Auszug aus dem Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“.
Von Wolfgang Bittner.
Nach wochenlangem Dahinvegetieren in der Notunterkunft erhält die Mutter einen Brief des Suchdienstes vom Roten Kreuz. Der Vater lebt, er liegt schwer verwundet in einem Lazarett in Ostfriesland. Bei eisiger Kälte macht sich die Mutter mit dem Kind auf den Weg in die Britische Besatzungszone. Ende 1945 ist die sogenannte Demarkationslinie überschritten, hungernd und frierend kommen sie in einem Übergangslager hinter der Grenze unter. Kurz nach Neujahr wird endlich die Weiterfahrt nach Norddeutschland genehmigt.
Drei Tage später sitzen die Mutter und das Kind nach Übernachtungen in Notunterkünften in Braunschweig und Hannover in einem Zug, der in Richtung Küste fährt. Sie sind hungrig, denn eine letzte dürftige Mahlzeit gab es am Abend zuvor von der Bahnhofsmission. Ihnen gegenüber sitzen zwei vornehm gekleidete ältere Leute, die vertraut miteinander umgehen, offenbar ein Ehepaar. Aus ihrer Unterhaltung ist zu entnehmen, dass sie aus der amerikanischen Besatzungszone kommen.
Es ist kalt im Zug, und die Mutter entnimmt ihrem Koffer eine Decke, in die sie das immer noch etwas hustende Kind einwickelt. „Möchtest du vielleicht ein Hustenbonbon?“, fragt die gegenübersitzende Frau, und als das Kind nickt, darf es sich aus einer kleinen Dose, die ihm die Frau hinhält, bedienen. „Schmeckt gut“; sagt es.
Die Frau lächelt ihm zu. „Hoffentlich hilft es ein wenig. Wie alt bist du denn?“
„Fünf“, antwortet das Kind. „Aber ich werde bald sechs.“
„Freust du dich schon auf die Schule?“, fragt der Mann.
Das Kind nickt. „Dann lerne ich schreiben und lesen, rechnen kann ich schon ein bisschen. Aber am liebsten würde ich zu meiner Oma nach Gleiwitz zurückfahren.“
„Wir kommen nämlich aus Schlesien“, wirft die Mutter ein.
„Ach, aus Schlesien“, sagt der Mann. „Wir hatten Verwandte in Breslau, vor dem Krieg.“
„Fahren Sie auch nach Oldenburg?“, fragt die Frau.
„Nein, wir wollen weiter bis an die Küste. Mein Mann liegt dort in einem Lazarett. Er wurde kurz vor Kriegsende noch verwundet. Ich weiß gar nicht, wie es ihm geht, nur dass er auf dem Wege der Besserung sein soll.“
„Wird schon werden“, meint der Mann. „Im Lazarett ist er ja in ärztlicher Betreuung.“
„Und Sie wollen nach Oldenburg?“, erkundigt sich die Mutter.
„Ja, wir wollen Bekannte besuchen und haben einiges zu regeln“, antwortet die Frau. „Wir kommen aus den USA, sind 1938 ausgewandert.“
Die Mutter stutzt und schweigt erst einmal. Draußen ziehen in der beginnenden Dämmerung Heideflächen und Kiefernwald vorüber. „Die Lüneburger Heide“, sagt die Frau. „Wir hatten hier in der Nähe ein Wochenendhaus.“ Sie nimmt aus ihrer Handtasche ein Päckchen mit Reiseverpflegung und packt Butterbrote aus, die dick mit Wurst und Käse belegt sind. Sie und ihr Mann breiten Servietten aus und lassen es sich schmecken. Die Mutter lehnt sich zur Seite, schaut aus dem Fenster hinaus in die dunkler werdende Landschaft, in der vereinzelt Lichter aufscheinen, stellt sich vor, wie sie ihren Mann in die Arme schließt.
