Ein Kommentar von Dagmar Henn.
Reines Teufelszeug seien sie, die fossilen Energieträger, so die gegenwärtig von Vielen geäußerte Überzeugung; verbannen müsse man sie, so schnell wie möglich, und um jeden Preis. Zur Not, solche Aussagen finden sich immer wieder, müsse man eben auf Eselskarren oder Transportfahrräder zurückgreifen, Hauptsache, keine Kohle, kein Gas, kein Benzin mehr. Wir müssten uns nur alle einschränken, Verzicht üben, dann ginge das schon.
Solche Fantasien setzen gleich zweierlei Arten völliger Unkenntnis voraus – über die historische Bedeutung der Entdeckung fossiler Energien und über die logistischen Voraussetzungen einer modernen Gesellschaft. Denn keiner der Verfechter dieser Meinung würde tatsächlich sein Leben gegen dasjenige tauschen wollen, das er in der Zeit vor der Nutzung fossiler Energieträger hätte führen müssen, ein Leben wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Damals stand, zumindest in Deutschland, die Nutzung der Steinkohle noch ganz am Anfang; die Nutzung des Erdöls ist eine Entwicklung erst des 20.Jahrhunderts. Transporte erfolgten auf dem Wasser, durch Tierkraft oder gar durch Menschen; der reine Zustand der Unschuld sozusagen. Auch zur Verrichtung nötiger Arbeiten standen keine anderen Energien zur Verfügung; Bergwerkspumpen wurden mit Pferden betrieben, die ihr ganzes Dasein damit verbrachten, im Kreis zu laufen, Lastkähne, die gegen den Strom fahren wollten, wurden oft gar mit Menschenkraft stromaufwärts gezogen.
Neun Zehntel der Bevölkerung lebten damals auf dem Land und waren mit Landwirtschaft beschäftigt. Die meisten Bauernhöfe, sofern man sie aus heutiger Perspektive so nennen kann, hatten höchstens zwei Hektar Ackerland, nicht genug Fläche, um Zugtiere zu halten, weshalb der Pflug oft selbst gezogen werden musste; je nach Region waren es auch keine Bauern, sondern Tagelöhner oder gar Leibeigene – die Leibeigenschaft verschwand in Deutschland endgültig erst 1918.
Es war mühsam, sich mit den vorhandenen Möglichkeiten das Überleben zu sichern; chemische Dünger waren noch unbekannt, und organische Dünger waren nur jenen zugänglich, die deutlich mehr Land ihr eigen nennen konnten. Aber ja, dieses Dasein war geradezu ein Ideal der Nachhaltigkeit; man verhungerte halt oder verstarb an allerlei Infektionen, doch es gab keinen Plastikmüll und keine Antibiotikarückstände.
Über Jahrhunderte hinweg war es die Beschränkung der verfügbaren Energie, die eine schnellere Entwicklung verhinderte. Eine Mischung aus Zufall und Notwendigkeit sorgte dafür, dass diese Grenzen durchbrochen wurden. Drei unterschiedliche Entdeckungen griffen dabei ineinander, die alle drei in England stattfanden. Der Grund dafür war die Notwendigkeit – für vielerlei Zwecke benötigte man damals Holzkohle; England musste das meiste Holz für die Holzkohle importieren, die dadurch sehr teuer wurde, also versuchte man auf Steinkohle auszuweichen. Um die Steinkohle abbauen zu können, brauchte es Pumpen, und die Dampfmaschine war zuallererst eine Erfindung, um Bergwerkspumpen zu betreiben.
Steinkohle war allerdings nicht für alle Zwecke nutzbar, weil sie schwefelhaltig ist. Das war nicht nur ein Problem für die Eisenproduktion; über Steinkohle geröstete Gerste verdirbt durch den Schwefelgeschmack das Bier. Es waren die Bierbrauer, die herausfanden, wie man aus Steinkohle Koks macht. Als dieser neue Brennstoff dann im Hochofen eingesetzt wurde, wurde das Eisen billiger; billig genug, dass schon Ende des 18. Jahrhunderts in Shropshire die erste eiserne Brücke errichtet wurde, was wenige Jahre zuvor noch maßlose Verschwendung eines wertvollen Materials gewesen wäre. Steinkohle, Dampfmaschine und günstiges Eisen bildeten die Dreiheit, die die industrielle Revolution antrieb. Eisenbahnen und Dampfschiffe sind ihre Kinder.
