STANDPUNKTE • Digitaler Kapitalismus (Podcast)

Ein Standpunkt von Andreas Mäckler.

Ist Geldverdienen schlecht? Sicher nicht in einer kapitalistisch orientierten Welt. Ein dreistelliges Milliardenvermögen, wie es Digitalunternehmer wie Bill Gates (Microsoft), Jeff Bezoz (Amazon), Mark Zuckerberg (Facebook) und andere in wenigen Jahren erwirtschaftet haben, wird mit Millionen ehrenamtlich erstellter Wikipedia-Artikel aber wohl nicht so schnell zu verdienen sein – oder? Gleichwohl hat die Wikimedia Foundation in Amerika Milliardenwert, so Jimmy Wales.1 Und wenn die FAZ im Jahr 2016 ein »Vermögen von stolzen 92 Millionen Dollar«2 konstatiert, dann dürften die Gewinne inzwischen weiter gestiegen sein.3 Spötter meinen ohnehin – nicht nur mit einem Augenzwinkern –, das einzig Professionelle an der Wikipedia sei die alljährliche Spendenkampagne zur Mehrung des Vermögens weniger Nutznießer. Dem ist schwerlich zu widersprechen.

Rotes Kreuz, Freiwillige Feuerwehr, Diakonien, Telefonseelsorge – rund ein Viertel der 82,6 Millionen Deutschen sind ehrenamtlich tätig und sehen darin Sinnstiftendes für die Gesellschaft sowie ihr eigenes Leben.4 Das Geschäft mit Ehrenamtlichen boomt also in einer wachsenden Freizeitgesellschaft, in der selbst Mittellose dank Grundsicherung mit dem Lebensnotwendigsten ausgestattet sind, dazu zählen TV, Handy und PC. Erstaunlich viele Menschen sitzen täglich an ihren digitalen Geräten, als gäbe es keine anderen Optionen, Lebenszeit sinnvoll zu füllen. So hat sich eine rasant wachsende globale Unterhaltungsmaschinerie zwischen World of Warcraft und Wikipedia entwickelt, die unser Bewusstsein beeinflusst.

Die Voraussetzungen für den digitalen Kapitalismus, der auch Wikipedia hervorgebracht hat, sind selbstverständlich vielfältiger, deshalb konzentrieren wir uns auf die globale Nutzung von Publikationen zum Nulltarif und die Ausbeutung unzähliger Menschen zum wirtschaftlichen Nutzen weniger. Sozialisierung der Kosten und Privatisierung von Gewinnen gehören bekanntlich seit Jahrtausenden zu den tradierten Prinzipien erfolgreichen Wirtschaftens. So verwundert es nicht, dass zunehmend mehr Vermögen auf wenige konzentriert ist.5 Umfragen zufolge bedauern viele Menschen in der »Ersten Welt« die Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne in der »Dritten Welt«. Die Ausbeutung Hunderttausender von Autoren weltweit, die honorarfrei in 303 Sprachausgaben der Wikipedia schreiben und bearbeiten, darunter 2 391 108 Artikel in Deutsch,6 und dabei ihre Produktionsmittel ebenso selbst finanzieren wie ihren Lebensunterhalt – sofern dies nicht der Steuerzahler tut –, wird dagegen kaum thematisiert. Eva Leipprand, Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller, hat dazu Bemerkenswertes formuliert in einem Interview aus dem Jahr 2017 mit dem Titel: »Welchen Wert hat die Kraft der Gedanken?«: »Die Idee, das gesamte Wissen müsse im Internet jedermann frei und kostenlos zur Verfügung stehen, stellt das Urheberrecht und damit die Einkommensgrundlage der Autoren infrage. Deshalb wird jetzt so heftig um das Urheberrecht gestritten – früher war das ein Thema für Spezialisten. Und bei der Vereinheitlichung des Urheberrechts auf europäischer Ebene trifft das angloamerikanische Konzept des Copyrights auf das kontinentaleuropäische Urheberrecht, das den Urhebern eine viel stärkere Kontrolle über ihr Werk sichert. International operierende Konzerne wie Facebook, Google, Amazon und Apple kümmern sich grundsätzlich wenig um die deutsche Rechtslage. Es gibt derzeit also enorme Rechtsunsicherheiten und die Gefahr der Abhängigkeit von Monopolstrukturen. … Die Folgen sind bereits sichtbar und gravierend. Kreativität ist weltweit in aller Munde, die Nachfrage nach kreativen Werken steigt. Und doch sinken schon jetzt die Einkommen derjenigen, die diese Werke erschaffen. Das hat mit dem sogenannten Wertetransfer zu tun. In der digitalen Welt schiebt sich die Technologie zunehmend vor den geistigen Inhalt des Texts; der Gewinn aus der Wertschöpfungskette verlagert sich von den Kreativen auf die sogenannten ›Intermediären‹. … Digitalmächte wie Amazon und Google verdienen mit der Leistung der Kreativen viel Geld. Sie handeln mit den Daten der Nutzer, gefährden das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, verletzen durch ihre Bezahlmethoden systematisch die Privatsphäre und nehmen Einfluss auf Lese- und Schreibverhalten, auf die Literatur. Durch den ›Plattformkapitalismus‹ wird nicht nur die Existenzgrundlage der Autoren gefährdet, er bedroht auch Privatsphäre und demokratische Rechte im Kern. Wir reden über ein Thema, das die gesamte Gesellschaft angeht. Die neuen Technologien lassen monopolähnliche Machtzentren entstehen. Diese diktieren zunehmend die Bedingungen des Buchmarkts und die kulturellen Narrative.«7

