublik und in die deutsche Politik, aber dazu kommt es nicht mehr.
Große Teile der Studentenbewegung, auch Dutschke, hatten einen revolutionären Anspruch; im Verhältnis dazu haben sie wenig erreicht. Die Notstandsgesetze wurden verabschiedet. Der Vietnamkrieg endete erst 1974 mit dem militärischen Sieg der vietnamesischen Partisanen. Nicht einmal die Entfernung alter Nazis aus den Staatsämtern gelang; als 1978 die letzten beiden Nazijuristen in Regierungsämtern, der baden-würtembergische Ministerpräsident Filbinger und der bayrische Innenminister Alfred Seidl (7), ihre Sessel räumen mussten, hatten sie das Rentenalter bereits erreicht.
Das Scheitern an diesem Punkt hat mit dazu beigetragen, dass einige der militanten Studenten es nach 1968 für nötig hielten, in den Untergrund zu gehen. Dutschke blieb mit ihnen solidarisch; sie hatten eine falsche, aber nachvollziehbare Entscheidung getroffen.
Hätte er länger gelebt, hätte man ihn bei den Grünen wiedergefunden. Aber was hätte er zur Bombardierung Belgrads gesagt? Kaum vorstellbar, dass er sich zum NATO-Anhänger gewandelt hätte, wie sein Zeitgenosse Fischer.
Hätte er das Ende der DDR bejubelt? Kurz, vielleicht. Vielleicht auch gar nicht. Er meinte zwar, die DDR bräuchte eine Revolution, aber die BRD eben auch, und eine Übernahme der DDR durch die BRD war nun einmal keine Revolution in keinem der beiden Staaten. Nein, ich denke, spätestens als klar wurde, dass die im Grundgesetz eigentlich für den Fall einer Wiedervereinigung vorgesehene Schaffung einer wirklichen Verfassung übergangen wird, hätte er dagegen protestiert, vehement.
Sein Widerspruch zur DDR kam ja nicht von rechts. Sein Vorwurf lautete, da sei nicht genug Veränderung, nicht genug Befreiung. Übrigens eine in der Studentenbewegung weit verbreitete Haltung, und eine ihrer Wurzeln dürfte die ungewöhnliche Situation der BRD als Schaufenster des vermeintlich freien Westens gewesen sein, die dazu führte, dass so vieles so viel leichter erreichbar schien.
Schließlich gab es in der damaligen BRD gigantische Sozialwohnungsprogramme, bei Tarifverhandlungen lagen die Forderungen auch mal bei zehn, fünfzehn Prozent, und als nach dem Mauerbau der kostenlose Nachschub an akademischem Personal ausblieb, wurden die Universitäten vorübergehend auch für Arbeiterkinder zugänglich – wieviel mehr müsste da eine Revolution erreichen können, und wie bescheiden schienen da die Erfolge, die etwa die Sowjetunion vorzuweisen hatte…
Erst die Jahrzehnte danach sollten beweisen, dass das Verhältnis umgekehrt war, dass ohne die vermeintlich misslungenen Versuche auch das Schaufenster überflüssig wurde, dass mit dem Ende der DDR und danach der Sowjetunion die Axt an jede einzelne soziale Errungenschaft gelegt werden konnte. Hätte Dutschke einen Jelzin als Fortschritt gesehen? Und das millionenfache Elend übergangen? Hätte er die Hartz-Gesetze geduldet?
Es ist nicht fruchtlose Gedankenspielerei, solche Fragen aufzuwerfen, es ist der Versuch, die gebliebene Lücke zu ermessen. Denn diese Lücke ist es, die die Bedeutung einer einzelnen Person erkennen lässt. Und ja, es gibt diese Lücke. Die letzten vierzig Jahre wären anders verlaufen. Aufrechter. Und das ist schon fast das Größte, was man von einem Menschen sagen kann.
Nicht alle der damaligen Generation sind den Weg von Schily und Fischer gegangen. Kann sogar sein, es war nur eine Minderheit. Aber es wurde gründlich dafür gesorgt, dass sie ihre Überzeugungen nicht weitergeben können – damals waren alle Stellen in Universitäten noch Beamtenpositionen, nicht Angestelltenverhältnisse oder Zeitverträge, und für Beamtenpositionen galten die Berufsverbote. Nur im Austausch gegen das Abschwören gab es die guten Jobs.
Nachdem mit Gaucks Hilfe die nächste Säuberungsrunde die intellektuelle Tradition der DDR ausgelöscht hat, könnte man im Grunde die Talare und die Anrede Magnifizenz wieder einführen.
Gibt es den Boden noch, auf dem ein Gewächs wie Rudi Dutschke gedeihen konnte? Von der kleinen, radikalen Minderheit in der protestantischen Kirche, die von der bekennenden Kirche ausging, ist schon seit langem nichts mehr zu hören. Die Proteste gegen die Pershing-Raketen waren das letzte Aufflammen.
Es gibt keine etwa mit Helmut Gollwitzer vergleichbare Stimme (8) aus diesen Kreisen mehr, die soziale Gerechtigkeit einfordert; das Geschäft mit dem Elend läuft zu gut. Auch keine Stimme für den Frieden mehr. Aber Militärpfaffenpredigten, wie von Gauck (9). Den und seine Bigotterie, da bin ich mir sicher, hätte Rudi Dutschke zum Frühstück verspeist.
Das politische Personal heute? Da kann ich nur noch einmal das verlinkte Fernsehinterview mit Günter Gaus empfehlen; so sieht es aus, wenn jemand überzeugt ist von dem, was er sagt und tut. Kein Ton ist falsch in diesem Gespräch, verlogen, liebedienerisch, um Zustimmung heischend, Widersprüche zukleisternd, kein Gefühl ist überzogen oder hysterisch. So sieht jemand aus, dem man vertrauen kann. Der nicht einknickt und nicht für ein Fingerschnipsen zu kaufen ist.
Ja, das bräuchte es. Um nach dem Betondeckel der Adenauer-Zeit den Betondeckel der Merkel-Ära zu sprengen. Aber das Geheimnis dieser Kraft verrät das Gespräch gleich mit: die Zuversicht, dass die Welt änderbar ist, zum Besseren. Und die Bereitschaft, daran mitzuwirken, eben diese Zuversicht in möglichst vielen Menschen zu wecken. Denn, wie sagte er in diesem Gespräch:
„ Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Das haben wir uns jahrhundertelang eingeredet.
Viele geschichtliche Zeichen deuten darauf hin, dass die Geschichte einfach nicht ein ewiger Kreisel ist und nur immer das Negative triumphieren muss. Warum sollen wir vor dieser geschichtlichen Möglichkeit Halt machen und sagen: »Steigen wir aus, wir schaffen es doch nicht, irgendwann geht es mit dieser Welt zu Ende.«
Ganz im Gegenteil, wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar in der ganzen Welt. Das ist unsere geschichtliche Möglichkeit, und da aussteigen?“
Quellen:
- https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Globke#cite_note-22
- https://www.youtube.com/watch?v=awTUDrEzsUg
- https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46050205.html
- https://www.zeit.de/1988/52/pruegel-im-kinderzimmer
- https://www.youtube.com/watch?v=SeIsyuoNfOg
- https://www.deutschlandfunkkultur.de/attentat-auf-rudi-dutschke-vor-50-jahren-drei-schuesse-am.1001.de.html?dram:article_id=415198
- https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Seidl
- https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Gollwitzer
- https://www.spiegel.de/politik/ausland/praesident-gauck-fordert-mehr-anerkennung-fuer-bundeswehr-in-afghanistan-a-873837.html
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung.
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