Sie stellten die Voraussetzungen her, die die Metropolen wachsen und die Entfernungen schrumpfen ließen; keiner derjenigen, die sich heute gern als Weltbürger begreifen, macht sich bewusst, dass sie dies unmöglich könnten, wäre ihre Fortbewegung auf die Geschwindigkeit des beginnenden 19. Jahrhunderts beschränkt, nämlich im Regelfall auf den eigenen Schritt.
Der zweite große Schub industrieller Entwicklung war die Einführung der Elektrizität. Fabriken, deren Energieversorgung auf Dampfmaschinen beruhte, konnten nicht nach dem Produktionsablauf aufgebaut werden, sondern mussten in ihrer Struktur der Kraftversorgung folgen – die Bewegung des Dampfmaschinenkolbens wurde durch Wellen und Riemen auf die einzelnen Maschinen übertragen, die daher nicht frei gestellt werden konnten.
Mit Elektromotoren wurde das anders, erst da war eine Erfindung wie das Fließband möglich (die übrigens aus dem Schlachthof von Chicago stammt und dort durch steten Arbeitskräftemangel ausgelöst wurde).
In jenen vermeintlich paradiesischen präfossilen Zeiten stieß das Wachstum der Städte an eine natürliche Grenze. Rom, erste Millionenstadt in der europäischen Antike, benötigte noch ein ganzes Imperium, um seine hungrigen Mäuler zu stopfen, brauchte aber schon eine weiträumige Wasserversorgung und Verkehrsbeschränkungen. London, das als erste europäische Stadt in der Moderne diese Schwelle wieder durchbrach, ist eine Hafenstadt und konnte durch ein ausgedehntes Kanalnetz aus dem Hinterland versorgt werden – Gleiches gilt übrigens für die chinesischen Großstädte. Erst Eisenbahnen und später Lastwagen ermöglichten die Geburt von Städten mit zehn, zwanzig, gar dreißig Millionen Bewohnern, selbst abseits der Küste oder schiffbarer Flüsse. Urbanität, wie sie uns heute vertraut ist, ist ohne die fossile Befreiung schlicht nicht möglich.
Die Vorstellung, man könne heutige Städte ja auch wieder mit Pferdewagen oder Eselskarren versorgen, ist absurd. Nicht nur, dass es nicht genügend Pferde oder gar Esel gäbe, die Karren zu ziehen, oder Kutscher, sie zu lenken; die vorhandenen Pferde gehören auch nicht zu jenen Rassen, die für solche Tätigkeiten geeignet sind. Brauereipferde und Ackergäule haben wenig mit den Sehnsuchtsobjekten gutbürgerlicher Mädchen zu tun, und der Umgang der Menschen mit Arbeitstieren wenig mit der heute gepflegten Tierliebe; dürre Klepper und abgearbeitete, triefäugige Schindmähren sind eher das, was man in Gesellschaften findet, die auf die Körperkraft der Zugtiere angewiesen sind und sie bis zur letzten Sekunde nutzen.
Heutige Tierfreunde würden vor Entsetzen in Ohnmacht fallen; ihre Zuneigung stammt eher von Marie Antoinette und ihrem Lämmchen ab als von der kaltschnäuzigen Beziehung zum Nutztier. Tatsächlich ist die Abwesenheit von Nutztieren im Alltag die Grundlage für die heute verbreitete Form der Tierliebe einschließlich ihrer veganen Auswüchse. Wie das Weltbürgertum ist sie durch und durch ein Produkt der fossilen Gesellschaft.