Eva Leipprands Ausführungen werden sicherlich nicht verzerrt, fügt man ihrer exemplarischen Aufzählung digitaler Großkonzerne auch Wikimedia hinzu. Ebenso wie Google, Amazon, Facebook etc. ist die Wikimedia Foundation als Betreiberin des globalen »Ehrenamtsprojekts Wikipedia« längst internationaler Monopolist und ein Milliardenunternehmen. Was passiert mit dem vielen Geld? Nun, zunächst werden die alljährlich global eingesammelten Spendenmillionen regional segmentiert, kleingerechnet8 und für den Laien unüberschaubar – eine gängige Praxis multinationaler Konzerne und Spendenorganisationen. So hat Wikimedia Deutschland e. V. auch kein Spendensiegel des renommierten Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI) erhalten, quasi des deutsche Spenden-TÜVs, der rund 1000 Spendenorganisationen prüft und dokumentiert. Wer im DZI nach Gründen fragt, erhält 2017 folgende Standardantwort: »Über die von Ihnen genannte Organisation können wir Ihnen keine Auskunft geben, da sie von uns nicht dokumentiert wird. Wir bedauern, Ihnen hinsichtlich der Förderungswürdigkeit keine Entscheidungshilfe geben zu können.«

Im Internet wird über das Vermögen des Wikipedia-Gründers Jimmy Wales spekuliert, ob er inzwischen dank der weltweiten Spenden Milliardär geworden oder Millionär geblieben ist.9 Aber spielen Zahlen über rasant erworbene Privatvermögen weniger Akteure der digitalen Revolution überhaupt noch eine Rolle angesichts Hunderttausender Wikipedia-Bienen, die den Wert bezahlter Autorenleistungen auf null drücken, kongruent zur Geiz-ist-geil- und Kostenloskultur unserer Zeit? Dass hinter diesem Prinzip Menschen stehen, die nichts für ihre Leistungen bezahlt bekommen und entsprechend von ihrer Arbeit nicht leben können, wird skrupellos mit dem Mäntelchen »respektables Ehrenamt« verbrämt.

Statt von »Autoren« wird in der Wikipedia auch von »Benutzern« gesprochen, das ist bezeichnend: Mit dem Schreiben eigener Texte sind an und für sich automatisch Urheberrechte verbunden, die notfalls einklagbar sind. Dementsprechend können Autoren kostenpflichtig Nutzungs- und Verwertungsrechte an Redaktionen und Verlage vergeben und ein Honorar dafür erhalten. Nicht so im digitalen Kapitalismus des Wikipedia-Systems, da wird die systematische Ausbeutung von Autorenleistungen und Wissensressourcen in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß betrieben. Nicht einmal als Referenz taugt es, denn man muss es schon sehr nötig haben, um als Autor in der eigenen Publikationsliste auch noch »selbst angelegte« Wikipedia-Artikel anzuführen.

