STANDPUNKTE • Coronavirus: Regierung ignoriert grundlegende Daten

Amtliche Zahlen aus den Labors zeigen, dass sich das Virus erheblich langsamer ausbreitet als behauptet. Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts bemühen sich um Transparenz – während die Behördenleitung und die Regierung notwendige Untersuchungen verweigern und eine Aufklärung erschweren.

Ein Standpunkt von Paul Schreyer.

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Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts (RKI) veröffentlichten am 2. April erstmals – und von der Presse weitgehend unbemerkt – detailliertere Zahlen zur Ausbreitung des Coronavirus. Wie von Multipolar bereits berichtet, hatten sich vom 9. bis 22. März nicht nur die Fallzahlen verdreifacht, sondern auch die Anzahl der durchgeführten Tests. Der Anteil der positiv Getesteten an der Gesamtzahl der Untersuchten war in diesem Zeitraum laut RKI nur geringfügig von 6 % auf 7 % angestiegen.

In einem neuen Bericht vom Donnerstag (2.4.), verfasst von Wissenschaftlern des RKI, finden sich nun präzisere Angaben zur Entwicklung der Quote der positiv Getesteten:

Wie zu sehen ist, stieg die Quote von anfänglich 2,5 % am 1. März auf 10 % am 29. März an. Nach einer Verdopplung in der ersten Märzwoche verlangsamte sich der Anstieg in der Folge deutlich: von 5 % auf 8 % in der zweiten Märzwoche (KW 11), sowie von 8 % auf 10 % in der dritten Märzwoche (KW 12). In der letzten Märzwoche (KW 13) stagnierte der Anteil bei 10 %.

Das heißt: Die von der Regierung und vielen Medien verbreitete Behauptung, das Virus verbreite sich gefährlich schnell (Angela Merkel am 3. April: „Das Coronavirus breitet sich immer noch mit hoher Geschwindigkeit in Deutschland aus“), ist falsch bzw. grob irreführend.

Der Anstieg der Fallzahlen lässt sich nicht isoliert betrachten, sondern muss ins Verhältnis zum Anstieg der Tests gesetzt werden. Dies betonte am 31. März im Interview mit dem Spiegel auch Gerd Antes, Experte für Statistik und Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg, der sich seit vielen Jahren dafür einsetzt, dass medizinische Entscheidungen auf der Basis gesicherter Fakten getroffen werden:

„Wenn in Deutschland plötzlich viel mehr getestet wird, findet man zwangsläufig auch mehr Infizierte. Ob sich wirklich mehr Menschen angesteckt haben, weiß man dann aber nicht.“

Verdopplung innerhalb von Wochen, nicht Tagen

Die nun vorliegenden Zahlen deuten darauf hin, dass sich die Anzahl der positiv Getesteten nicht, wie behauptet, innerhalb weniger Tage verdoppelt, sondern innerhalb mehrerer Wochen. Auch diese Daten sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten, da sie keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbilden.

Getestet werden nach Vorgabe des RKI vor allem Menschen mit respiratorischen (die Atmung betreffenden) Symptomen, sofern sie zu einer Risikogruppe gehören oder Kontakt zu einem positiv Getesteten hatten, sowie Menschen mit Verdacht auf Lungenentzündung, die sich in einem Pflegeheim oder Krankenhaus aufhalten, in dem mehrere Lungenentzündungen auftreten. Diese Kriterien führen zu einer Ballung der Tests bei Kranken und besonders Gefährdeten, was zu entsprechend gefärbten Ergebnissen führt: einem höheren Anteil positiv Getesteter und mehr Todesfällen pro Untersuchten, als wenn repräsentativ in der Breite der gesamten Bevölkerung getestet würde.

Dazu kommt, dass die Falldefinition und die Testkriterien mitten in der Stagnationsphase, am 24. März, durch das RKI geändert wurden (die alte Definition findet man hier, die neue hier), was einen Vergleich der Zahlen vor und nach dem 24. März massiv erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Auf Anfrage von Multipolar, aus welchem sachlichen Grund die Falldefinition geändert wurde und warum gerade zu diesem Zeitpunkt, sowie, welche Fälle nach der neuen Definition zusätzlich erfasst werden, antwortete die Pressestelle des RKI trotz mehrfacher Nachfrage nicht.

