STANDPUNKTE • Das Primat der politischen Parteien

oder wie die „repräsentative Demokratie“ nur elitaristische Politik verschleiert.

Von Jochen Mitschka.

Wie in meinem Essay „Finis Germania oder Deutschlands Demokratie ist verloren“ (1) beschrieben, haben die politischen Parteien längst das Grundgesetz nach ihren Vorstellungen ausgehöhlt, den Staat in ihre Gewalt gebracht und „Gewaltenteilung“ zu einem Witz verkommen lassen. All das sekundiert von der inzwischen durch Kapitalinteressen geleiteten Medienindustrie. Ein Freund hat mich nun auf eine Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel aufmerksam gemacht, in der genau diese These bestätigt wird –  dass nämlich der Konsens, oder besser gesagt das Kartell der politischen Parteien in Deutschland die Politik bestimmen und nicht der Wähler . Zwar wurde die Rede aus dem Archiv der Bundesregierung gelöscht, aber noch gibt es alternative Links zu dem Text.

Die Bundeskanzlerin hielt diese Rede anlässlich der Vorstellung des Allensbacher Jahrbuchs der Demoskopie „Die Berliner Republik“ am 3. März 2010 in Berlin. In dem Text wird deutlich, dass die Demoskopie keineswegs ein Mittel für die politischen Parteien ist, den Willen des Volkes, des Souveräns zu ermitteln, und die Politik danach abzustellen. Vielmehr wird sogar mit einer gewissen Abscheu gesprochen, gegenüber der „Aufgeregtheit des Augenblicks“, den anscheinend die Wähler, nicht natürlich die Politiker, umtreibt. Und so erkennt man, dass die Parteien nicht bemüht sind, die Sorgen und Nöte der Menschen aufzugreifen und zu bekämpfen, sondern nur versuchen, aus den Umfragen zu ermitteln, welche Überzeugungskraft notwendig ist, um die Bedenken der Menschen wegzudiskutieren.  Merkel sagte:

Die Politik kann allerdings lernen, welche Sorgen und Hoffnungen mit einem bestimmten Projekt verbunden sind. Man kann erahnen, wie viel Überzeugungskraft gegebenenfalls notwendig ist, um ein wichtiges, notwendiges Projekt durchzusetzen.“ (2)

Aber es geht noch besser. Merkel erklärte, dass die Parteien die Aufgabe haben zu herrschen, und dafür von der repräsentativen Demokratie den Auftrag bekommen, und dann vier Jahre Zeit haben, diese Herrschaft gegenüber dem Wahlvolk zu erklären. Sie sagte explizit:

Aber genau deshalb bin ich auch zutiefst davon überzeugt, dass es richtig ist, dass wir eine repräsentative Demokratie und keine plebiszitäre Demokratie haben und dass uns die repräsentative Demokratie für bestimmte Zeitabschnitte die Möglichkeit gibt, Entscheidungen zu fällen, dann innerhalb dieser Zeitabschnitte auch für diese Entscheidungen zu werben und damit Meinungen zu verändern. Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, der Nato-Doppelbeschluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt — fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt. Erst im Nachhinein hat sich in vielen Fällen die Haltung der Deutschen verändert. Ich finde es auch vernünftig, dass sich die Bevölkerung das Ergebnis einer Maßnahme erst einmal anschaut und dann ein Urteil darüber bildet. Ich glaube, das ist Ausdruck des Primats der Politik. Und an dem sollte auch festgehalten werden.“ (wie vor)

Mit anderen Worten: Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland erklärte, dass wichtige Beschlüsse der Parteien, die das Parlament und die Regierung kontrollieren, im Gegensatz zum Willen des Wahlvolkes gefällt worden waren. Auch Beschlüsse, die über Krieg und Frieden entschieden. Sie erwähnt explizit die Teilnahme am Krieg gegen Afghanistan, der nach fast 18 Jahren wohl bald als verloren angesehen werden muss. Es ist ein Angriffskrieg, an dem Deutschland auf Grund des Drucks der Grünen teilnehmen wollte, ohne Notwendigkeit bzw. Aufforderung durch die USA (3). Ein Angriffskrieg, der angeblich dann dank der Überzeugungskraft der Parteien vom Wahlvolk akzeptiert worden wäre.