Das Kind, das eingeschlafen war, ist aufgewacht, vielleicht weil es so gut riecht. Es kuschelt sich in seine Decke und schaut den beiden alten Leuten beim Essen zu. Da reicht ihm die Frau, die seinen hungrigen Blick bemerkt hat, eine ihrer Schnitten. „Nimm nur“, sagt sie, „du hast bestimmt Hunger.“ Sie gibt auch der Mutter eine Schnitte. „Freunde in Frankfurt haben uns gut versorgt“, erklärt sie. „Es ist ja alles rationiert, und wenn Sie aus Schlesien kommen, haben Sie eine lange Reise hinter sich.“ Sie nimmt ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz, holt einen Kanten Brot heraus und gibt ihn der Mutter mit den Worten. „Das brauchen wir nicht mehr, wir werden ja gleich abgeholt und gut versorgt.“
Draußen nehmen die Lichter zu, eine größere Stadt kommt in Sicht. Die beiden Alten bereiten sich zum Aussteigen vor. „Gute Weiterreise“, wünscht der Mann. „Und ein glückliches Leben!“, ruft die Frau. Ein junger Mann hilft ihnen beim Aussteigen mit den Koffern.
Die Mutter schneidet mit ihrem Taschenmesser zwei Scheiben von dem Brot ab. „Die waren aber nett“, sagt das Kind mit vollen Backen. „Ja, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, flüstert die Mutter. „Stell dir vor, es waren Juden.“
Zwei Stunden darauf meldet der Schaffner, den die Mutter angesprochen hatte, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Der Zug hält bei Schneetreiben und klirrender Kälte an dem unbeleuchteten Bahnhof einer Kleinstadt. Auf dem Bahnsteig ist niemand zu sehen, das Kind hustet und zittert, es sehnt sich nach einem warmen Bett. Hier soll irgendwo das Lazarett sein, in dem sich der Vater befindet. Aber wo ist das? Augenscheinlich gibt es viele Enden der Welt, denkt die Mutter.
zeitgeist Verlag: „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“.
1943 ist der Krieg in Oberschlesien, dem Industriegebiet Ostdeutschlands, noch weit weg. Die Mutter fährt mit dem Kind aufs Land, wo es Hirschbraten, Kaffee und Kuchen gibt. Im Volksempfänger spricht Adolf Hitler von Siegen. Doch immer öfter heißt es: „… für Führer, Volk und Vaterland gefallen.“ In der Nachbarschaft werden die jüdischen Familien abgeholt, man muss sich vorsehen, es soll Konzentrationslager geben. Dann werden aus Siegen Niederlagen, und im Westen versinken die Städte im Bombenhagel. Vor der Gastwirtschaft des Großvaters schlagen sich Grubenarbeiter mit SA-Männern. Die Front rückt immer näher, und mit ihr kommt die Hölle des Krieges. Im März 1945 übernimmt Polen die Verwaltung der deutschen Ostgebiete, und es folgt ein Exodus von Millionen, darunter die Mutter und das Kind. Als sie halb verhungert in einer Kleinstadt in Norddeutschland ankommen, liegt der Vater schwer verwundet in einem Lazarett. Hunger und die furchtbare Kälte im Steckrübenwinter 1946, danach ein jahrelanger Aufenthalt im Barackenlager. Aber die Mutter gibt nicht auf. In der provisorischen Wohnküche arrangiert sie einen „Salon“, in dem kontrovers debattiert wird. Es ist die Zeit der Währungsreform mit der Teilung Deutschlands. Konrad Adenauer – von den Alliierten unterstützt – wird mit einer Stimme Mehrheit Bundeskanzler. Der Kalte Krieg beginnt, und die Weichen werden für das gestellt, was bis heute wirksam ist. Der Familie gelingt in den 1950er-Jahren, im „deutschen Wirtschaftswunder“, allmählich der Neuanfang.
Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Er hat mehr als 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlich. 2017 erschien von ihm im Westend Verlag das Buch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“.
Siehe auch KenFM im Gespräch: https://kenfm.de/wolfgang-bittner/
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