Auffallend ist, dass die besonders aktiven »User« über sehr viel (Frei-)Zeit verfügen, so dürfte es wohl nicht verkehrt sein, einen hohen Anteil an Singles, Studenten und Studien- bzw. Berufsabbrechern, Halbtagsjobbern, Pensionären und Hartz-IV-Empfängern zu vermuten, auch wenn es wenig verlässliche Daten darüber gibt.10 Womit wir bei einem weiteren Phänomen wären, ohne das Wikipedia als parasitäres System nicht möglich wäre, der grenzenlosen Gutgläubig- und Ausbeutbarkeit der sogenannten »Schwarmintelligenz«: In wie vielen Verlagen und Zeitungsredaktionen erhalten »Freie« für ihre Texte nur noch Zeilenhonorare im Cent-Bereich? Kann man davon leben? Wohl kaum.11 Wer mit Verlegern darüber spricht, erntet zumeist Bedauern über die schwieriger werdende Marktsituation mit sinkenden Auflagenzahlen, die nur noch Magerhonorare ermögliche. Bei dem wirtschaftlich rasant prosperierenden Onlinelexikon dagegen ernten die Autoren gar nichts mehr, damit gehört Wikipedia zu den Exekutoren der bezahlten Autorendienstleistung.

Was kann man dagegen tun? Aufhören, kostenlos zu schreiben, ist eine Option. Zudem: kein Geld mehr für Wikipedia zu spenden, um der Ausbeutung von Hunderttausenden oder gar Millionen Menschen weltweit endlich eine klare Absage zu erteilen, statt sie weiter zu fördern … Doch halt! Verdient wirklich niemand außer einer kleinen überschaubaren Gruppe von Wikimedianern? Nein, nicht ganz: Rund um die Online-Enzyklopädistik haben sich neue, wenngleich vergleichsweise kleine Wirtschaftsfelder entwickelt, die hier kurz vorzustellen sind.

Paid Editing: Geld verdienen mit dem Schreiben von Wikipedia-PR-Artikeln

Paid Editing gehört zur Wikipedia seit Bestehen der Online-Enzyklopädie als PR-Plattform.12 Bei der Suche nach Unternehmen, Produkten und Personen des öffentlichen Lebens rangieren Wikipedia-Artikel an oberster Stelle in den Suchmaschinen, so haben sie Einfluss auf öffentliche Meinungsbildung und sind entsprechend zu verkaufen: Wer möchte nicht in vorteilhaftem Licht erscheinen? Schönfärben und Kaschieren beginnt bekanntlich bei der täglichen Kosmetik und hört beim Tricksen in der Wikipedia nicht auf. Dienstleister, die sich also mit der Textkosmetik in dem Onlinelexikon ein Geschäftsfeld aufgebaut haben, sind leicht zu googeln (»Wikipedia-PR«).

Verlagsmodell Wikibooks

Wäre die Autoren- und Verlagswelt nicht zauberhaft, gäbe es ein Computerprogramm für alle, das in kürzester Zeit grandiose Texte generiert und den Nutzer damit reich und berühmt macht? Ganz so weit ist die Entwicklung Künstlicher Intelligenz noch nicht, aber mehr als zwei Millionen Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia bieten eine unerschöpflich anmutende Datenbank für Lehr-, Fach- und Sachbücher aller Art. Kein Wunder also, dass auch »Wikibooks« gratis sowie teilweise kostenpflichtig zu marktüblichen Preisen angeboten werden.13 Ob damit große Gewinne erzielt werden, sei dahingestellt.

Ein Autor/Herausgeber eigenen Kalibers ist auf alle Fälle Lambert M. Surhone – ein Pseudonym? »Gibt man seinen Namen bei Amazon ein«, vermerkt Robert Basic bereits im Jahr 2010, »poppt einem das Suchergebnis entgegen: insgesamt 21 568 Einträge.«14 Stephen King dagegen bringt es im Jahr 2018 gerade mal auf 5000 Amazon.de-Einträge. Was macht der weltberühmte Bestsellerautor falsch?