Ebenso gibt die Vorsitzende der größten Partei Deutschland zu, dass „die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt“ gegen den Willen der Mehrheit der Deutschen durch die politischen Parteien durchgesetzt wird. Angeblich wäre auch hierzu im Nachhinein das Volk bereit gewesen, die Entscheidung der politischen Elite zu legitimieren. Da die Wähler tatsächlich immer wieder Parteien wählen, die eigentlich das Gegenteil von dem tun, was sie, die Wähler wünschen, ist dieser Schluss nicht von der Hand zu weisen.

Und schließlich erklärt sie deutlich, dass es ein „Primat der Politik“ gäbe. Gemeint ist, dass die politischen Parteien Deutschlands die Politik des Landes bestimmen, ohne Rücksicht auf den Wunsch und Willen der Wähler.

Merkel bestätigt hier also in der Rede meine These, dass wir von einer neuen Aristokratie beherrscht werden, einem System, das man früher als Herrschaft einer „wohlwollenden Aristokratie“ bezeichnet hätte. Wobei die Aristokratie ja nur der Vermittler und zeitweise Moderator zwischen dem eigentlichen Herrscher und dem Untertanen ist. Daraus ergibt sich aber eine wesentliche Frage, nämlich die nach der Verantwortung für Fehler.

Wer trägt die Verantwortung

Nehmen wir das Beispiel des Afghanistan-Krieges. Was passiert, wenn die Welt erkennt, dass die Unterstützung des Angriffskrieges Deutschlands gegen Afghanistan letztlich lediglich das Land zerstörte und unglaubliches Leiden und Not über die Menschen gebracht hat, statt „Brunnen und Mädchenschulen“, und dass der Krieg nun nach fast 18 Jahren als verloren angesehen werden muss? Wenn die Menschen begreifen, dass der Krieg lediglich die organische Entwicklung der Gesellschaft unterbrach, Flüchtlingsströme verursachte und das Land weiter spaltete, wodurch 18 Jahre ungenutzt blieben, ja sogar noch durch die Zerstörungen wie 30 Jahre Rückschritt wirken? Wer trägt die Verantwortung dafür, wenn die politischen Parteien im Konsens, entgegen dem Willen der Wähler (!) diesen Krieg führten? Wer trägt die Verantwortung, wenn Afghanistan uns eines Tages auf Schadenersatz verklagt, wegen der dem Land zugefügten Kriegsschäden?

Oder schauen wir uns ein weiteres Beispiel an: (…), das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro“. Wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Euro-Einführung mit Tricks, Täuschungen und falschen Versprechungen entgegen des Willens der Mehrheit der Deutschen erfolgte, und dass dies nun zu einem Grundproblem der EU wurde, wer wird dafür zur Verantwortung gezogen?

Und als letztes Beispiel betrachten wir die „die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt“, mit der nach Angaben der Bundeskanzlerin auch eine Mehrheit der Deutschen nicht einverstanden war. Wer trägt die Konsequenzen der Politik, die zum Beispiel durch immer weiter gesteigerte Rüstungsausgaben, zulasten der sozialen Entwicklung und Infrastruktur gehen? Wer trägt die Konsequenzen und die Verantwortung, wenn diese Politik zu immer größeren Spannungen mit anderen Ländern, insbesondere Russland führt, weil deutsche Politiker glauben, sie müssten wieder Panzer an die Ostfront verlegen?

Und um es auf die Spitze zu treiben: Mit dieser Politik ist auch die Stationierung von Kernwaffen der USA auf deutschem Boden verbunden, gegen die auch ein Vorbehalt in der Bevölkerung besteht. Wer trägt die Verantwortung dafür, wenn es tatsächlich durch Versehen oder Absicht zu einem Atomschlag gegen diese Stationierungsorte kommt. Weil diese Standorte im Rahmen einer immer größeren Spannung aufgrund der irren Rüstungsausgaben der NATO, nur als Bedrohung aller Nicht-NATO-Staaten angesehen werden kann, und von Russland und anderen Staaten als unmittelbare Bedrohung angesehen werden?

Tatsache ist, dass wir von einer selbsternannten Elite beherrscht werden, die die Gewinne (im weitesten Sinn) privatisiert und die Verluste sozialisiert. Und so ist es eben auch mit der Verantwortung.