Aber gehen wir zurück in unser ländliches Paradies. Die meisten Bewohner wären arm oder gar leibeigen; nur ein sehr kleiner Teil hätte den Lebensstandard, den man sich heute für das frühe 19. Jahrhundert zurechtfantasiert, weil man ihn aus Filmen und Büchern kennt. Das Leben der Landarmut findet sich nur in wenigen Erzählungen aus dem Vormärz, oder in kleinen Perlen wie dem ‚Schulmeisterlein Wutz‘ von Jean Paul, der so gerne alle großen Werke der Aufklärung in seinem Bücherschrank hätte, sie sich aber selbst schreiben muss, weil er die Bücher nicht bezahlen kann… Beziehungen aus Neigung übrigens waren zur damaligen Zeit die Ausnahme; wo Land im Spiel war, wurde nach Äckern geehelicht, das war in manchen Gegenden noch tief ins 20. Jahrhundert üblich.
Der Adel heiratete nach Zuchtbuch, das Bürgertum nach Besitz, Leibeigene nur nach herrschaftlicher Genehmigung; die Ehe aus Liebe ist eine Errungenschaft der Arbeiterklasse, wobei der Bestandteil Ehe nur für den Staat ein Muss war. Nicht nur der Lebensstandard, auch der Grad persönlicher Freiheit ist aufs Engste verknüpft mit dem, was man die Entwicklung der Produktivkräfte nennt.
Solange neun von zehn damit befasst sind, ihren Lebensunterhalt aus dem Boden zu kratzen, bleibt selbst die Alphabetisierung unvollständig; wozu sollte sie auch gut sein? Es war die Mechanisierung der Landwirtschaft, die aus dieser Fron befreite; heute sind weniger Menschen Bauern, als dies aus freien Stücken wählten, und zehn Jahre Schule sind die untere Grenze der gesellschaftlich üblichen Bildung…
Andernorts gibt es eine gesellschaftliche Debatte über die Frage, wieviele Stunden Arbeit die Menschen aufwenden sollten, wenn der nächste Sprung in der Entwicklung der Produktivität umgesetzt wird; ist man sich darüber im Klaren, dass all die großen Versandsysteme (auch das Monster Amazon) verkleidete Instrumente wirtschaftlicher Planung sind; besitzt man die Zuversicht, dass wirklich leistungsfähige Alternativen zu Kohle und Öl entwickelt werden; hat man die Vision einer Zukunft, die ein besseres Leben für die Mehrzahl der Menschen mit sich bringt. Das deutsche Bürgertum schaut, nicht das erste Mal, nach hinten; wünscht dem Pöbel das 18. Jahrhundert an den Hals, erwartet aber, selbst im 21. verbleiben zu dürfen. Das geht durchaus konform mit einer Oligarchie, die gern das Rad der Geschichte zurückdreht, weil inzwischen nicht nur politisch, sondern auch technisch der nächste Schritt der Menschheit nach vorn über sie hinweggehen wird, und deren Leidenschaft, Bildung, Gesundheit, Wasser und Luft zu Grundlagen des Profits zu machen, mit dem Versuch einher geht, den Kräften der Produktion Einhalt zu gebieten (selten finden sich niedrigere Investitionsquoten als heute).
Weil die Frage, wer was für wen produziert, nicht gestellt werden darf und jede Erwartung einer positiven Zukunft unvermeidlich an die Schwelle der heutigen Eigentumsordnung führt, weil getan werden muss, als wären Konzerninteressen unantastbar, wird jeder Ausblick ins Morgen düster gestrichen und eine bittere Moral des Verzichts gefördert, die den berühmten Fastenpredigten der Augustiner in Nichts nachsteht.
Die industrielle Revolution selbst wird zum Sündenfall erklärt, und statt einer Verbesserung der Gesellschaft ist es das Streben nach einer unbefleckten Seele, vegan und bußfertig, das zum menschlichen Ideal erklärt wird.
Dabei wäre es mehr als überfällig, wieder eine Zukunft einzufordern; ein gutes Leben für all jene zu verlangen, die mit Armutsrenten und Niedriglöhnen abgespeist werden; ein funktionierendes Bildungssystem, eine moderne Infrastruktur, eine öffentliche Verwaltung, die ihren Aufgaben nachkommen kann; die Liste ist lang und wird täglich länger. Verzichten müsste die Menschheit vor allem auf eines – auf die Klasse der Oligarchen, die sich an ihr mästen und sie mit Kriegen überziehen.
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Mike Fuchslocher/ Shutterstock
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