Als ich im Jahr 2002 bei einem Symposium an der Frankfurter Uni über die Rematerialisierung digitalisierter Texte sprach, hätte ich niemals gedacht, dass Lambert M. Surhone auch mich erwischen würde, genau das aber geschah im Jahr 2011: Zusammen mit Miriam T. Timpledon und Susan F. Marseken edierte er bei Betascript Publishing ein aus Wikipedia-Artikeln zusammengestelltes Buch mit dem Titel »Andreas Mäckler«: 108 Seiten Umfang, Paperback. Ungläubig, dass sich überhaupt auch nur ein Käufer dafür finden ließe, erwarb ich ein Exemplar zum Preis von 39 Euro. Auch die Produktionsmechanismen interessierten mich, umstritten war die merkantile Verwurstung gemeinfreier Texte »on demand« ja schon länger.15

Es war schlichtweg Betrug, systematischer Etikettenschwindel. Dass der Inhalt aus der Wikipedia stammt, war auf der Umschlagvorderseite deutlich deklariert: gut. Auf der Rückseite waren die ersten Zeilen des Wikipedia-Artikels über mich abgedruckt – auch okay. Ein werkbiografisches Buch über »Andreas Mäckler« zu erwarten, lag auf der Hand. Beim Lesen jedoch staunte ich nicht schlecht, denn über mich gab es einzig die drei Seiten des Wikipedia-Artikels in mäßigem Layout. Ansonsten handelte es sich um eine Aneinanderreihung von Historikerbiografien, wobei mich mit den Personen nichts weiter als Beruf und Wikipedia-Präsenz verband. Hätte man das Ganze mit »Architektur- und Kunsthistoriker mehrerer Jahrhunderte « betitelt, wäre das primitive Sammelwerk zumindest halbwegs korrekt etikettiert gewesen, aber mit »Andreas Mäckler« hatte es fast nichts zu tun. Wie ich später erfuhr, sind in solchen »VDM-Biografien« kaum mehr als ein bis drei Prozent Inhalt zu den deklarierten Personennamen enthalten.

Vielleicht war ich naiv, dass mich das »Roboterbuch« mit seiner platten, vollautomatisch generierten Aneinanderreihung von Personenartikeln verwunderte. Wäre dem Verlag keine anspruchsvollere Programmierung möglich gewesen, etwa den internen Verlinkungen der einzelnen Wikipedia-Personenartikel folgend? Dem zunehmenden öffentlichen und institutionellen Druck ist auf alle Fälle zu verdanken, dass die zigtausendfache Produktion weiterer Bücher aus dem Content der Wikipedia seitens der OmniScriptum Publishing Group Anfang 2013 eingestellt wurde.16 Doch andere »Verleger« lassen sicher nicht auf sich warten, die – mehr oder weniger offen kommuniziert – Wikipedia-Bücher im Schnellverfahren publizieren.

Dictionary of non-notable Artists

Im Sommer 2017 erzählte mir der Schauspieler und Musiker Stuart Styron, er habe einen Eintrag über sich in dem Sammelwerk »Dictionary of non-notable Artists« (2016) aus dem Fundus abgelehnter Wikipedia-Artikel gefunden und sei darüber »not amused« gewesen. Strukturell handelte es sich um eine alphabetische Listung von Namen mit knapper Spezifikation, wie wir sie hier exemplarisch sehen:

»Amanda Aardsma
nicht beachtenswerte Schauspielerin/ehemalige Schönheitskönigin.
Owen Aaronovitch
nicht beachtenswerter Schauspieler._
Aarushi
die Schauspielerin ist nicht berühmt.
Peter Abbay
nicht beachtenswerter Schauspieler.«17

In dieser Art und Weise geht es konsequent 127 Seiten weiter. Unter Hinweis auf seine Persönlichkeitsrechte drohte Styron sowohl dem Verlag als auch dem »Autor« mit Klage, falls der Eintrag nicht sofort entfernt werde. Wer möchte seinen Namen schon – zumal ungefragt – in einem Verzeichnis von Leuten wiederfinden, die etwas (zumindest derzeit) nicht erreicht haben, und sei es einen Personenartikel in der Wikipedia?