Pensionen der Aristokratie gesichert, Zeche zahlt die Masse

Schauen wir uns die Politik der Bundesregierung gegenüber Syrien an. Deutschland war aktiv am Versuch beteiligt, bewaffnete Gruppen in Syrien zu unterstützen, die die legitime Regierung des Landes stürzen wollten. Als Folge entstand ein verheerender Krieg, bei dem bis heute Teile des Landes durch NATO-Truppen als Folge des Angriffskrieges, an dem Deutschland schließlich über die „Koalition“ beteiligt war, besetzt sind.

Nach dem Krieg wird Syrien ohne Zweifel Reparationsforderungen gegen Deutschland richten. Und in einem ähnlichen Fall waren die USA bereits einmal zu vielen Milliarden Dollar Schadenersatzzahlungen an Nicaragua verurteilt worden. Sie hatten, ähnlich wie in Syrien, im Contra-Krieg die Rebellen unterstützt und auch aktiv durch Minen in den Bürgerkrieg eingegriffen. Während die USA als allmächtiger Hegemon darüber lacht und einfach zur Tagesordnung übergeht, wird Deutschland diese Forderung nicht so einfach ignorieren können. Wer trägt dann dafür die Verantwortung?

Während die neue Aristokratie, bedingt durch „Nebenbeschäftigungen“, welche die Mandatsträger  dank der Bekanntheit und Einflussmöglichkeiten ausüben, aber auch die opulenten Abgeordnetenpensionen, keinerlei Zukunftsangst haben müssen, drohen für den normalen Rentner und Arbeitnehmer Renten- und Gehaltskürzungen, Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen und eine vernachlässigte Infrastruktur und gekürzte Sozialleistungen, um die Pläne der Aristokratie durchzusetzen.

Elitarismus

Die Definition von Elitarismus in Wikipedia, also des Gedankengutes, das aus der Rede der Bundeskanzlerin deutlich wurde, sagt:

„Elitarismus oder Elitismus ist eine Ideologie, die vom Bewusstsein getragen ist, einer Elite anzugehören, und sich in einer elitären Haltung manifestiert. Sie definiert sich im Gegensatz zum Pluralismus.“

Während die neue Aristokratie also ständig von Pluralismus, Buntheit der Kulturen und Meinungsfreiheit redet, realisiert sie in Wahrheit eine elitaristische, ja absolutistische Herrschaft, die sich in Begriffen wie „Alternativlos“ oder „müssen wir der EU folgen“ oder „haben wir der NATO versprochen“ wiederfinden. Eine Herrschaft, die dann mit Hilfe der Medien den Menschen so dargestellt wird, als ob es eine Herrschaft im Sinne und zum Nutzen der Gesamtheit der Wähler wäre.

Man kann ja durchaus der Meinung sein, dass die Herrschaft einer Elite für ein Land von größerem Nutzen sein kann, als eine Regierungsführung, die davon abhängt, welche gesellschaftliche Gruppe gerade in der Lage ist, seine Interessen vor die anderer zu stellen. Oder anders gesagt, eine Regierungsführung die auf ständigem Ausgleich der Interessen verschiedener Strömungen im Land beruht. Vor allen Dingen für jene, die die Herrschaft ausüben, ist eine elitaristisch absolutistische Herrschaft natürlich viel einfacher. Man kann eine solche Form der gesellschaftlichen Ordnung durchaus positiv sehen. Aber eine solche Ordnung bedingt, dass jene, welche diese Art der Herrschaft ausüben, auch dafür die alleinige Verantwortung tragen!

Es muss ja nicht gleich die Guillotine sein, wie in Frankreich, oder die Versklavung wie im Mittelalter, oder der Seidensack, auf den man mit Sandelstöcken schlug, bis sich der Inhalt nicht mehr bewegte, wie in Thailand. Es würde schon reichen, den Protagonisten der Elite, die den Schaden verursacht haben, ihre Mindestrente zu begrenzen, oder bei offensichtlichen Regelbrüchen, auch mit Gefängnisaufenthalt zu bestrafen.

Im deutschen System der so genannten repräsentativen Demokratie aber trägt ganz alleine der Wähler die Folgen der Entscheidungen, die durch das „Primat der Politik“ gefällt werden, und nicht selten zu katastrophalen Ergebnissen führen. Und der Wähler hat keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen, denn schließlich hat er durch die Abgabe seiner Stimme bei der Wahl die Herrschaft der Elite legitimiert. Man könnte sagen, analog zur Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft, bei welcher der Vorstand „entlastet“ wird, entlastet der Wähler das System des Parteienkartells durch Abgabe seiner Stimme am Wahltag.