Repräsentativer Querschnitt „nicht zielführend“

Um aussagekräftige Daten zur Ausbreitung des Virus zu erhalten – darauf weisen mittlerweile zahlreiche Fachleute hin, unter Ihnen der schon erwähnte Gerd Antes – müsste fortlaufend und regelmäßig ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung untersucht werden. Genau das aber geschieht NICHT. Befragt nach den Gründen erklärte RKI-Chef Lothar Wieler am Freitag (3.4.) knapp:

„Wir denken, dass das nicht zielführend ist.“

Da Wieler sich damit gegen eine Reihe renommierter Experten (und den gesunden Menschenverstand) stellt, darf gefragt werden, durch was diese kategorische Ablehnung motiviert ist.

Die Aussage fiel bei der letzten Informationsveranstaltung des RKI, die als „Pressekonferenz“ zu bezeichnen inzwischen nicht mehr angemessen erscheint. Seit dem 31. März finden die Veranstaltungen OHNE anwesende Journalisten statt. Diese dürfen im Vorfeld schriftlich Fragen einreichen. Die Behörde entscheidet dann, welche beantwortet werden und welche nicht. Konkret sieht es so aus, dass nach Wielers Lagebericht seine Pressesprecherin Susanne Glasmacher ihrem Chef die vorsortierten Fragen vorliest, der sie dann vor laufender Kamera beantwortet. Kritisches Nachhaken bei ausweichenden Antworten ist unmöglich.

Was beweist die „Reproduktionsrate“?

Auf die Frage, welche Faktoren darüber entscheiden, wann die massiven Einschränkungen im öffentlichen Leben wieder gelockert werden, erklärte Wieler, wichtig wären unter anderem „die Inzidenz, also die Häufigkeit unter 100.000 Personen“ (was er allerdings, wie erwähnt, ausdrücklich NICHT untersuchen will), sowie die „Reproduktionsrate“, also die Zahl, wieviele Personen von einem positiv Getesteten angesteckt werden:

„Wenn diese Zahl unter 1 gedrückt wird, dann lässt die Epidemie langsam nach. Wir haben die Zahl schon auf 1 gedrückt durch die Maßnahmen, das wissen wir und wir hoffen, dass wir sie weiter herunterdrücken. (…) Wir müssen unter 1 kommen.“

Was Wieler nicht erklärte: Die Reproduktionsrate leitet sich direkt aus den täglichen Fallzahlen ab. Das heißt: Steigt die Testmenge und damit auch die Fallzahlen, dann entsteht der Eindruck einer hohen Reproduktionsrate, stabiliert sich aber die Anzahl der Tests und der Fallzahlen, entsteht zunächst der Eindruck einer sinkenden und dann einer sich stabilisierenden Reproduktionsrate. Eine tatsächliche Ausbreitungsgeschwindigkeit lässt sich daran nicht ablesen. Man darf annehmen, dass Wieler das bewusst ist. Seine Ausführungen sind als manipulativ zu bewerten.

Wie naiv viele Journalisten darauf hereinfallen, lässt sich an einem Artikel der österreichischen Zeitung „Die Presse“ vom 5.4. ablesen, in dem es heißt:

„Ein positives Bild der Entwicklung rund um den Covid-19-Ausbruch in Österreich gibt eine neue Studie (…): Demnach ist die effektive Reproduktionsrate des Coronavirus seit 12. März kontinuierlich gesunken. Aktuell liegt die Steigerungsrate der Fallzahlen bei Null. ‘Diese Analyse basiert auf den Daten der in das österreichische Epidemiologische Meldesystem eingepflegten, neu aufgetretenen Covid-19-Fälle (…)’ schreiben die Experten (…). Die Kurve der geschätzten täglichen Steigerungsrate der positiven SARS-CoV-2-Befunde zeigte in Österreich eine ähnliche Entwicklung wie jene der Reproduktionszahl.“

Dass die Kurve eine „ähnliche Entwicklung“ zeigt, überrascht nicht, basiert sie doch auf den gleichen Zahlen. Es handelt sich um einen Zirkelschluss.