Betrachtet man die Formalitäten des Sammelwerks, fällt auf, dass Gregor Weichbrodt namentlich als Autor auftritt, auf dem Buchumschlag und in der Meldung der Deutschen Nationalbibliothek. Korrekt wäre – meiner Meinung nach –, seinen Status als Herausgeber oder Kompilator zu benennen, denn die Autoren der gelisteten Personenartikel sind bekanntlich anonyme Wikipedia-User. Eigenen Angaben zufolge sei Weichbrodts Motivation gewesen, das Kompendium zusammenzuklicken, weil er selbst von einer Löschung seines Personenartikels in der Wikipedia betroffen war und dadurch inspiriert worden ist.18 Davon konnte ich in der dazugehörigen Artikeldiskussion des aktuellen Eintrags »Gregor Weichbrodt« nichts erkennen; auch die entsprechende Löschdiskussion war erstaunlich knapp.19 In der Wikipedia muss man offenbar die richtigen Freunde haben, um Interessen durchzusetzen. Dann spielen auch Relevanzkriterien keine Rolle mehr.

Das schrieb ich also am 27. Juni 2017 in einer kleinen Glosse in meinen Biografieblog.20 Gregor Weichbrodt meldete sich per Mail am 2. November 2017. Er kritisierte, ich hätte »unwahr« geschrieben bzw. »unzureichend recherchiert«. Das »Dictionary of non-notable Artists« sei von ihm nicht »zusammengeklickt«, sondern von einem Computerprogramm erstellt worden, das er mit Python-Script geschrieben habe. Angesichts der unzähligen Einträge von Wikipedia-Löschkandidaten weltweit mache kein Mensch sich die Mühe, darin noch durchzuklicken, was ich nachvollziehen konnte. Er sehe sein Werk außerdem als »konzeptuelle Literatur«, erläuterte Weichbrodt in seiner Mail. Viele Texte, die er herausgebe, erstelle oder collagiere, schreibe er nicht selbst, sondern den Code dazu, der diese Aufgabe der Werkproduktion übernimmt. So könne er seiner Auffassung gemäß auch »Autor« sein und meine Kritik ziele ins Falsche. So weit Gregor Weichbrodt: Hatte ich ihn in seiner Ehre als »relevanter Autor« beleidigt?

Festzuhalten bleibt: Selbst wenn die Verkaufszahlen seines schlicht anmutenden Buchs hinter den Erwartungen geblieben sein sollten (im Vergleich dazu erscheint mir selbst das Telefonbuch als literarische Gattung nützlicher), erhält Gregor Weichbrodt als Autor von der VG Wort immerhin die höchstmögliche alljährliche Vergütungszahlung für diese Publikation.21 Lohnt es sich also schon deshalb, nicht einfach nur Programmierer zu sein (was ja durchaus ein qualifizierter und ehrenwerter Beruf ist)?

Plagiieren mit Wikipedia-Texten

Ebenfalls geldwert, weil enorm zeitsparend und nahezu anstrengungsfrei, aber gefährlich und illegal ist für Schüler, Studenten, Doktoranden, Journalisten und andere Autoren der unbelegte Copy&Paste-Import von Wikipedia-Artikeln in eigene Texte. Zunehmend häufiger werden selbst Autoren renommierter Verlage beim »Abkupfern« erwischt,22 wobei der Begriff schon andeutet: Geistig-schöpferischer Diebstahl ist ein uraltes Phänomen, vermutlich so alt wie die Bildungsgeschichte der Menschheit. Heute mag die Sorglosigkeit im Umgang mit fremden Textbausteinen allerdings verwundern: Bedurfte es im »analogen Zeitalter« noch erheblicher Fachkenntnisse sowie eines exzellenten Gedächtnisses, um Plagiate auffliegen zu lassen, genügt inzwischen leistungsfähige Software, die ständig optimiert wird. Insbesondere öffentliche Personen aus Politik und Wirtschaft mit großer Gegnerschaft tun gut daran, sich nicht ins Visier von VroniPlag und anderen Plagiatsjägern zu begeben. Der Abgleich mit Wikipedia-Artikelversionen gehört längst zum Standard bei Ermittlungen,23 und das Ersparte an Anstrengung sowie Zeit kann für Ertappte schnell teuer und zum Karrierekiller werden, wie das Beispiel von Ex-Doktor zu Googleberg zeigt. Sachfehler und schlechter Schreibstil sind weitere Argumente, Wikipedia-Artikel nicht in eigene Werke zu importieren.