Pluralismus

Ganz klar aber dürfte nun sein, dass es nicht richtig ist, dass wir in Deutschland in einer pluralistischen Gesellschaft leben. Denn die Definition laut Wikipedia für Pluralismus lautet:

„(…) Der wesentliche Aspekt des Pluralismus, dass die Macht nicht zentral gebündelt, sondern auf verschiedene, voneinander relativ unabhängige Gruppen der Gesellschaft verteilt ist, steht im Gegensatz zu einer Herrschaft oder Hegemonie einer jeweils bestimmten sozialen Klasse oder Elite.

In Deutschland haben wir aber die Macht gebündelt auf den Parteienkonsens, auf das Parteienkartell. Schauen wir uns an, als Bundeskanzler Schröder mit SPD und Grünen den Sozialabbau in Deutschland in Gang brachte. Natürlich wurde er nicht wiedergewählt, aber die dann die Regierung übernehmende CDU verstärkte den Trend sogar noch. Parteienkonsens könnte nicht deutlicher gezeigt werden. Und wer die letzten großen Koalitionen beobachtete, der kann sich kaum des Eindrucks verwehren, dass hier etwas zelebriert wurde, das nicht selten an gesellschaftliche Systeme erinnert mit einer einzigen erlaubten Partei. Auch dort gibt es natürlich „pluralistische Strömungen“ innerhalb der Partei.

Die Tatsache, dass die Parteien sehr bemüht sind, innerhalb der eigenen Klasse der Aristokratie, also der Parteien, möglichst viele Teile der Gesellschaft aufzunehmen ist lediglich Makulatur. Sie soll vortäuschen, dass die Gesellschaft pluralistisch organisiert ist, tatsächlich aber werden nur jene Teile der Gesellschaft aufgenommen, die mit dem Konsens innerhalb der Partei und dem Parteienkartell insgesamt, übereinstimmen.

So haben die „christlich sozialen“ Parteien sicher auch Muslime und Mitglieder anderer Religionen in ihren Reihen, aber das beherrschende Element ist die Ideologie der Partei, nicht die Religion. Ebenso hat die AfD sicher Migranten in ihren Reihen, aber diese vertreten eine ebenso restriktive Migrantenpolitik wie die ganze Partei. Und natürlich hat die FDP auch Arbeitnehmer als Mitglieder, aber die sind, wie die Partei der Meinung, dass alles für Arbeitnehmer gut ist, was für die Arbeitgeber gut ist.

Pluralismus ohne plebiszitäre Politik ist nicht möglich. Nur wenn die Gesamtheit der Menschen eine Entscheidung fällen kann, kann man von Pluralismus sprechen. Der Grund liegt darin begründet, dass jeder Mensch unterschiedliche gesellschaftliche Rollen ausübt. Der Muslim ist ebenso Arbeitnehmer oder Rentner wie der Christ. Der Arbeitgeber ist auch Teil einer Familie. Der Lehrer ist auch Vater. Der Rentner ist möglicherweise auch Hauseigentümer. Und immer wird die Person abwägen müssen, welche dieser Rollen für eine Entscheidungsfindung wichtiger ist.

Fazit

Deutschland wird durch eine selbst ernannte Elite verwaltet, die sich als neue Aristokratie gebärdet, aber die Verantwortung für von ihr verursachter Politik der Gesamtheit der Bevölkerung zuschiebt. Begründet mit „Demokratie“. Sie verweigert sich plebiszitären Elementen, aus der Befürchtung heraus, nicht mehr die Politik betreiben zu können, die diese Aristokratie für richtig hält. Und so lange die Wähler alle paar Jahre dieser Aristokratie durch Abgabe der Stimme die „Entlastung“ erteilt, wird sich auch nichts daran ändern. Und so werden wir alle die Folgen von Aufrüstung, Kriegen, Verkauf von Allgemeineigentum, Abbau von Sozialleistungen und Verfall der Infrastruktur  tragen müssen.

Quellen:

  1. https://www.nibe-versand.de/Ebooks/Politicum-Illustrati-Finis-Germania-oder-Deutschlands-Demokratie-ist-verloren::105.html
  2. https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975954/770314/2b01a87d270d15afb0d02da54d2121d0/21-2-bk-data.pdf?download=1
  3. https://kenfm.de/standpunkte-von-jugoslawien-bis-venezuela-teil-1-podcast/

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