Wir leben in einer Anpassungsgesellschaft, in der wir statt auf unseren inneren Kompass nur noch auf die Mehrheit hören.
Von Deborah Ryszka.
„Verwirkliche dich selbst!“, lautet ein Mantra unserer Zeit, das wir sowohl im Berufsleben als auch in der Psycho-Szene wiederfinden. Doch gerade in diesem Drang nach Selbstverwirklichung sind die meisten Menschen Opportunisten. Sie tun es, weil es alle tun. Die Meinung und der Geschmack der Masse bestimmen unsere Orientierung. Überall versuchen wir uns mit den Mitteln der Selbstvermessung und Selbstoptimierung marktkonform zu machen. Digitale Technologien unterstützen diesen Prozess. Damit geben wir auch die Verantwortung für unser Leben ans Kollektiv ab. Wirkliche Individualität sieht anders aus.
Einerseits gibt es für das Individuum nichts Schlimmeres, als nicht authentisch zu sein, nicht sein eigenes, innerstes Selbst zu zelebrieren. Authentizität, das aus der Romantik stammende Ideal des Individualismus, ist für das Individuum der Ausdruck seiner Einzigartigkeit, Einmaligkeit, Besonderheit. Andererseits fühlt sich das kreischend selbstentblätternde Individuum als autonomes, unabhängig handelndes Wesen.
Für Georg Simmel, einem der Gründungsväter der Soziologie, machten Authentizität und Autonomie zwei Eigenschaften des Individualismus aus (1). Doch erst das ausgewogene Verhältnis von Autonomie, im Sinne von innerer Freiheit, der Ermöglichung einer individuellen Reflexionsfähigkeit und von Authentizität, der lebensgeschichtlichen Herausarbeitung der eigenen unverwechselbaren Eigenschaften, schaffe einen „gesunden“ Individualismus.
Gegenwärtig herrscht ein wahrer Hype um die Authentizität. Nicht authentisch zu sein, gleicht einer Sünde, fällt in die Kategorie eines gesellschaftlichen „No Go“.
Was früher der heilige Gral war, ist heute die Selbstoptimierung. Oder unverblümt gesprochen die Selbstausbeutung.
Der „neue Geist des Kapitalismus“ (2) wurde verinnerlicht, der äußere Zwang zum inneren transformiert, der Wille wurde auf Selbstausbeutung getrimmt.
Wer nicht Selbstfindungstrips und Therapeutensitzungen besucht, Techniken der Selbstvermessung und Selbstoptimierung benutzt, wird in die soziale Außenseiterecke gedrängt. Vielmehr entwickelt er Gefühle des Unbehagens und des Unwohlseins. Und weil der Selbstausbeuter nicht an ein Paradies im Jenseits glaubt, konzentriert er seine Schaffenskraft weiterhin auf seine Authentizität, oder was ihm als die „Verwirklichung“ des Selbst verkauft wird. Indem er sich dem gesellschaftlichen Willen beugt, meint er seinem wahren Selbst näher zu kommen.
Geschenkte Sicherheit und geraubte Autonomie
Was für den Drogensüchtigen Kokain, Heroin oder Speed sind, ist für den Selbstverwirklicher die Wärme der Herde. Sie bietet ihm Schutz, inmitten der Anderen fühlt er sich geborgen. Wie der „vom Affen Besessene“ redet auch er sich ein, nicht abhängig, sondern autonom zu sein. Das erleichtert das Gewissen immens. Oder schlimmer: er fühlt sich in dieser Rolle wohl. Weil er keine Verantwortung trägt, muss er die Folgen seiner Handlungen nicht berücksichtigen. Der Soziologe Zygmunt Bauman (3) sprach von einer „Adiaphorisierung“.
Dieses Abwälzen von Verantwortung auf Andere beobachtete bereits in den 1960er Jahren der Sozialpsychologe David Riesman. Er sprach vom „außengeleiteten“ Individuum, ohne eigenen Kompass, ohne eigene Werte und Prinzipien, dafür aber mit einer felsenfesten Orientierung an die Anderen. Sie sagen ihm, was es fühlen und denken, wie es denken und handeln soll. Die Herde, im Gewand des Fitnesstrackers, ruft: „Laufe täglich mindestens 200 Schritte, also läuft er mindestens so viel.“ Die Herde ruft: „Ernähre dich fleischlos!“, also ernährt er sich vegetarisch. Die Herde ruft: „Verwirkliche dich selbst!“, also verwirklicht er sich selbst. „Amen!“, entgegnet der Chor der Selbstverwirklicher. Das bedeutet aber nicht, dass persönliche Autonomie ohne soziale Einbettung eine Bedingung für individualistische Freiheit wäre. Vielmehr bedarf es eines ausgewogenen Verhältnisses von individueller Autonomie und Gruppenzugehörigkeit. Das Individuum ist weder abseits noch inmitten der Gruppe wirklich Individuum.
Verlust der Autonomie und gewonnene Anerkennung
Blieb den Leibeigenen früher nichts anderes übrig als sich ihrem Lehnsherrn zu unterwerfen, findet die Obrigkeitshörigkeit vor der Masse gegenwärtig aus freien Stücken statt. Das stille Ausführen ihrer Anweisungen, wider besseren Wissens und Gewissens.