Wikipedia als Plagiatsfall

Woher bekommen die vielen Wikipedia-Autoren ihre Informationen, die sie in das Mitmachlexikon einfügen? Nun, vor allem schreiben und klicken sie Informationen zusammen: aus Internetartikeln, Sachbüchern (darunter Lexika wie dem »Brockhaus«), Zeitungen und Zeitschriften. Da müssten Wunder geschehen sein, wenn viele dieser Beiträger nicht nur Fakten, sondern ganze Zeilen, Absätze und Artikel aus anderen Quellen nicht abgeschrieben oder vollständig in die Wikipedia hinüberkopiert haben sollten, ohne die Textteile als Zitate zu deklarieren. Gibt man jedoch in der »dblp – computer science bibliography« »Wikipedia« mit »Plagiat«, »plagiarism« oder »misinformation« als Suchbegriff ein, erhält man keinen Treffer.24 Daran ist gut zu erkennen, dass in der sogenannten »Wikipedistik« bislang kein Interesse besteht, justiziable Tatbestände zu dokumentieren, obwohl jeder weiß, dass sie existieren. Gegen wen sollten betroffene Verlage und Autoren auch klagen, solange das Anonymitäts-Prinzip in der Wikipedia für rechtsfreie Räume sorgt? In der internationalen Wirtschaft entstehen jährlich Milliardenschäden durch Plagiate, Raub und Nachahmung patentierter Industrieprodukte, auch Textplagiate richten wirtschaftlichen Schaden an. Der Ulmer Industriedesigner Rido Busse hat deshalb im Jahr 1977 den Negativpreis »Plagiarius«25 ins Leben gerufen, einen Gartenzwerg mit vergoldeter Nase. Wikipedia wäre sicher ein Kandidat dafür.

Geld verdienen mit Fotolizenzen

»Wikipedia berät über Distanzierung von Fotolizenz-Abzockern« betitelt der Kölner Anwalt Markus Kompa seinen Artikel vom 21. Februar 2017. »Vor gut sieben Jahren begannen selbsternannte Fotografen mit dem Eintreiben angeblich geschuldeter Lizenzgebühren für Fotos, die sie in der reichweitenstarken Wikipedia eigentlich zur kostenfreien Nutzung verbreitet hatten. So vertrauten viele Wikipedia-Nutzer naiv auf den Grundgedanken der ›freien Enzyklopädie‹, dass deren Inhalte ›frei‹ seien, und benutzten dort gefundene Bilder auf deren Websites.«26 Doch so einfach ist die Situation offenbar nicht. »Die Wikipedia soll eine freie Enzyklopädie sein«, heißt es in den FAQ zu den Bildern. »Das heißt, jeder darf sowohl kommerziell wie auch nicht-kommerziell Inhalte der Wikipedia (auch verändert) kostenlos verwenden. Deshalb muss beim Hochladen jeder einzelnen Datei absolut sichergestellt sein, dass der Urheber damit einverstanden ist. Damit das gewährleistet ist, muss jede Dateibeschreibung eindeutig und nachvollziehbar sein, sodass möglichst keine Fragen offen bleiben.«27 Damit bleiben Rechtsunsicherheiten bestehen und die freie Nutzung von Wikipedia-Fotos im Einzelfall riskant, das heißt, Geld verdienen mit Fotolizenzen in der Wikipedia ist nach wie vor möglich.

Goldgrube alternative Wikis?