Gestorben „an“ oder „mit“ dem Coronavirus?

Weiterhin ist vollkommen unklar, bei welchem Anteil der Toten das Virus ursächlich für den Tod ist, und nicht nur eine Begleiterscheinung anderer Todesursachen. Bekanntlich beträgt das Durchschnittsalter der registrierten „Corona-Todesfälle“ in Deutschland 80 Jahre, viele litten zum Zeitpunkt des Todes unter mehreren schweren Vorerkrankungen. Das RKI spricht bei seinen Todeszahlen bewusst vage von „in Zusammenhang mit COVID-19-Erkrankungen“ Verstorbenen. Für eine Klärung nötig wären Obduktionen, die das RKI aber ablehnt, mit Verweis auf Hygiene und Infektionsrisiko. Auch diese Empfehlung gilt offenbar seit dem 24. März. Ein Facharzt für Pathologie kommentiert dazu (zitiert nach Dr. Bodo Schiffmann):

„Bisher war es für Pathologen selbstverständlich, mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen auch bei infektiösen Erkrankungen wie HIV/AIDS, Hepatitis, Tuberkulose, PRION-Erkrankungen usw. zu obduzieren. Es ist schon bemerkenswert, dass bei einer Seuche die über den ganzen Globus hinweg Tausende von Patienten dahin rafft und die Wirtschaft ganzer Länder nahezu zum Stillstand bringt, nur äußerst spärliche Obduktionsbefunde (…) vorliegen. Sowohl aus seuchenpolizeilicher als auch aus wissenschaftlicher Sicht sollte hier doch ein besonders großes öffentliches Interesse an Obduktionsbefunden bestehen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Hat man Angst, davor, die wahren Todesursachen der positiv getesteten Verstorbenen zu erfahren? Könnte es sein, dass die Zahlen der Corona-Toten dann dahin schmelzen würden wie Schnee in der Frühlingssonne?“

„Die Maßnahmen wirken“

Laut offizieller Interpretation lässt sich an der aktuellen Stabilisierung der täglichen Fallzahlen ablesen, dass „die Maßnahmen wirken“ würden. Doch das ist mehr als zweifelhaft. Die Schulschließungen sind seit Kalenderwoche 12 in Kraft, die Kontaktsperre seit KW 13. Eine Wirkung von Maßnahmen ist laut RKI aber erst nach 2 bis 3 Wochen erkennbar, wegen der Inkubationszeit und dem Zeitverzug zwischen Erkrankung und Eingang der Meldung beim RKI. Daher dürften erste messbare Wirkungen frühestens in KW 14, eher aber in KW 15 bis 16 erkennbar sein. Die Fallzahlen stagnieren jedoch schon seit KW 13, ausgelöst durch einen langsamer werdenden Anstieg der Anzahl der Tests (KW 11: 127.000 Tests, KW 12: 348.000 Tests, KW 13: 354.000 Tests).

Die behauptete Kausalität ist somit nicht schlüssig. Was sich tatsächlich nachweisen lässt, ist ein massiver Rückgang ALLER Atemwegserkrankungen seit KW 10, wie folgende RKI-Grafik zeigt:

Wie zu sehen ist, vollzieht sich der Rückgang im Einklang mit dem Verlauf in den Vorjahren. Einfacher gesagt: Es wird Frühling. Selbst wenn sich die Ausbreitung von Covid-19 (so sie denn zukünftig repräsentativ gemessen werden sollte!) nicht in diesen Trend einfügte, bleibt offensichtlich: Die vorhandene Datenlage rechtfertigt kaum die politischen Maßnahmen der letzten Wochen.

Ist ein Trend erkennbar?

