Tagesdosis 14.1.2019 – Ganz Indien streikt, die Presse schweigt

Ein Kommentar von Susan Bonath.

Extremer Billiglohn, brutale Arbeitsbedingungen, Elend und Kinderarbeit: Wer wissen will, wo ein Großteil unserer Kleidung und zahlreiches technisches Spielzeug produziert wird, blicke zum Beispiel nach Indien. Millionen von Menschen schuften dort wie Sklaven für den Wohlstand unserer westlichen Lebenswelt. Über die Armut in dem bis kurz nach dem zweiten Weltkrieg von Europa kolonialisierten und bis heute wirtschaftlich ausgeplünderten Staat mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern wird oft berichtet. Nicht erwünscht sind dagegen Informationen über den Widerstand der indischen Bevölkerung gegen die Herrschenden. Vergangene Woche ereignete sich in Indien der vielleicht größte Streik der Geschichte. Doch niemand außer ein paar kleinen linken Blättern berichtete darüber.

Nach Angaben der Dachverbände der größten indischen Gewerkschaften, darunter kommunistische und reformistische sowie Frauenverbände, legten am vergangenen Dienstag und Mittwoch rund 200 Millionen Arbeiter zugleich ihre Arbeit nieder. Stillgestanden habe die Bahn und das Transportwesen, ein Großteil der Produktion, sogar Banken und staatliche Behörden, wie zuerst das Neue Deutschland (ND) berichtete.

200 Millionen – das ist mehr als ein Siebtel der Gesamtbevölkerung des einwohnermäßig zweitgrößten Staats der Welt. Die Streikenden haben massiven Repressionen getrotzt. Damit hatte die indische Regierung gedroht. Im südindischen BundesstaatTamil Nadu etwa kündigte sie gravierende Lohnkürzungen für Festangestellte an. Teilzeitbeschäftigten und Tagelöhnern drohte sie mit dem Verlust ihres Jobs.

Demnach richtete sich der Streik vor allem gegen die Änderung eines Gewerkschaftsgesetzes zugunsten der Industriellen, Aktionäre und Firmenbesitzer. Es erschwere Proteste und Organisation von Arbeitern massiv. Laut Tapan Sen von der Kommunistischen Gewerkschaft Indiens sorge das Gesetz „für sklavenähnliche Bedingungen“. Die indische Regierung begründete die Novelle ähnlich, wie einst der deutsche Altbundeskanzler Gerhard Schröder bei der Einführung der schikanösen Hartz-Gesetze: Man müsse das Wirtschaftswachstum beschleunigen.

200 Millionen, das sind 2,6 Prozent der heutigen Weltbevölkerung – so viele muss man erst einmal mobilisieren. Indischen Gewerkschaften ist das gelungen. Ein Weltereignis? Denkste. Denn während allzu häufig einzelne Gewalttaten durch die überregionale Presse gehen, herrschte absolute Funkstille über den Generalstreik. Das lag an der Ignoranz der großen Nachrichtenagenturen. Auf diese sind fast alle Medien angewiesen. Denn heute verfügen sie nicht mehr über eigene Korrespondenten in vielen Teilen der Welt. Deshalb schaffen es Ereignisse es meist nur dann auf die große Playlist, wenn dpa und Co sie aufgreifen, journalistisch aufbereiten und gegen Geld an die Presse weitergeben.

Das ND, offenbar durch eigene Korrespondenz informiert, tat das einzig Vernünftige: Es fragte bei der größten deutschen Nachrichtenagentur dpa nach, die natürlich auch über Mitarbeiter in Indien verfügt. Antwort: Sie habe nicht über den Streik berichtet, da die Zahl der Beteiligten für sie nicht verifizierbar gewesen sei. Außerdem sei es weder zu größeren Ausschreitungen noch zu Todesfällen gekommen. Man habe, so ein dpa-Vertreter laut ND, „den Generalstreik daher als irrelevant erachtet“.

Nun zählen Medien fast niemals selbst die Anzahl von Streikenden oder Demonstranten, sondern geben die Zahlen der Polizei sowie der Organisatoren an – die Wahrheit liegt meist irgendwo dazwischen. Also darf vermutet werden: Man kolportiert lieber das Bild von einer archaisch-rückständigen Postkolonie. Ein gut organisierter Generalstreik passt da nicht hinein.

An dieser Stelle mal ein paar Worte zu Arbeit und Globalisierung, da über diese Themen offensichtlich viel Empörung, aber wenig Verständnis herrscht. Zunächst: Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen Arbeit und Lohnarbeit.

Arbeit ist der Kern menschlichen Lebens. Der Mensch lebt von und mit der Arbeit. Sie steckt in allem, was hergestellt wird und in der Reproduktion des Menschen selbst. Menschen können Land urbar machen und auf dem Feld Gemüse anbauen, um es zu verzehren. Sie können Bäume pflanzen und das Holz als Rohstoff nutzen, Häuser bauen, um darin zu wohnen, Maschinen erfinden und, mit Blick auf die Ressourcen, die nötigen Rohstoffe dafür gewinnen. Das ist Arbeit, die allen nützt. Besser gesagt: Nützen könnte.

Die Realität aber ist: Ressourcen, Maschinen, Produktionsstätten, selbst das Gros des Wissens gehören wenigen, und zwar denen, die das nötige Geld besitzen, um all dies zu erwerben, zu kapitalisieren und Profit daraus zu schlagen. Der Profit, ursächlich erzeugt durch eingekaufte Lohnarbeit, wandert in private Taschen. Im Kapitalismus lässt kein Eigentümer etwas produzieren, um den materiellen Bedarf der Bevölkerung zu decken. Der einzige Zweck jeder Produktion ist vielmehr das Erzielen von Profit.