Deswegen diagnostiziert der Psychiater Hans-Joachim Maaz (4) dem gegenwärtigen Individuum eine „Normopathie“, eine krankhafte soziale Anpassung.
Dass diese teilweise historisch bedingt ist, scheint Maaz zu vernachlässigen.
Bereits die Fürsten in Deutschland übernahmen den Schutz des Individuums, im Gegenzug für seine Autonomie. Der Bauer rackerte und ackerte auf seinem Feld, dafür verteidigte ihn sein Besitzer vor feindlichen Fürsten. Die deutsche Bürokratie in Kombination mit den zweckrationalen Zwängen der modernen Gesellschaft tut gegenwärtig ihr Übriges. Nicht umsonst prägte Max Weber (5) den Begriff vom „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“.
Doch Sicherheit ohne Freiheit ist wie Sklaverei. Früher schützte der Fürst das Individuum vor Kriegen, heute die Bürokratie vor der Eigenverantwortung und die Masse vor der sozialen Ausgrenzung. Der Sozialphilosoph Axel Honneth (6) würde sagen es gehe um einen „Kampf der Anerkennung“, als Individuum geachtet und respektiert, als „Quelle von legitimen Ansprüchen“ angesehen zu werden.
Dieser Kampf entstehe, sobald dem Individuum Anerkennung verweigert werde. Das kann in der Anerkennungssphäre der Liebe, des Rechts und der Wirtschaft geschehen. Letztendlich leidet das Individuum zunehmend, was in Ungerechtigkeit, Diskriminierung oder Ausgrenzung mündet. Nach dieser Logik erhält das Individuum nicht nur Sicherheit, sondern auch Anerkennung durch die Masse.
Digitale Technologien und Autonomieverlust
Wer WhatsApp, Twitter und Instagram nutzt, gehört zur Netzgemeinde. Obwohl er alleine mit dem Smartphone durch die Lande zieht, fühlt er sich im Netz geborgen, mit anderen verbunden. Ein WLan-Hotspot, „connection established“ und die „Netzfreunde“ sind da. Wer außerdem viele Likes und Klicks, Tweets und Follower hat, wird anerkannt. Und will immer mehr davon. Das Smartphone und die Rückmeldung aus der Netzwelt rücken folglich in den Lebensmittelpunkt. Automatisch streift der Blick jede Minute auf das Display, automatisch wandern die Gedanken zum zukünftigen Tweet und baldigem Like.
Für Reflexion ist hier wenig Platz. Alles muss schnell und nach Abruf erledigt werden. Ständiges Reisen, ständige Erreichbarkeit, ständige Selbstverwirklichung. Sie fördern Automatismen und ein bestimmtes Denksystem, das nach dem Sozialpsychologen Daniel Kahnemann, schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung operiert. So wird Zeit gespart, aber der Wille bleibt hinten dran. Das ist fatal. Denn folgt man Augustinus, für den der Wille das Zentrum des menschlichen Geistes ausmacht, der unabhängig vom Verstand ist, lautet die Schlussfolgerung: Das Individuum ist zum willenlosen Knecht geworden. Geht man mit den Stoikern, für die der Wille ein vernünftiges Begehren darstellt, wird es noch dramatischer: nicht nur willenlos, sondern auch kopflos ist es geworden.
Wiedererlangung der Autonomie und Verwirklichung als Individuum
Wie einst der Bauer auf seine Autonomie verzichten musste, tut dies das gegenwärtige Individuum, aber aus freien Stücken. Der Authentizitätszirkel aus dem Diktat der Masse, in Kombination mit den digitalen Technologien, verführt das Individuum, auf sein autonomes Fühlen, Denken und Handeln zu verzichten.
Selbstverwirklichung als Selbstausbeutung plus Twitter gleicht zwar der Authentizität. Mit einem „gesunden“ Individualismus im Sinne Simmels, und in seiner Konsequenz mit einer individualistischen Freiheit, hat das wenig zu tun.
Ein Ausschnitt aus dem Film „Das Leben des Brian“, indem Brian zu einer großen Menschenmenge spricht, verdeutlicht diesen Gedanken:
Brian: „Ihr müsst niemandem folgen, Ihr müsst selbst denken, Ihr seid alle Individuen!“ Die Menge antwortet im Chor: „Ja, wir sind alle Individuen!“ Brian: „Ihr seid alle verschieden!“ Die Menge: „Ja, wir sind alle verschieden!“ Ein Zwischenruf aus der Menge: „Ich nicht!“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Simmel, G. (1989). Individualismus (S. 267-274). In: Georg Simmel. Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(2) Boltanski, L. & Chiapello, E., Le Nouvel Esprit du Capitalisme. Der „neue Geist des Kapitalismus“, 1999, Gallimard, Paris.
(3) Bauman, Z. (2007). Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburg: Hamburger Edition.
(4) Maaz, H.-J. (2017). Das falsche Leben: Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. München: Beck.
(5) Weber, M. (1922/1972), Wirtschaft und Gesellschaft, Mohr Tübingen
(6) Honneth, A., 2011, Verwilderungen: Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 1-2/2011): Postdemokratie? (http://www.bpb.de(apuz/33577/verwilderungen-kampf-um-anerkennung-im-fruehen21-jahrhundert?p=all) (12.06.2019)
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Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
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Dieser Beitrag erschien am 12.07.2019 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.
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