Das unterstreichen auch mehrere Grafiken, die von RKI-Wissenschaftlern in den Lagebericht vom Freitag (3.4.) eingefügt wurden. Behördenchef Wieler ging auf diese Informationen bei seinem Pressebriefing am selben Tag mit keinem Wort ein.

Anteil der positiven Testungen an allen Testungen nach dem Datum der Probenentnahme für Deutschland unter Berücksichtigung der Anzahl der Testungen nach Entnahmedatum. Die Punktgröße spiegelt die Anzahl der gesamtgetesteten Proben pro Tag wieder. Die Daten basieren auf einer Teilmenge aller durchgeführten Tests (ca. 300.000 von 900.000). Sie stammen von Laboren, die an der Antibiotika-Resistenz-Surveillance (ARS) des RKI beteiligt sind und auch auf das Coronavirus testen. (Stand 2.4.2020) Quelle (auch für die untere Grafik): RKI Lagebericht vom 3. April 2020, S. 6-7

Aus dieser Grafik wird deutlich, dass mit Ausnahme von Bayern in kaum einem Bundesland ein massiv ansteigender Trend erkennbar ist. Hier ist zu fragen, inwiefern sich die Teststrategie in Bayern möglicherweise von der in anderen Bundesländern unterscheidet und welche Faktoren die Auffälligkeiten der Daten dieses Bundeslandes erklären können.

Was treibt die Regierung an?

Das Ignorieren der Daten und Verweigern der Untersuchungen ist deshalb so skandalös, weil die Regierung die beschlossenen Maßnahmen, wie Schul- und Geschäftsschließungen, Einschränkung der Bürgerrechte (Versammlungsverbot, „Kontaktsperre“) weiterhin mit dem isoliert betrachteten Anstieg der Fallzahlen beziehungsweise der „Reproduktionszahl“ rechtfertigt.

Kanzleramtschef Helge Braun sprach am 28. März von einem „exponentiellen Anstieg der Fallzahlen“. Lockerungen seien erst denkbar, wenn man es schaffe, „die Infektionsgeschwindigkeit so zu verlangsamen, dass wir zehn, zwölf oder noch mehr Tage haben bis zu einer Verdopplung“. Angela Merkel betonte am Freitag (3.4.), sie könne wegen der „Infektionszahlen“ noch keine Lockerung in Aussicht stellen.

Löst man sich vom irreführenden – und wissenschaftlich unsinnigen – Tunnelblick auf die Fallzahlen, dann wird klar, dass der angestrebte Zustand längst Realität ist.

Damit stellt sich in aller Schärfe die Frage, weshalb die Maßnahmen, die Tausende Unternehmen absehbar in den Konkurs führen und Millionen Familien an den Rand des Nervenzusammenbruchs, dennoch stur aufrecht erhalten werden. Man darf unterstellen, dass den Regierungsverantwortlichen die Zusammenhänge bewusst sind, man also mit voller Absicht so handelt.

Eine Anfrage von Multipolar an das Bundespresseamt, aufgrund welcher wissenschaftlichen Daten die Bundesregierung zur Einschätzung einer bedrohlich hohen Infektionsgeschwindigkeit gelangt ist, blieb unbeantwortet. Auf telefonische Nachfrage erklärte eine Sprecherin, man habe die Frage an das Gesundheitsministerium weitergeleitet. Dessen Sprecherin wiederum erklärte, weitergeleitete Anfragen würden nachrangig behandelt – und legte mitten im Gespräch den Hörer auf. Per E-Mail wurde anschließend pauschal auf die amtlichen Mitteilungen in den „letzten Regierungspressekonferenzen“ verwiesen.

Zu erinnern ist in diesen Tagen insbesondere an das Grundgesetz. Artikel 1, Absatz 3: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Artikel 8: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Artikel 11: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“ Der Seuchenschutz wird in Artikel 11 als mögliche Ausnahme zwar erwähnt, doch die Frage bleibt: Wie angemessen sind die getroffenen Maßnahmen angesichts der tatsächlich vorliegenden Zahlen?

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:  ralphmeiling /  shutterstock

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