Da die Konkurrenz tobt und der technologische Fortschritt die Lohnarbeit als einzige echte Profitquelle en masse überflüssig macht, unterliegt diese Wirtschaft dem steten Zwang, exponentiell zu wachsen. Damit einher geht die Ausplünderung, Zerstörung und letztlich Vernichtung der einzigen Lebensgrundlage des Menschen, der Erde. Auf einem begrenzten Planeten muss es so irgendwann zum Crash kommen.

Man könnte die irre Logik der kapitalistischen Produktionsweise auch so formulieren: Ein Überleben kann sich die Menschheit im Interesse des Wirtschaftswachstum nicht leisten.

Um die Profitmaschine am Laufen zu halten, sprinten Abermillionen Arbeiter im Hamsterrad. Viele fühlen es richtig: Sie werden immer obszöner ausgebeutet. Doch in Reaktion darauf ziehen die meisten gegen die Freigesetzen aus aller Welt zu Felde, gegen die angeblich „faulen“ Lohnerwerbslosen, die Arbeitsmigranten und Flüchtlinge, die Obdachlosen und Hartz-IV-Bezieher. Dabei sind es die malochenden Lohnarbeiter selbst, die das Weiterlaufen der Profitmaschine besorgen. Und je weniger von ihnen benötigt werden, desto mehr müssen Kapitalisten sie ausbeuten. Denn Lohnarbeit ist die einzige Profitquelle. Warum?

Hochtechnologie erhöht zwar kurzfristig den Profit eines einzelnen Unternehmers. Dies allerdings nur, solange der Rest nicht mitzieht. Dann beginnt innerhalb der wirtschaftlichen Konkurrenz der Preiskampf. Die Preise sinken. Immer effizientere Technologie ermöglicht immer effizientere Massenproduktion. Sie senkt die Warenpreise und vermindert zugleich die Kaufkraft durch wachsende Erwerbslosigkeit. Die Profitrate sinkt.

Nur Lohnarbeiter können zu kostenloser Mehrarbeit gezwungen werden. Das werden sie auch, merken es aber nicht. Denn die Lohnhöhe wird bereits so kalkuliert, dass für Unternehmer und Aktionäre genug Profit davon abfällt. Heißt: möglichst niedrig. Je mehr die Hochtechnologie die Gesamtprofitrate zu Fall bringt, desto brachialer greifen die Kapitalisten und ihr Staat von den verbliebenen Arbeitern ab.

Das wiederum senkt Kaufkraft und Profitrate weiter. Die Wirtschaft inklusive des sie finanzierenden Bankkapitals rutscht immer häufiger in die Krise. Krisen machen Kapital unrentabel, auch Humankapital. Die kapitalistischen Staaten reagieren darauf nicht nur mit Sozialabbau, sondern auch mit der Privatisierung öffentlicher Sektoren, wie Gesundheitswesen, Nahverkehr, Straßen, Gefängnisse, etc.. Ziel ist es, den Kapitalisten Ersatzprofite zu beschaffen. Den Fall der Profitrate kann das nicht aufhalten.

Seltsam ist bei allem, dass das Übel „Globalisierung“ ihren Gegnern erst jetzt auffällt. Kapitalismus existiert seit über 500 Jahren. Seitdem strebt er nach Globalisierung. Schon die Ostindien-Kompanien um 1600 raubten andere Kontinente aus, unterwarfen sich fremde Länder, um an deren Ressourcen zu gelangen. Mit der industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert führte die „Globalisierung“ der Wirtschaft ihren unaufhaltsamen Siegeszug. Massenproduktion braucht Massen an Rohstoffen aus aller Welt.

Andersherum ist ein Zurück ins vorindustrielle Zeitalter mit fast acht Milliarden Menschen nicht möglich. Denn das wäre die Folge, würde jedes Land nur seine eigenen Rohstoffe nutzen. Wer keinen Rückfall ins Mittelalter will, kommt zu dem unweigerlichen Schluss: Die Wirtschaft ist nur noch global zu managen. Es kommt allerdings darauf an, wem die Wirtschaft gehört: Allen oder nur einigen wenigen, die sich Arbeitskraft kaufen, um Profit daraus zu schlagen.

Kurzum: Lohnarbeit ist an Kapitaleigentümer verkaufte Arbeitskraft. Sie dient lediglich deren Profit. Arbeit aber ist weit mehr als Lohnarbeit. Auch aktuell – Stichworte: Kindererziehung, Familien- und Hausarbeit, ehrenamtliche soziale Tätigkeiten, Nachbarschaftshilfe, und so weiter. Arbeit würde Produkte für alle schaffen. Lohnarbeit schafft Produkte für Kaufkräftige einzig um des Profits Willen. Die Lohnarbeit ist heute, wie die gesamte kapitalistische Profitwirtschaft, entlang globaler Produktionsketten organisiert.

In Indien beginnen viele globale Produktionsketten. Dort wird ein Großteil des Profits geschaffen, der später in den imperialistischen Zentren dank höherer Kaufkraft realisiert wird. Angesichts dessen sind 200 Millionen streikende Inder ein wahrlich großes Ereignis.

Ein internationaler Streik entlang der globalen Produktionsketten müsste sich anschließen. Dies erscheint derzeit als das einzig verbliebene Mittel, die tödliche Profitmaschine wirkungsvoll zu stoppen. Dazu sind aber Solidarität, Klassenbewusstsein und ein Minimum an Wissen über die kapitalistische Wirtschaftsweise unabdingbar. Fakt ist: Mit jedem Tag des Weiter so befindet sich die Menschheit auf ungebrochenem Kurs in Richtung der Selbstvernichtung durch die totale Zerstörung der Lebensgrundlage.

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