Ob mit dem Aufbau eigener Wikis viel Geld zu verdienen ist, sei dahingestellt – zumindest wächst ihre Zahl weltweit.28 Nicht immer scheint deren Betrieb einfach zu sein. Manfred Riebe, Oberstudienrat i. R., weist in seinem NürnbergWiki darauf hin, dass sich der »Herrschaftsanspruch« der »Wikipedia-Machthaber« auch auf die Konkurrenz erstrecke, etwa das Marjorie-Wiki, PlusPedia, Jewiki oder eben regionale Wikis wie das Franken-Wiki, das FürthWiki und das NürnbergWiki, angestrebt sei, sie »zu wikipedianisieren«: ihnen die hauseigenen Regeln aufzuzwingen, z. B. bezüglich Relevanz, Rechtschreibung und »Denglisch«-Gebrauch. Das NürnbergWiki wurde deshalb zunächst für anonyme Benutzer gesperrt, daraufhin aber sei es durch Wikipedia-Machthaber sabotiert worden. Sie verhinderten Verlinkungen zum Franken-Wiki oder FürthWiki mit der Drohung, sonst kämen alle auf die Wikipedia-Spam-Blacklist, wo das NürnbergWiki gleich nach dessen Gründung im Oktober 2010 tatsächlich gelandet war. »Aufgrund des Terrors durch Wikipedia-Mafiosi in der Wikipedia und wikiübergreifend vornehmlich im Franken-Wiki, FürthWiki und in der PlusPedia wurde das NürnbergWiki erst ab Februar 2012 für seriöse Benutzer mit Klarnamen freigegeben.«29

Schließen wir diesen Beitrag mit der Feststellung: Geht es ums Geldverdienen mit Wiki-Produkten, kommt keiner an Jimmy Wales und Wikimedia heran. Chapeau!

Auszug aus:

Andreas Mäckler (Hrsg.): Schwarzbuch Wikipedia. Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss. 364 S., ISBN 978-3-943007-27-5, 19,90 €, erschienen im Verlag zeitgeist Print & Online.

https://zeitgeist-online.de/schwarzbuch-wikipedia sowie
www.schwarzbuch-wikipedia.de

1 Auf die Frage nach dem wirtschaftlichen Wert der Wikipedia antwortete Wales: »Die Enzyklopädie ist nicht kommerziell. Sie gehört der Wikimedia-Stiftung, daher stellt sich die Frage gar nicht. Es wären aber wohl mehrere Milliarden Dollar.« Die Welt, 24.2.2008; www.welt.de/wams_print/article1716778/Wikipedia-kann-sehr-elitaer-sein.html

4 Vgl. »Freiwilliges Engagement in Deutschland – Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014«; www.dza.de/forschung/fws/publikationen/berichte.html

8 Für den deutschsprachigen Raum siehe https://www.wikimedia.de/wiki/Tätigkeitsberichte

9 Vgl. Hermann Ploppa: Jimmy Wales im Olymp der Superreichen, www.heise.de/tp/features/Jimmy-Wales-im-Olymp-der-Superreichen-3377271.html

11 Vgl. Gunter Dueck: Schwarmdumm – So blöd sind wir nur gemeinsam. Frankfurt/Main 2015

13 Vgl. https://de.wikibooks.org/wiki/Hauptseite (abgerufen am 30.1.2020)

15 Vgl. www.taz.de/!74646/ und http://plagiatsgutachten.de/blog.php/einewarnung-bucher-mit-kopierten-wikipedia-artikeln-nun-auch-in-uni-bibliotheken/ (nach wie vor lesenswerter Artikel, insbesondere in den Kommentierungen von Dr. Stefan Weber und dem Alleingesellschafter der VDM Publishing Group, Dr. Wolfgang Philipp Müller)

21 Die Verwertungsgesellschaft Wort, kurz VG Wort, verwaltet die Tantiemen aus Zweitverwertungsrechten an Sprachwerken und schüttet diese nach einem komplizierten Schlüssel an Autoren und Verlage aus.

24 Vgl. http://dblp.org/search (abgerufen am 30.1.2020)

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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